OGH 8Ob127/24w

OGH8Ob127/24w5.12.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Tarmann‑Prentner als Vorsitzende sowie die Hofräte MMag. Matzka, Dr. Stefula, Dr. Thunhart und Mag. Dr. Sengstschmid als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. W*, vertreten durch die Konrad Rechtsanwälte GmbH in Graz, gegen die beklagte Partei S* GmbH, *, Deutschland, vertreten durch Dr. Michael Wukoschitz, Rechtsanwalt in Wien, wegen 21.821,82 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 27. Jänner 2022, GZ 4 R 194/21p‑16, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 13. Juli 2021, GZ 34 Cg 9/21t‑11, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0080OB00127.24W.1205.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Konsumentenschutz und Produkthaftung

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

I. Das Verfahren wird fortgesetzt.

II. Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens und des Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Der Kläger, ein niedergelassener Facharzt, und seine Ehefrau buchten am 13. 5. 2020 eine von der in Deutschland ansässigen Beklagten veranstaltete (All‑inclusive‑)Pauschalreise mit dem Ziel Malediven für den Zeitraum vom 26. 12. 2020 bis 2. 1. 2021 zu einem Gesamtpreis von 8.620 EUR.

[2] Spätestens ab Dezember 2020 bestand für die Malediven aufgrund der COVID‑19-Pandemie eine Reisewarnung des österreichischen Außenministeriums (BMEIA) der höchsten Stufe 6 („Es wird von allen touristischen und nicht notwendigen Reisen, einschließlich Urlaubs- und Familienbesuchsreisen, in dieses Land gewarnt“).

[3] Die Beklagte sagte die gebuchte Reise am 3. 12. 2020 – rund drei Wochen vor Antritt der gebuchten Reise – aufgrund der Reisewarnung ab; zu diesem Zeitpunkt war die 7‑Tages-Inzidenz auf den Malediven mit 34,7 geringer als in Österreich mit 220.

[4] Die Begründung für die Absage (Reisewarnung) wurde dem Kläger spätestens am 9. 12. 2020 mitgeteilt und ihm wurde die geleistete Anzahlung rücküberwiesen. Alternative Reiseangebote der Beklagten entsprachen nicht den Vorstellungen des Klägers und seiner Ehefrau.

[5] Üblicherweise schließt der Kläger seine Ordination in der letzten Woche im alten Jahr und sperrt mit dem ersten Arbeitstag im neuen Jahr wieder auf, sodass sie üblicherweise am letzten Arbeitstag vor Weihnachten und ab dem ersten Arbeitstag im neuen Jahr geöffnet ist. Aufgrund der geplanten Reise entschlossen sich der Kläger und seine Ehefrau im Mai 2020 dazu, die Ordination auch am 23. 12. 2020 (Montag vor Weihnachten) sowie am 4. 1. 2021 und 5. 1. 2021 zu schließen und sie erst nach dem 6. 1. 2021 wieder zu öffnen.

[6] Die Ordination des Klägers blieb am 23. 12. 2020, 4. 1. 2021 und 5. 1. 2021 trotz der Stornierung der Reise geschlossen. Der Kläger und seine (in der Ordination angestellte) Ehefrau bemühten sich nicht darum, die Ordination an diesen Tagen offenzuhalten.

[7] Der Kläger macht eigene und ihm von seiner Ehefrau in gleicher Höhe abgetretene Schadenersatzansprüche wegen entgangener Urlaubsfreude von insgesamt 3.500 EUR sowie einen pauschalen Unkostenbetrag von insgesamt 150 EUR geltend; darüber hinaus begehrt er den Ersatz von 18.171,82 EUR an Verdienstentgang, weil er seine Praxis für Röntgendiagnostik wegen der gebuchten Reise vom 23. 12. 2020 bis 5. 1. 2021 geschlossen habe. Eine kurzfristige Rücknahme der Schließung sei nach der Absage nicht mehr möglich gewesen. Die BMEIA‑Reisewarnung sei kein unvermeidbarer und außergewöhnlicher Umstand gewesen, der die Beklagte an der Erfüllung des Reisevertrags gehindert hätte, zumal die 7‑Tages-Inzidenz auf den Malediven günstiger gewesen wäre, es auch dort ausreichende medizinische Versorgung gebe und der Kläger und seine Ehefrau überdies eine Reisekrankenversicherung abgeschlossen hätten.

[8] Die Beklagte wandte zusammengefasst ein, sie sei wegen unvermeidlicher und unvorhersehbarer Umstände in Gestalt der Reisewarnung zum Rücktritt vom Reisevertrag ohne weitere Entschädigungspflicht berechtigt und ihr sei die Durchführung der Reise nicht zumutbar gewesen. Sie hätte unüberschaubare Haftungsfolgen in Kauf nehmen müssen, wenn sie sich über die Reisewarnung des BMEIA hinweggesetzt hätte. Aufgrund der ab 26. 12. 2020 in Österreich geltenden Ausgangsbeschränkungen hätte der Kläger die Reise nicht einmal antreten dürfen. Ein durch die Absage verursachter Verdienstentgang sei ihm nicht entstanden.

[9] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Beklagte habe sich für ihren Rücktritt zu Recht auf unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände berufen. Schon aus diesem Grund gebühre kein Schadenersatz.

[10] Das Berufungsgericht gab dem Rechtsmittel des Klägers nicht Folge. Selbst wenn die Reisewarnung nur als Indiz für außergewöhnliche Hindernisse angesehen würde, treffe die Beklagte in Anbetracht der im Rücktrittszeitpunkt herrschenden Unsicherheit über die Entwicklung der Pandemie jedenfalls kein Verschulden.

[11] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil noch keine höchstgerichtliche Judikatur zu § 10 Abs 3 Z 2 Pauschalreisegesetz (PRG) vorliege und der Rücktritt eines Reiseveranstalters von einer Pauschalreise infolge einer offiziellen Reisewarnung angesichts der COVID‑19-Pandemie nicht bloß ein Einzelfall sein werde.

[12] Mit seiner ordentlichen Revision wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung beantragt der Kläger die Abänderung dahin, dass dem Klagebegehren stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[13] Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

[14] Der Senat hatte aus Anlass der Revision mit Beschluss vom 29. 6. 2022, 8 Ob 46/22f = RS0134055, das Revisionsverfahren bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über den an diesem Tag gestellten Antrag nach Art 267 AEUV auf Vorabentscheidung ausgesetzt. Nunmehr hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 4. 10. 2024, C‑546/22 , Schauinsland-Reisen, diese Vorabentscheidung getroffen. Das Revisionsverfahren ist daher fortzusetzen (Pkt I. des Spruchs).

Rechtliche Beurteilung

[15] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig und im Sinne des Eventualantrags auch berechtigt (Pkt II. des Spruchs).

[16] 1.1. Nach § 10 Abs 3 Z 2 PRG („Rücktritt vom Pauschalreisevertrag vor Beginn der Pauschalreise“), BGBl I 2017/50, kann der Reiseveranstalter vor Beginn der Pauschalreise gegen volle Erstattung aller für diese getätigten Zahlungen, aber ohne Zahlung einer zusätzlichen Entschädigung vom Pauschalreisevertrag zurücktreten, wenn der Reiseveranstalter aufgrund unvermeidbarer und außergewöhnlicher Umstände an der Erfüllung des Vertrags gehindert ist und seine Rücktrittserklärung dem Reisenden unverzüglich, spätestens jedoch vor Beginn der Pauschalreise zugeht.

[17] Mit dem PRG wird nach dessen § 22 die Richtlinie (EU) 2015/2302 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG , ABl L 2015/326, 1 (in der Folge: „Pauschalreise‑RL“), umgesetzt. Bei der Auslegung einer in Umsetzung einer Richtlinie der Europäischen Union erlassenen nationalen Vorschrift haben sich die Gerichte so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie zu orientieren (RS0075866), wobei dies im Rahmen des Methodenkatalogs des nationalen Rechts sowie von Wortlaut und Sinn der nationalen Regelung stattzufinden hat (vgl RS0114158).

