OGH 13Os65/24v

OGH13Os65/24v11.9.2024

Der Oberste Gerichtshof hat am 11. September 2024 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz‑Hummel LL.M. in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Wachter in der Strafsache gegen * U* wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs 4 StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 41 Hv 30/23g des Landesgerichts Wiener Neustadt, über den Antrag der Generalprokuratur auf außerordentliche Wiederaufnahme des Strafverfahrens in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0130OS00065.24V.0911.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

In Stattgebung des Antrags der Generalprokuratur wird im außerordentlichen Weg die Wiederaufnahme des Berufungsverfahrens verfügt, das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 22. Mai 2024, AZ 22 Bs 104/24s, (ON 81.3) aufgehoben und die Sache an dieses Gericht zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 6. Februar 2024 (ON 63.4) verwiesen.

 

Gründe:

[1] Mit Urteil des Einzelrichters des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 6. Februar 2024 (ON 63.4) wurde * U* mehrerer strafbarer Handlungen schuldig erkannt und hiefür zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

[2] Gegen dieses Urteil meldete der Angeklagte (durch seinen Verteidiger) rechtzeitig Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe sowie wegen der Aussprüche über die Schuld und die Strafe an (ON 66).

[3] Der Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über die Berufung wurde vom Oberlandesgericht Wien zu AZ 22 Bs 104/24s am 19. April 2024 für den 22. Mai 2024 anberaumt. Dabei verfügte das Berufungsgericht die Zustellung der Ladung zu eigenen Handen (§ 21 ZustG) des Angeklagten. Ein Versuch, sie an der im Melderegister als Hauptwohnsitz des Angeklagten aufscheinenden Adresse im Postweg zuzustellen, schlug fehl. Die Sendung wurde mit dem Vermerk „Ortsabwesenheit bis 14. 4. 2025“ retourniert.

[4] Daraufhin ordnete das Oberlandesgericht Wien mit Verfügung vom 7. Mai 2024 per Telefax die nachweisliche Ausfolgung der Ladung an den Angeklagten durch die Polizeiinspektion B* an.

[5] Zum Gerichtstag am 22. Mai 2024 erschien U* unentschuldigt nicht. Sein Verteidiger erklärte keinen Verzicht auf die Teilnahme des Angeklagten an der Berufungsverhandlung. Nach telefonischer Rücksprache mit einem Beamten der Polizeiinspektion B* hielt der Rechtsmittelsenat im Protokoll über die Berufungsverhandlung fest, dass die Ladung dem Angeklagten (nach Auskunft des Beamten) am 8. Mai 2024 persönlich ausgefolgt worden sei (ON 81.6, 2).

[6] Die Berufungsverhandlung wurde daraufhin in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt. Mit dem anschließend verkündeten Urteil (ON 81.3) wies das Oberlandesgericht Wien die Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitgründe zurück und gab jener wegen der Aussprüche über die Schuld und die Strafe nicht Folge.

[7] Erst mit (am 6. Juni 2024 beim Oberlandesgericht Wien eingelangtem) Schreiben vom 1. Juni 2024 gab die Polizeiinspektion B* bekannt, dass – entgegen der telefonisch erteilten Auskunft – die Ladung des Angeklagten trotz mehrerer Versuche nicht habe zugestellt werden können. Eine Nachbarin des Angeklagten habe angegeben, diesen schon „seit längerem“ nicht mehr gesehen zu haben.

Rechtliche Beurteilung

[8] Bei der Prüfung der Akten ergeben sich – wie die Generalprokuratur in ihrem nach § 362 Abs 1 Z 2 StPO (per analogiam) gestellten Antrag zutreffend aufzeigt – erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit einer der Durchführung der Berufungsverhandlung und der Fällung des Urteils am 22. Mai 2024 zugrunde gelegten Tatsachenannahme:

[9] Gemäß § 489 Abs 1 zweiter Satz StPO iVm § 471 StPO gelten für die Anberaumung und die Durchführung des Gerichtstags zur öffentlichen Verhandlung über Berufungen gegen Urteile des Einzelrichters des Landesgerichts – unabhängig vom Gegenstand der Berufung – § 286 Abs 1 StPO und § 294 Abs 5 StPO sinngemäß. Der (wie hier) nicht verhaftete Angeklagte ist daher – gegebenenfalls zusätzlich zu einem Verteidiger (§ 294 Abs 5 zweiter Satz StPO als lex specialis zu § 83 Abs 4 erster Satz StPO), mangels Erzwingbarkeit seiner Anwesenheit (vgl § 83 Abs 1 und 3 erster Satz StPO) jedoch ohne das Erfordernis eines Zustellnachweises – vorzuladen (12 Os 69/23y [Rz 9] und Ratz, WK-StPO § 294 Rz 14). Ohne gehörige Ladung des auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten ist die Durchführung der Berufungsverhandlung im Fall seines Ausbleibens (vgl § 286 Abs 1 letzter Satz StPO) nur dann zulässig, wenn er durch seinen Verteidiger ausdrücklich auf die Teilnahme am Gerichtstag verzichtet hat (vgl RIS-Justiz RS0124107 [T2] sowie Ratz, WK-StPO § 296 Rz 2 und § 471 Rz 2).

[10] Da Letzteres hier nicht der Fall war, hätte die Zulässigkeit der Durchführung der Berufungsverhandlung in Abwesenheit des unentschuldigt ferngebliebenen Angeklagten demnach vorausgesetzt, dass diesem die Ladung zur Berufungsverhandlung wirksam zugestellt worden ist.

[11] Gegen die Richtigkeit der den rechtlichen Schluss tragenden Tatsachenannahme, dies sei hier in Bezug auf U* der Fall gewesen, bestehen aufgrund des – erst nach der Fällung des Berufungsurteils aktenkundig gewordenen – Inhalts der zuletzt erwähnten Bekanntgabe der Polizeiinspektion B* erhebliche Bedenken im Sinn des § 362 Abs 1 Z 2 StPO.

[12] Denn danach ist indiziert, dass dem Genannten die Ladung – entgegen der telefonischen Auskunft vom 22. Mai 2024, auf welcher die betreffende Tatsachenannahme des Berufungssenats fußte – mangels persönlicher Ausfolgung durch die um Zustellung ersuchte (§ 82 Abs 3 zweiter Satz StPO) Kriminalpolizei nicht tatsächlich zugekommen (vgl § 7 ZustG) ist (sodass im Gegenstand – insgesamt – keine gehörige Ladung erfolgt wäre).

[13] Hiervon ausgehend ist eine (nicht vom Obersten Gerichtshof selbst getroffene) letztinstanzliche Entscheidung eines Strafgerichts auf einer in tatsächlicher Hinsicht objektiv falschen Verfahrensgrundlage ergangen, ohne dass dem betreffenden Gericht ein Rechtsfehler (vgl § 23 Abs 1 StPO, RIS-Justiz RS0125225) unterlaufen wäre.

[14] Dies war – weil die so entstandene Benachteiligung des U* auf anderem Weg nicht beseitigt werden kann – durch Verfügung der außerordentlichen Wiederaufnahme in analoger Anwendung des § 362 Abs 1 Z 2 StPO auf die im Spruch ersichtliche Weise zu sanieren (RIS‑Justiz RS0117416 [insbesondere T4] und RS0117312; Ratz, WK‑StPO § 362 Rz 4).

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte