European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0070OB00141.24X.1023.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Grundrechte
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Begründung:
[1] Die Bewohnerin lebt seit mehreren Jahren in einer Behinderteneinrichtung (Wohngemeinschaft). Sie leidet ua an dem St. p. Mallory Weiss Syndrom, einer Gl Blutung 1997, einem perinatalen Zerebralschaden und einer F 83‑psychomotorischen Retardierung. Sie ist hochgradig pflegebedürftig. Insbesondere besteht das Pflegerisiko Sturzgefahr, auf das situativ reagiert werden muss. Die korrekte Einschätzung diesesRisikos erfordert eine entsprechende Ausbildung, um es zu erkennen und die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten.
[2] Die Bewohnerin hat einen Rollstuhl, bei dem die Rückenlehne in senkrechter Position ist. Sie wird zur Stabilisierung mit zwei Gurten fixiert. Die Anordnung erfolgte durch die Einrichtungsleiterin, die eine Ausbildung zur Sozialpädagogin und zur Unterstützung bei der Basisversorgung hat. Sie verfügt über keine Ausbildung zur diplomierten Gesundheits‑ und Krankenpflegerin (DGKP) oder zur Pflegeassistentin. Diese Maßnahme kam der Bewohnervertreterin am 6. 3. 2024 zur Kenntnis.
[3] Am 23. 2. 2024 erhielt die Bewohnervertreterin eine Meldung über die Verwendung von Seitenteilen am Bett, mit der Begründung einer Sturzgefahr nach einer operativ versorgten Oberschenkelfraktur. Die Anordnung der Maßnahme erfolgte ebenfalls durch die Einrichtungsleiterin. Zwar erleichtert ein Lichtschranken oder ein Sensor das Erkennen eines Sturzes aus dem Bett, dadurch ist aber nicht sichergestellt, dass die betreuende Person die richtigen Maßnahmen setzt. Dafür ist eine Ausbildung zur DGKP oder zumindest zur Pflegeassistenz erforderlich.
[4] Mit Antrag vom 20. 3. 2024 begehrte der Verein die an der Bewohnerin vorgenommenen Freiheitsbeschränkungen durch Seitenteile am Bett (nachträglich) und durch Gurten am Rollstuhl für unzulässig zu erklären. Die Bewohnerin lebe seit Jahren in der Wohngemeinschaft, welche eine Einrichtung im Sinn des § 2 Abs 1 HeimAufG sei. Die genannten Maßnahmen seien nicht von einer dazu befugten Person angeordnet worden und die Dokumentation sei unzureichend. Weiters stellten die Seitenteile nicht das gelindeste Mittel zur Sturzprävention dar; betreffend die Gurte liege weder Selbst‑ noch Fremdgefährdung vor und seien diese zudem nicht das schonendste Mittel. Hinzu komme, dass die Gurte am Rollstuhl nicht gemeldet worden seien.
[5] Die Einrichtungsleiterin stellte außer Streit, dass sämtliche Maßnahmen so gesetzt wurden, wie im Antrag vorgebracht.
[6] Das Erstgericht sprach – soweit im Revisionsrekursverfahren noch von Interesse – aus, dass die an der Bewohnerin vorgenommenen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen a) Seitenteile am Bett, b) Becken‑ und Brustgurt am Rollstuhl bis 10. 4. 2024, 11:45 Uhr unzulässig gewesen seien. Die angeführten freiheitsbeschränkenden Maßnahmen wurden ab 10. 4. 2024, 11:46 Uhr bis 31. 7. 2024 unter näher genannten Auflagen für zulässig erklärt.
[7] Das Rekursgericht bestätigte den Beschluss insoweit, als die Maßnahmen „Seitenteile am Bett“ und „Becken‑ und Brustgurt“ unzulässige freiheitsbeschränkende Maßnahmen darstellen, weil sie nicht von den dazu befugten Personen angeordnet worden seien. Die Maßnahmen würden an die körperliche Befindlichkeit der Bewohnerin anknüpfen und der unmittelbaren Gefahrenabwehr (Sturzgefahr und Instabilität) dienen und seien daher als pflegerische Maßnahmen zu qualifizieren, die von einem Angehörigen des gehobenen Dienstes der Gesundheits‑ und Krankenpflege anzuordnen gewesen wären.