[18] 1.2. Die hier relevanten Bestimmungen der Pauschalreise‑RL lauten:

Artikel 1

Gegenstand

Der Zweck dieser Richtlinie ist die Angleichung bestimmter Aspekte der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Verträge über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen zwischen Reisenden und Unternehmern, um so zum ordnungsgemäßen Funktionieren des Binnenmarkts und zu einem hohen und möglichst einheitlichen Verbraucherschutzniveau beizutragen.

[…]

Artikel 3

Begriffsbestimmungen

Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

[…]

12. „unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände“ eine Situation außerhalb der Kontrolle der Partei, die eine solche Situation geltend macht, deren Folgen sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären;

[…]

Artikel 12

Beendigung des Pauschalreisevertrags und Recht zum Widerruf vor Beginn der Pauschalreise

(1) [hier nicht relevant: betrifft Rücktrittsgebühren bei Rücktritt des Reisenden]

(2) Ungeachtet des Absatzes 1 hat der Reisende das Recht, vor Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Im Fall des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag gemäß diesem Absatz hat der Reisende Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen, jedoch auf keine zusätzliche Entschädigung.

(3) Der Reiseveranstalter kann den Pauschalreisevertrag beenden und dem Reisenden alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll erstatten, ohne jedoch eine zusätzliche Entschädigung leisten zu müssen, wenn

a) […]

oder

b) der Reiseveranstalter aufgrund unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände an der Erfüllung des Vertrags gehindert ist und er den Reisenden unverzüglich vor Beginn der Pauschalreise von der Beendigung des Vertrags in Kenntnis setzt.

[…]

Artikel 13

Haftung für die Erbringung der vertraglichen Pauschalreiseleistungen

[…]

(3) Bei Vertragswidrigkeit einer Reiseleistung hilft der Reiseveranstalter dem Mangel ab, es sei denn, dies ist

a) unmöglich oder

b) unter Berücksichtigung des Ausmaßes des Mangels und des Werts der betroffenen Reiseleistung mit unverhältnismäßigen Kosten verbunden.

Hilft der Reiseveranstalter dem Mangel gemäß Unterabsatz 1 Buchstaben a und b des vorliegenden Absatzes nicht ab, so gilt Artikel 14.

[…]

Artikel 14

Preisminderung und Schadenersatz

(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der Reisende Anspruch auf eine angemessene Preisminderung für jeden Zeitraum hat, in dem eine Vertragswidrigkeit vorlag, es sei denn, der Reiseveranstalter belegt, dass die Vertragswidrigkeit dem Reisenden zuzurechnen ist.

(2) Der Reisende hat gegen den Reiseveranstalter Anspruch auf angemessenen Ersatz des Schadens, den er infolge der Vertragswidrigkeit erlitten hat. Der Schadenersatz ist unverzüglich zu leisten.

(3) Der Reisende hat keinen Anspruch auf Schadenersatz, wenn der Reiseveranstalter nachweist, dass die Vertragswidrigkeit

a) […]

c) durch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände bedingt war.

 

[19] 1.3. In den Erwägungsgründen zur Pauschalreise‑RL heißt es unter anderem:

[…]

(29) In Anbetracht der Besonderheiten von Pauschalreiseverträgen sollten die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien für die Zeit vor und nach dem Beginn der Pauschalreise festgelegt werden, insbesondere für den Fall, dass der Vertrag nicht ordnungsgemäß erfüllt wird oder dass sich bestimmte Umstände ändern.

