OGH 4Ob93/25t

OGH4Ob93/25t11.9.2025

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schwarzenbacher als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Istjan, LL.M., Mag. Waldstätten, Mag. Böhm und Dr. Gusenleitner‑Helm in der Pflegschaftssache der Minderjährigen 1. *, geboren * 2012, und 2. *, geboren * 2014, beide wohnhaft bei der Mutter *, vertreten durch Dr. Karin Wintersberger, Rechtsanwältin in Salzburg, wegen Obsorge und Kontaktrecht, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters *, Deutschland, vertreten durch die Hosp, Hegen und Partner Rechtsanwälte (OG) in Salzburg, gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 22. April 2025, GZ 21 R 272/24g-405, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0040OB00093.25T.0911.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die Kinder lebten bis 2016 in der Stadt * zusammen mit ihren Eltern, denen die Obsorge gemeinsam zukam.

[2] Wegen schweren Betrugs befand sich die Mutter von Dezember 2016 bis April 2019 in (Untersuchungs‑ und Straf‑)Haft. Der Vater wurde als Mittäter zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt. Nach der Verhaftung der Mutter trennten sich die Eltern. Seit der Haft der Mutter wohnen die Kinder bei ihrer Halbschwester (einer weiteren Tochter der Mutter) in einer Wohnung in der Stadt *. Seit der Überstellung der Mutter in den elektronisch überwachten Hausarrest im April 2019 leben die Kinder mit ihr im gemeinsamen Haushalt und werden seitdem hauptsächlich von ihr betreut. Der Vater lebt seit August 2018 in der Nähe von *. Am 7. Juni 2021 wurde die Ehe der Eltern geschieden.

[3] Mit Beschluss vom 26. August 2020 betraute das Erstgericht den Kinder‑ und Jugendhilfeträger vorläufig mit der Obsorge für die Kinder.

[4] Die Eltern begehren in wechselseitigen Anträgen, ihnen jeweils die alleinige Obsorge zu übertragen. Der Vater beantragte überdies die Einräumung eines Kontaktrechts.

[5] Die Vorinstanzen entzogen im zweiten Rechtsgang dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger die vorläufige Obsorge, und betrauten im Ergebnis die Mutter mit der alleinigen Obsorge. Weiters wiesen sie den Kontaktrechtsantrag des Vaters ab.

[6] Mit seinem außerordentlichen Revisonsrekurs strebt der Vater primär die Aufhebung der Beschlüsse der Vorinstanzen und die Zurückverweisung der Pflegschaftssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung an. Hilfsweise begehrt er, der Mutter – mit Ausnahme des (beim Kinder‑ und Jugendhilfeträger zu verbleibenden) Rechts zur Bestimmung des Hauptaufenthalts und der Vermögenssorge – lediglich die „vorläufige Obsorge“ befristet für sechs Monate zu übertragen.

Rechtliche Beurteilung

[7] Das Rechtsmittel zeigt keine erheblichen Rechtsfragen auf und ist daher zurückzuweisen.

[8] 1. Der Umfang der Anfechtung nach § 65 AußStrG kann zwar auch unter Heranziehung des gesamten Vorbringens ermittelt werden, doch muss vom Rechtsmittelwerber insbesondere dann, wenn die angefochtene Entscheidung der Teilrechtskraft fähig ist, verlangt werden, dass er deutlich angibt, wogegen er sich wendet und welche andere Entscheidung er anstrebt (RS0123420 [T5]). Die Revisionsrekursausführungen lassen – trotz der sich auf den „gesamten Inhalt“ der Entscheidung beziehenden Anfechtungserklärung – insgesamt nicht erkennen, dass der Vater die Entscheidung der Vorinstanzen auch insoweit anzufechten beabsichtigt, als sein Kontaktrechtsantrag abgewiesen wurde.

[9] 2. Als „Mangelhaftigkeit des Verfahrens“ rügt der Vater einerseits, dass vom Erstgericht im zweiten Rechtsgang ein (von ihm beantragtes) psychiatrisches Sachverständigengutachten nicht eingeholt und der bereits bestellte psychiatrische Sachverständige wieder enthoben wurde, und andererseits dass (wie von ihm ebenfalls beantragt) keine Umbestellung in der Person des psychologischen Sachverständigen oder die Einholung eines psychologischen Obergutachtens erfolgte.

[10] 2.1 Entgegen der im Rechtsmittel verwendeten Bezeichnung der Rechtsmittelgründe zeigt der Revisionsrekurs damit keinen Mangel des Rekursverfahrens iSd § 66 Abs 1 Z 2 AußStrG auf.

[11] 2.2 In Wahrheit macht der Vater eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz geltend, die vom Rekursgericht im vorliegenden Fall allerdings bereits verneint wurde und daher auch in Verfahren außer Streitsachen im Revisionsrekursverfahren grundsätzlich nicht mehr geltend gemacht werden kann (RS0050037; RS0030748). Ausreichende Anhaltspunkte für eine aus Gründen des Kindeswohls gebotene Durchbrechung dieses Grundsatzes (RS0050037 [T1, T4, T8, T9, T18]; RS0030748 [T2, T5, T18]) zeigt der Vater nicht auf:

[12] Hinsichtlich des Umfangs der Beweisaufnahme ist der Richter im außerstreitigen Verfahren nicht streng an die Anträge der Parteien gebunden; er kann darüber hinausgehen, aber auch nach seinem Ermessen im Interesse einer zügigen Verfahrensführung von der Aufnahme einzelner Beweismittel Abstand nehmen, wenn auch auf andere Weise eine (ausreichend) verlässliche Klärung möglich ist (RS0006319 [T6]). Es besteht kein genereller Grundsatz, dass das Pflegschaftsgericht im Obsorgeverfahren immer einen Sachverständigen beizuziehen hätte (RS0006319 [T7, T13]). Das Gericht ist auch nicht gezwungen, dann, wenn zwei Sachverständigengutachten einander widersprechen, einen dritten Sachverständigen zu bestellen, sondern kann sich einem der beiden Gutachten anschließen (RS0043320 [T19]). Gelangen die Vorinstanzen – wie hier – zum Ergebnis, dass das im zweiten Rechtsgang eingeholte psychologische Gutachten im Zusammenhalt mit anderen Beweismitteln eine ausreichende Entscheidungsgrundlage bildet, ist die der Beweiswürdigung zuzuordnende Frage, ob im Einzelfall ein zusätzliches Sachverständigengutachten erforderlich gewesen wäre, vom Obersten Gerichtshof nicht überprüfbar (vgl RS0007236 [T9]; RS0108449 [T4]; RS0115719 [T10]; RS0043320; 2 Ob 4/23m Rz 5; 1 Ob 225/21a Rz 3).

[13] Inwiefern es das Kindeswohl im vorliegenden Fall erfordern sollte, entgegen der ausführlichen Begründung durch das Rekursgericht ein Gutachten zum psychiatrischen Gesundheitszustand der Mutter und/oder ein psychologisches Obergutachten einzuholen und/oder eine Umbestellung in der Person des psychologischen Sachverständigen vorzunehmen, legt das Rechtsmittel im Übrigen nicht nachvollziehbar dar.

[14] 3. Bei der Entscheidung über die Obsorge für ein Kind ist ausschließlich dessen Wohl maßgebend (RS0048632). Die Frage, welchem Elternteil die Kindesobsorge übertragen werden soll, hängt stets von den Umständen des Einzelfalls ab, sofern auf das Kindeswohl ausreichend Bedacht genommen wurde (RS0007101 [T8]).

[15] 3.1 Die Kinder lehnen derzeit – und auch in naher Zukunft – einen Kontakt zum Vater ab, was nach den Feststellungen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die mangelnde Bereitschaft des Vaters zurückzuführen ist, ausreichend auf deren Bedürfnisse einzugehen. Er ist derzeit nicht erziehungsfähig, weil er keine kritische Auseinandersetzung mit seinem problematischen Verhalten erkennen lässt. Die Mutter zeigte dagegen in den letzten Jahren ihre Bereitschaft, mit dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger konstruktiv zusammenzuarbeiten und ihre problematische Vergangenheit in einem therapeutischen Prozess aufzuarbeiten. Sie ist ausreichend erziehungsfähig und verfügt über eine hohe soziale Kompetenz. Es ist notwendig, die derzeitige Betreuungssituation aufrechtzuerhalten, damit sich die psychische Verfassung der Kinder weiter stabilisieren kann. Wenn die Vorinstanzen vor diesem Hintergrund der Mutter die alleinige Obsorge übertrugen, liegt darin keine grobe Fehlbeurteilung.

[16] 3.2 Nach § 180 Abs 1 Z 2 ABGB idF KindNamRÄG 2013 hat das Gericht – sofern dies dem Wohl des Kindes entspricht – eine Phase der vorläufigen elterlichen Verantwortung anzuordnen, wenn ein Elternteil gegen den Willen des anderen die Übertragung der alleinigen Obsorge an ihn oder seine Beteiligung an der Obsorge anstrebt. Ob das Wohl des Kindes ein solches Vorgehen erfordert, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, und begründet in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG (6 Ob 74/13w [Pkt 2.1.]; RS0128813 [T1]).

[17] Auch die endgültige Entscheidung über die Obsorge ohne zunächst mit einer Phase der vorläufigen elterlichen Verantwortung vorzugehen, begründet keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung der Vorinstanzen. Diese haben bereits berücksichtigt, dass die Kinder seit der Haftentlassung der Mutter im Jahr 2019 durchgehend bei ihr lebten und aufgrund der massiven Konflikte zwischen den Eltern auch in den nächsten sechs Monaten nicht mit einer gütlichen Einigung der Eltern über das Kontaktrecht, die Pflege und Erziehung sowie den Unterhalt für die Kinder zu rechnen ist. Nach den Feststellungen weisen die Eltern – auch in absehbarer Zeit – keine gemeinsame Gesprächsbasis oder Kooperationsbereitschaft auf. Inwiefern daher die – im vorliegenden Fall mit der Phase der vorläufigen elterlichen Verantwortung einhergehende – Aufrechterhaltung der gemeinsamen Obsorge dem Kindeswohl dennoch entsprechen sollte, vermag der Revisionsrekurs nicht aufzuzeigen.

[18] 3.3 Eine bloß teilweise Übertragung der Obsorge an die Mutter bei gleichzeitiger Betrauung des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers mit den Obsorgebereichen der Bestimmung des Hauptaufenthaltsorts der Kinder und der Vermögenssorge erachtete das Rekursgericht als nicht indiziert, weil die Kinder in den letzten Jahren ihren Aufenthaltsort durchgehend bei der Mutter gehabt hätten und keine Anhaltspunkte für eine neuerliche Flucht der Mutter mit den Kindern bestünden. Zudem ließe sich eine Flucht auch durch eine endgültige Betrauung des Kinder- und Jugendhilfeträgers bei gleichzeitiger faktischer Belassung des Aufenthalts im Haus der Mutter nicht verhindern. Dem hält der Vater nichts entgegen. Weshalb die Vermögenssorge nicht der Mutter zukommen sollte, thematisiert das Rechtsmittel gar nicht.

[19] 4. Mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 62 Abs 1 AußStrG ist der Revisionsrekurs des Vaters zurückzuweisen.

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