[8] Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu, weil keine höchstgerichtliche Rechtsprechung dazu bestehe, ob unter den gegebenen Umständen, namentlich der Betreuung der Bewohnerin im Rahmen einer Behinderteneinrichtung die pädagogische Leitung oder deren Vertreter auch für Anordnungen mit pflegerischen Motiven und Inhalten befugt seien.
[9] Gegen diesen Beschluss wendet sich der Revisionsrekurs der Einrichtungsleiterin mit dem Antrag auf Abänderung dahin, dass die angeordneten freiheitsbeschränkenden Maßnahmen zulässig seien.
[10] Der Verein beantragt, dem Revisionsrekurs keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[11] Der Revisionsrekurs ist zulässig, er ist jedoch nicht berechtigt.
[12] 1. Die Einrichtung ist unstrittig vom HeimAufG umfasst.
[13] 2.1 Nach § 3 Abs 1 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Mitteln, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen, oder durch deren Androhung unterbunden ist.
[14] 2.2 Übereinstimmung besteht dahin, dass durch die noch gegenständlichen Maßnahmen (Seitenteile am Bett, Gurte am Rollstuhl) eine Freiheitsbeschränkung im Sinn des HeimAufG vorgenommen wurde.
[15] 3. Gegenstand des Revisionsrekursverfahrens ist nur die Frage, ob die Einrichtungsleiterin zur Anordnung dieser freiheitsbeschränkenden Maßnahmen befugt war.
[16] 3.1 Nach § 5 Abs 1 HeimAufG darf eine Freiheitsbeschränkung nur aufgrund der Anordnung einer dazu befugten Person vorgenommen werden. Anordnungsbefugt sind 1. für Freiheitsbeschränkungen durch medikamentöse oder sonstige dem Arzt gesetzlich vorbehaltenen Maßnahmen und alle damit in unmittelbarem Zusammenhang erforderlichen Freiheitsbeschränkungen ein Arzt; 2. für Freiheitsbeschränkungen durch Maßnahmen im Rahmen der Pflege ein mit der Anordnung derartiger freiheitsbeschränkender Maßnahmen von der Einrichtung betrauter Angehöriger des gehobenen Dienstes für Gesundheits‑ und Krankenpflege und 3. für Freiheitsbeschränkungen durch Maßnahmen im Rahmen der Betreuung in Einrichtungen der Behindertenhilfe und in Einrichtungen zur Pflege und Erziehung Minderjähriger, die mit der pädagogischen Leitung betraute Person und deren Vertreter.
[17] 3.2 Nach dieser Bestimmung erfordert die Zulässigkeit einer Freiheitsbeschränkung deren Anordnung durch eine dazu befugte Person. In der Lehre wird einhellig vertreten, dass für die Befugnis zur Anordnung einer Freiheitsbeschränkung seit der Ub‑HeimAuf-Nov 2010 in § 5 Abs 1 HeimAufG – überwiegend unter Anknüpfung an berufsrechtliche Bestimmungen – drei verschiedene Kompetenzbereiche abgebildet sind, jener der Ärzte (Z 1), jener der Angehörigen des gehobenen Dienstes der Gesundheits‑ und Krankenpflege (Z 2) und jener des in Behinderteneinrichtungen wirkenden pädagogisch ausgebildeten Personals (Z 3). Es wird damit ein gleichberechtigtes, nebeneinander bestehendes und sich gegenseitig ausschließendes Anordnungsrecht der bezeichneten Berufsgruppen begründet, das an die konkret zu setzende Maßnahme anknüpft. (Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth AußStrG § 5 HeimAufG Rz 10 [Stand 1. 10. 2017, rdb.at]; Herdega/Bürger in Resch/Wallner Handbuch Medizinrecht [2020] Heimaufenthaltsgesetz Rz 89; Strickmann, Heimaufenthaltsrecht2 [2012] 149 f; Zierl/Wall/Zeinhofer, Heimrecht3, Band I [2011] 140; Bürger/Halmich, Heimaufenthaltsgesetz2 [2019] § 5 97; vgl auch ErläutRV 601 BlgNR 24. GP 20). Die konkrete Zuordnung der Anordnungsbefugnis ergibt sich aufgrund der berufsrechtlichen Kompetenzbeschreibungen (Bürger/HalmichaaO 97; Herdega/BürgeraaO Rz 102). Eine rein formelle Unterscheidung nach der Art der Einrichtung ergibt sich aus der gesetzlichen Anordnung – entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelwerberin – gerade nicht.