(30) Da Pauschalreisen häufig lange im Voraus erworben werden, können unvorhergesehene Ereignisse eintreten. […]

(31) Reisende sollten jederzeit vor Beginn der Pauschalreise gegen Zahlung einer angemessenen und vertretbaren Rücktrittsgebühr – unter Berücksichtigung der erwarteten ersparten Aufwendungen sowie der Einnahmen aus einer anderweitigen Verwendung der Reiseleistungen – von dem Pauschalreisevertrag zurücktreten können. Zudem sollten sie ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurücktreten können, wenn die Durchführung der Reise durch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände erheblich beeinträchtigt wird. Dies kann zum Beispiel Kriegshandlungen, andere schwerwiegende Beeinträchtigungen der Sicherheit wie Terrorismus, erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit wie einen Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel oder Naturkatastrophen wie Hochwasser oder Erdbeben oder Witterungsverhältnisse, die eine sichere Reise an das im Pauschalreisevertrag vereinbarte Reiseziel unmöglich machen, umfassen.

(32) In bestimmten Fällen sollte auch der Reiseveranstalter vor Beginn der Pauschalreise zur entschädigungslosen Beendigung des Pauschalreisevertrags berechtigt sein, beispielsweise wenn die Mindestteilnehmerzahl nicht erreicht ist und diese Möglichkeit im Vertrag vorgesehen ist. In diesem Fall sollte der Reiseveranstalter den Reisenden alle im Zusammenhang mit der Pauschalreise geleisteten Zahlungen erstatten.

[…]

(34) Es sollten besondere Bestimmungen für Abhilfen im Falle einer Vertragswidrigkeit bei Erfüllung des Pauschalreisevertrags festgelegt werden. Der Reisende sollte im Falle von Problemen Abhilfe verlangen können, und wenn ein erheblicher Teil der Reiseleistungen des Pauschalreisevertrags nicht erbracht werden kann, sollten ihm angemessene andere Vorkehrungen angeboten werden. Schafft der Reiseveranstalter innerhalb einer vom Reisenden festgesetzten angemessenen Frist keine Abhilfe gegen die Vertragswidrigkeit, so sollte der Reisende dies selbst tun können und die Erstattung der notwendigen Aufwendungen verlangen können. In bestimmten Fällen sollte eine Fristsetzung nicht erforderlich sein, insbesondere wenn unverzügliche Abhilfe notwendig ist. Dies würde beispielsweise gelten, wenn der Reisende aufgrund der Verspätung des vom Reiseveranstalter vorgesehenen Busses ein Taxi nehmen muss, um seinen Flug rechtzeitig zu erreichen. Reisende sollten ebenfalls Anspruch auf Preisminderung, Rücktritt vom Pauschalreisevertrag und/oder Schadenersatz haben. Der Schadenersatz sollte auch immaterielle Schäden umfassen, wie beispielsweise entgangene Urlaubsfreuden infolge erheblicher Probleme bei der Erbringung der betreffenden Reiseleistungen. Der Reisende sollte verpflichtet sein, dem Reiseveranstalter unverzüglich – unter Berücksichtigung der Umstände des Falls – jede während der Erbringung der Reiseleistungendes Pauschalreisevertrags bemerkte Vertragswidrigkeit mitzuteilen. Tut er dies nicht, so kann dieses Versäumnis bei der Festlegung der angemessenen Preisminderung oder eines angemessenen Schadenersatzes berücksichtigt werden, wenn eine solche Meldung den Schaden verhindert oder verringert hätte.

[20] 2. Der Senat hatte dem Europäischen Gerichtshof am 29. 6. 2022 gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt (8 Ob 46/22f = RS0134055):

1. Ist Art 12 Abs 3 Pauschalreise‑RL dahin auszulegen, dass sich ein Reiseveranstalter auf unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände, die ihn an der Erfüllung des Vertrages hindern, schon dann berufen kann, wenn die im Mitgliedstaat des Kunden dazu autorisierte Behörde vor dem geplanten Reisebeginn eine Reisewarnung der höchsten Stufe für das Zielland verlautbart hat?

2. Wenn Frage 1. bejaht wird:

Ist Art 12 Abs 3 Pauschalreise‑RL dahin auszulegen, dass unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände dann nicht vorliegen, wenn der Reisende im Bewusstsein der Reisewarnung und der Unsicherheit über die weitere Entwicklung der Pandemiesituation erklärt hat, an der Reise dennoch festhalten zu wollen und ihre Durchführung für den Veranstalter nicht unmöglich gewesen wäre?

 

[21] 3.1. Der Europäische Gerichtshof hat in seinen Urteilen jeweils vom 29. 2. 2024, C‑299/22 , Tez Tour, und C‑584/22 , Kiwi Tours, welche aufgrund anderer Vorabentscheidungsersuchen ergingen und jeweils von Reisenden erklärte Rücktritte von Pauschalreiseverträgen wegen der COVID‑19-Pandemie betrafen, zur Auslegung von Art 12 Abs 2 Pauschalreise‑RL – im Licht ihres Art 3 Nr 12 – das Folgende festgehalten:

‑ Die Feststellung, dass am Bestimmungsort einer Reise oder in dessen unmittelbarer Nähe „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmungen auftreten, hängt nicht von der Voraussetzung ab, dass die zuständigen Behörden Reisenden offiziell davon abraten, sich in das betreffende Gebiet zu begeben, oder das betreffende Gebiet offiziell als „Risikogebiet“ einstufen.

‑ Die Wendung „unvermeidbare, außer-gewöhnliche Umstände …, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“ erfasst nicht nur Umstände, die die Durchführung der betreffenden Pauschalreise unmöglich machen, sondern auch Umstände, die die Durchführung zwar nicht verhindern, aber dazu führen, dass die Gesundheit und Sicherheit der Reisenden – gegebenenfalls unter Berücksichtigung persönlicher Faktoren, die sich auf die individuelle Situation der Reisenden beziehen – gefährdet wäre. Die Beurteilung, ob eine erhebliche Beeinträchtigung vorliegt, ist aus der Sicht eines normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsreisenden zum Zeitpunkt des Rücktrittes vom betreffenden Pauschalreisevertrag vorzunehmen.

‑ Ein Reisender kann eine Situation, die er zum Zeitpunkt des Abschlusses eines Pauschalreisevertrages bereits kannte oder vorhersehen konnte, nicht als „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung geltend machen. Allerdings kann sich die Situation aufgrund ihrer Unbeständigkeit nach Abschluss des Vertrages dermaßen verändert haben, dass eine neue Situation entstanden ist, die als solche unter die Definition des Begriffes „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fallen könnte.

‑ Für die Feststellung, ob am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe auftretende unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände „die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“, kann auch eine Beeinträchtigung berücksichtigt werden, die am Abreiseort oder an den Orten, die mit dem Beginn der Reise und mit der Rückreise verbunden sind, auftritt, wenn sie sich auf die Durchführung der Pauschalreise auswirkt.

‑ Für die Feststellung, ob „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ aufgetreten sind, die im Sinne dieser Bestimmung „die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“, ist nur die Situation zu berücksichtigen, die zu dem Zeitpunkt bestand, zu dem der Reisende vom Reisevertrag zurückgetreten ist.

 

[22] 3.2. In Anlehnung und unter wiederholter Bezugnahme auf diese beiden Entscheidungen hat der Europäische Gerichtshof in der nunmehrigen Vorabentscheidung vom 4. 10. 2024, C‑546/22 , Schauinsland-Reisen, auf beide in Punkt 2. wiedergegebenen Fragen des Senats dahin geantwortet, Art 12 Abs 3 lit b Pauschalreise‑RL sei

„… dahin auszulegen, dass sich der Reiseveranstalter für den Nachweis, dass er aufgrund unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände im Sinne dieser Bestimmung an der Erfüllung eines Pauschalreisevertrags gehindert ist, auf die Veröffentlichung einer offiziellen Empfehlung durch die zuständigen Behörden berufen kann, die Reisenden davon abrät, sich in das betroffene Gebiet zu begeben, auch wenn der Reisende erklärt hat, an der Reise dennoch festhalten zu wollen, und es für den Reiseveranstalter nicht objektiv unmöglich gewesen wäre, diesen Reisevertrag durchzuführen. Eine solche Empfehlung kann jedoch insoweit keinen unwiderlegbaren Beweis darstellen.“