[18] 4.1 Maßnahmen im Rahmen der Pflege sind solche, die zum „eigenverantwortlichen Tätigkeitsbereich“ im Sinn des § 14 GuKG gehören (HöllwerthaaO Rz 20; ErläutRV 601 BlgNR 24. GP 20). Nach § 14 Abs 1 GuKG umfassen die pflegerischen Kernkompetenzen des gehobenen Dienstes für Gesundheits‑ und Krankenpflege die eigenverantwortliche Erhebung des Pflegebedarfs sowie die Beurteilung der Pflegeabhängigkeit, der Diagnostik, Planung, Organisation, Durchführung, Kontrolle und Evaluation aller pflegerischen Maßnahmen (Pflegeprozess) in allen Versorgungsformen und Versorgungsstufen, die Prävention, Gesundheitsförderung und Gesundheitsberatung im Rahmen der Pflege sowie die Pflegeforschung. Dieser Bereich umfasst Maßnahmen, die Patienten oder Klienten bei der Ausübung ihrer Lebensaktivität unterstützen oder für diese übernommen werden, wenn sie wegen Krankheit, Alter, geistiger oder körperlicher Behinderung oder sozialer Umstände dazu selbst nicht in der Lage sind. Die Ausübung des gehobenen Dienstes für Gesundheits‑ und Krankenpflege beinhaltet die patienten‑ und klientenorientierte Pflege nach dem Pflegeprozess, der mit der Einschätzung der Pflegebedürfnisse beginnt und mit der Ausweitung der Resultate der Pflegemaßnahmen endet (vgl ErläutRV 1194 BlgNR 25. GP 3; ErläutRV 709 BlgNR 20. GP 53 f). Spezifische pflegerische Maßnahmen knüpfen an die körperlichen Befindlichkeiten an. Zu denken ist etwa an das zur Vermeidung von Stürzen notwendige Anbringen von Seitenteilen am Bett, Sitzhosen und von Bauchgurten (Barth, Die Befugnis zur Anordnung freiheitsbeschränkender Maßnahmen. Die Neuregelung im Überblick, iFamZ-Spezial 2010, 29 [33]). Nicht in den Anwendungsbereich des GuKG und damit nicht in den Vorbehaltsbereich der Gesundheits‑ und Krankenpflegeberufe fallen aber ganz allgemein Tätigkeiten der Betreuung und Pflege, die kein gesundheitliches oder krankenpflegerisches Fachwissen erfordern und aufgrund der Erfahrung des täglichen Lebens üblicherweise von Laien durchgeführt werden (Laientätigkeit). Die Grenze der Laientätigkeit liegt dort, wo medizinisches oder pflegerisches Fachwissen Voraussetzung für eine fachgerechte Durchführung der Tätigkeit ist oder aufgrund dieses Fachwissens Selbst‑ oder Fremdgefährdung vermieden werden kann (7 Ob 80/19v).
[19] 4.2 Als Maßnahmen nach § 5 Abs 1 Z 3 HeimAufG kommen solche mit betreuerischen, heilpädagogischen und entwicklungsfördernden Charakter in Frage (vgl HöllwerthaaO Rz 24). Um eine betreuerische Maßnahme handelt es sich dann, wenn die Beurteilung der Eignung, der Angemessenheit sowie der Verhältnismäßigkeit im Sinn des § 3 HeimAufG pädagogische Expertise erfordert, da neben der Gefahrenabwehr auch entwicklungsförderliche Überlegungen angestellt werden (vgl Bürger/HalmichaaO 100 f).