 

3.3. Zur Begründung dieser Entscheidung führte der Europäische Gerichtshof zusammengefasst aus:

[23] 3.3.1. Dafür, ob ein Reiseveranstalter sein Recht ausüben kann, einen Pauschalreisevertrag zu beenden, ohne eine zusätzliche Entschädigung leisten zu müssen, kommt es allein darauf an, dass objektive Umstände aufgetreten sind, die die Durchführung der betreffenden Pauschalreise beeinflussen können, und der Reisende unverzüglich vor Beginn der Pauschalreise von der Beendigung dieses Reisevertrags in Kenntnis gesetzt wird.

[24] Die Voraussetzung, dass der Reiseveranstalter „aufgrund unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände an der Erfüllung des Vertrages gehindert ist“, muss zwangsläufig zum Zeitpunkt einer solchen Beendigung erfüllt sein, und es muss eine Situation tatsächlich vorliegen, die der Definition des Begriffs „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ – wie sie in Art 3 Nr 12 Pauschalreise‑RL enthalten ist und in deren 31. Erwägungsgrund veranschaulicht wird – entspricht (Rn 33 bis 35).

[25] Für die Feststellung, dass solche „unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände“ aufgetreten sind, reicht es nicht automatisch aus, dass die zuständigen Behörden Reisenden offiziell davon abraten, sich in das betreffende Gebiet zu begeben. Solche Empfehlungen spiegeln die Situation, wie sie objektiv zu einem bestimmten Zeitpunkt an dem Ort vorliegt, an dem die betreffende Reise durchgeführt werden soll, nicht notwendigerweise wirklichkeitsgetreu wider (Rn 36 bis 38). Somit können diese Empfehlungen zwar ihrem Wesen nach einen erheblichen Beweiswert dafür haben, dass in den Ländern, auf die sie sich beziehen, tatsächlich solche Umstände aufgetreten sind und die damit verbundene Beeinträchtigung der Durchführung der betreffenden Pauschalreise eingetreten ist, sie sind jedoch keine insoweit unwiderlegbaren Beweise (Rn 39); solche Umstände könnten zum Zeitpunkt der Beendigung in diesem Gebiet trotz der Empfehlungen möglicherweise nicht oder nicht mehr vorliegen (Rn 43).

[26] Unbeschadet des hohen Beweiswerts, den die Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie behördlichen Empfehlungen in Bezug auf das Vorliegen eines ernsten Gesundheitsrisikos beimessen können, muss der Reisende die Möglichkeit haben, sich auf Umstände zu berufen, die den Beweiswert dieser Empfehlungen entkräften können, um auf diese Weise die Begründetheit der vom Veranstalter gemäß Art 12 Abs 3 lit b Pauschalreise‑RL vorgenommenen Beendigung des betreffenden Pauschalreisevertrags anzufechten (Rn 44).

[27] Im vorliegenden Fall hat unter Berücksichtigung der vom Kläger vorgebrachten Argumente der nationale Richter zu beurteilen, ob die Beklagte zum Zeitpunkt der Beendigung des Pauschalreisevertrags unter Berücksichtigung insbesondere der Veröffentlichung der BMEIA-Reisewarnung der höchsten Stufe wegen der durch die COVID‑19-Pandemie verursachten Gesundheitsrisiken vom Vorliegen „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ im Sinne von Art 12 Abs 3 lit b Pauschalreise‑RL ausgehen durfte (Rn 45).

[28] 3.3.2. Ist feststellbar, dass zum Zeitpunktder Beendigung des Pauschalreisevertrags tatsächlich „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art 12 Abs 3 lit b Pauschalreise‑RL vorlagen, muss ermittelt werden, ob der Veranstalter aufgrund solcher Umstände im Sinne dieser Bestimmung „an der Erfüllung des Vertrages gehindert“ war.