[20] 4.3 Die Abgrenzung zwischen pflegerischen und betreuerischen Maßnahmen orientiert sich demnach daran, ob eine Maßnahme wegen der unmittelbaren Gefahrenabwehr aufgrund des körperlichen Befindens (Pflege) oder vor dem Hintergrund einer – eine heilpädagogische Expertise erfordernden – Entwicklungsförderung des Bewohners erfolgt (StrickmannaaO 158; BarthaaO [32 f]).
[21] 4.4 Bei Beschränkungen, die dem ärztlichen oder pflegerischen Bereich zuzuordnen sind, obliegt die Anordnungskompetenz auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe und in Einrichtungen zur Pflege und Erziehung Minderjähriger den Ärzten bzw den Angehörigen des gehobenen Dienstes für Gesundheits‑ und Krankenpflege (BarthaaO [31]; Bürger/Herdega in Neumayr/Resch/Wallner GmundKomm2 § 5 HeimAufG Rz 16 [Stand 1. 1. 2022, rdb.at], Rz 105; Bürger/HalmichaaO 100; StrickmannaaO 155 ; Zierl/Wall/ZeinhoferaaO 155). Verfügt eine Einrichtung über keinen im Rahmen eines Dienstvertrags Angestellten des gehobenen Dienstes der Gesundheits- und Krankenpflege, so muss für die Anordnung pflegerischer Freiheitsbeschränkungen eine Pflegekraft von außen betraut werden (StrickmannaaO 155).
[22] 4.5 Von einigen Autoren (vgl BarthaaO [33]; Bürger/HalmichaaO 101; Zierl/Wall/ZeinhoferaaO 155) wird vertreten, dass dann, wenn die Anordnung einer Maßnahme im Raum stehe, welche sowohl als pädagogisch als auch pflegerisch zu beurteilen sei, eine Anordnungsbefugnis der pädagogischen Leitung bejaht werden könne. Eine pflegerische Maßnahme ohne pädagogischen Bezug dürfe jedoch nur von einer diplomierten Pflegekraft angeordnet werden (Zierl/Wall/ZeinhoferaaO 155).
[23] Eine nähere Auseinandersetzung mit dieser Meinung ist im vorliegenden Fall nicht erforderlich.
[24] 5.1 Die Vorinstanzen beurteilten aufgrund des hier konkret festgestellten Sachverhalts die gesetzten Maßnahmen als (nur) pflegerisch, weil sie ausschließlich an die körperliche Befindlichkeit der Bewohnerin anknüpften und der unmittelbaren Gefahrenabwehr (Sturzgefahr/Instabilität) dienten. Sie vertraten daher, dass deren Anordnung in die pflegerische Kernkompetenz fielen.
[25] 5.2 Dagegen bringt die Revisionsrekurswerberin keine Argumente, insbesondere behauptet sie selbst keinen pädagogischen Charakter der gesetzten Maßnahmen.
[26] 5.3 Die Ausführungen der Revisionsrekurswerberin, wonach zum Berufsbild eines Fach‑ bzw Diplomsozialbetreuers nach dem Wiener Sozialbetreuungsberufegesetz ohnedies die Ausbildung in der Pflegeassistenz gehöre, gehen – unabhängig davon, ob eine solche (nicht) der Ausbildung zur DGKP entspricht – schon deshalb ins Leere, weil ausdrücklich feststeht, dass die Einrichtungsleiterin auch über keine Ausbildung in der Pflegeassistenz verfügte.
[27] 6. DemRekursgericht ist daher zuzustimmen, wenn es die Anordnungsbefugnis der Einrichtungsleiterin für die gesetzten freiheitsbeschränkenden Maßnahmen verneinte und davon ausgehend als unzulässig beurteilte. Die von den Vorinstanzen geforderten Auflagen für deren – zeitmäßig beschränkte – Zulässigkeit werden im Revisionsrekurs nicht bemängelt.
[28] 7. Dem Revisionsrekurs war daher keine Folge zu geben.
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