[29] 3.3.2.1. Diese Wendung unterscheidet sich zwar von der Wendung „erhebliche Beeinträchtigung der Durchführung der Pauschalreise oder der Beförderung von Personen an den Bestimmungsort“, die in Art 12 Abs 2 Pauschalreise‑RL zum Rücktrittsrecht des Reisenden verwendet wird, beide Bestimmungen verfolgen jedoch das Ziel, sowohl dem Reisenden als auch dem Reiseveranstalter im Fall unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände jeweils ein eigenes Rücktrittsrecht einzuräumen (Rn 46 bis 48).

[30] In Anlehnung an die Auslegung von Art 12 Abs 2 Pauschalreise‑RL genügt es für die Feststellung, dass der Reiseveranstalter an der Erfüllung des Vertrags gehindert ist, dass die geltend gemachten Umstände die Bedingungen der Durchführung der Pauschalreise wesentlich berühren. Folglich kann eine Gesundheitskrise wie die Ausbreitung von COVID‑19 in Anbetracht des erheblichen Risikos, das sie für die menschliche Gesundheit darstellt, als ein Ereignis angesehen werden, aufgrund dessen der Reiseveranstalter an der Erfüllung des Vertrags gehindert ist, auch wenn sie die Durchführung der Reise nicht zwangsläufig objektiv unmöglich macht (Rn 49 f).

[31] In diesem Rahmen sind auch angemessene Maßnahmen in Betracht zu ziehen, die der Reiseveranstalter oder der Reisende selbst ergriffen hat oder gegebenenfalls ergreifen könnte, damit die betreffende Reise trotz der gesundheitlichen oder sonstigen Risiken durchgeführt werden kann, die durch die vom Reiseveranstalter angeführten unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände entstehen, wobei vom Reiseveranstalter nicht verlangt werden kann, dass er für die Durchführung der Reise bei Vorliegen solcher Risiken Kosten trägt, die im Hinblick auf den Wert der betreffenden Reiseleistungen unverhältnismäßig hoch sind. Dagegen ist die bloße Tatsache, dass der Reisende erklärt hat, die Reise trotz der festgestellten Risiken antreten zu wollen, nicht maßgebend, da die Frage, ob der Reiseveranstalter an der Erfüllung des betreffenden Reisevertrags gehindert war, objektiv und nicht anhand rein subjektiver Beurteilungen zu prüfen ist (Rn 51 f).

[32] 3.3.2.2. Die Verhinderung der Erfüllung eines Pauschalreisevertrags ist zwangsläufig vorausschauend zu beurteilen, da sie sich erst zu dem Zeitpunkt, zu dem die betreffende Reise hätte stattfinden sollen, und somit nach dem Datum der Beendigung dieses Reisevertrags, endgültig zeigt. Daraus folgt, dass sich diese Beurteilung hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, dass der Reiseveranstalter aufgrund der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände, auf die er sich beruft, im Sinne von Art 12 Abs 3 lit b Pauschalreise‑RL „an der Erfüllung des Vertrages gehindert“ sein wird, auf eine Prognose stützen muss. In diesem Zusammenhang ist nicht von Bedeutung, ob die Situation, die zum Zeitpunkt der geplanten Reise bestand, die Erfüllung des betreffenden Reisevertrags letztlich erlaubt hätte oder nicht (Rn 53 bis 55).

[33] Im vorliegenden Einzelfall ist daher zu beurteilen, ob die Beklagte zum Zeitpunkt der Beendigung des Pauschalreisevertrags, insbesondere auf der Grundlage der Reisewarnung, vernünftigerweise annehmen konnte, dass sie aufgrund der durch die COVID‑19-Pandemie verursachten Gesundheitsrisiken wahrscheinlich daran gehindert sein würde, diesen Reisevertrag zu erfüllen, da diese Pandemie die Durchführung dieses Reisevertrags zwar nicht zwangsläufig objektiv unmöglich gemacht, die Bedingungen seiner Durchführung jedoch wesentlich berührt hätte, und zwar ohne dass das Ergreifen von Maßnahmen mit verhältnismäßigen Kosten hätte Abhilfe schaffen können (Rn 56).

[34] 4.1. Daraus erhellt, dass der unstrittige Sachverhalt und die von den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen nicht hinreichen, um den vom Europäischen Gerichtshof umschriebenen Beurteilungskriterien von Art 12 Abs 3 lit b Pauschalreise‑RL, in deren Lichte der für die hier relevanten Fragen inhalts- und weitgehend wortgleiche § 10 Abs 3 Z 2 PRG auszulegen ist, vollständig zu genügen.

[35] 4.2. Einerseits sind Feststellungen zu treffen, aus denen die Frage beantwortet werden kann, ob im Zeitpunkt des Reiserücktritts (und nicht des Reiseantritts) am Zielort eine objektive Situation bestand, die als „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ qualifiziert werden kann. Dabei kann zwar grundsätzlich auf die BMEIA-Reisewarnung abgestellt werden, jedoch ist dem Kläger Gelegenheit zu geben, Vorbringen und Beweisanbot zu erstatten, welche die Annahme einer solchen Situation widerlegen und die Annahme rechtfertigen könnten, dass im Zeitpunkt der Vertragsbeendigung entgegen den BMEIA-Empfehlungen deren Voraussetzungen nicht oder nicht mehr vorlagen. Unter Berücksichtigung solcher vom Kläger vorzubringenden und zu beweisenden Umstände wird sodann erst zu beurteilen sein, ob die Beklagte zum Zeitpunkt der Beendigung des Pauschalreisevertrags unter Berücksichtigung insbesondere der Veröffentlichung der BMEIA‑Reisewarnung der höchsten Stufe, die wegen der durch die COVID‑19-Pandemie verursachten Gesundheitsrisiken erfolgte, vom Vorliegen „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ nach § 10 Abs 3 Z 2 PRG in Verbindung mit Art 12 Abs 3 lit b Pauschalreise‑RL ausgehen durfte.

[36] 4.3. Wenn demnach vom Vorliegen solcher Umstände auszugehen ist, ist auch zu prüfen, ob dadurch die Beklagte im Zeitpunkt des Rücktritts vom Reisevertrag (und nicht dem seiner geplanten Erfüllung) im Sinne einer Prognoseentscheidung vernünftigerweise annehmen konnte, im Sinne von § 10 Abs 3 Z 2 PRG in Verbindung mit Art 12 Abs 3 lit b Pauschalreise‑RL „an der Erfüllung des Vertrages gehindert“ zu sein. Hierbei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass eine Gesundheitskrise wie die Ausbreitung von COVID‑19 als ein diese Prognose rechtfertigendes Ereignis angesehen werden konnte. Mit dem Kläger ist allerdings noch zu erörtern, dass seine bloße Erklärung, die Reise trotz der festgestellten Risiken antreten zu wollen, nicht maßgebend ist, sondern es an ihm läge, objektive Umstände aufzuzeigen und unter Beweis zu stellen, dass die Beklagte Maßnahmen ergreifen gekonnt hätte, mit denen gegenüber den von der Pandemie wesentlich berührten Bedingungen der Reisedurchführung mit verhältnismäßigen Kosten Abhilfe zu schaffen gewesen wäre.

[37] 4.4. Falls im dargelegten Sinne die Beklagte als nicht im Sinne von § 10 Abs 3 Z 2 PRG in Verbindung mit Art 12 Abs 3 lit b Pauschalreise‑RL zum Rücktritt berechtigt angesehen werden könnte, wären auch Feststellungen zur Höhe des Klagebegehrens und zur Kausalität des unberechtigten Rücktritts für die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche zu treffen.

[38] 5. Die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen war somit unvermeidlich.

[39] Der Vorbehalt der Kosten einschließlich der des Zwischenverfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof (vgl RS0109758) stützt sich auf § 52 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte