OGH 10ObS105/23y

OGH10ObS105/23y10.9.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch denSenatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Faber und den Hofrat Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Sylvia Zechmeister (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A*, Rumänien, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84–86, vertreten durch Dr. Eva-Maria Bachmann-Lang und Dr. Christian Bachmann, Rechtsanwälte in Wien, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. April 2023, GZ 10 Rs 30/23 i-25, mit dem das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 21. Oktober 2022, GZ 37 Cgs 96/21k-19, mit Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00105.23Y.0910.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Mit dem angefochtenen Bescheid vom 10. 6. 2021 sprach die Beklagte aus, der Anspruch der Klägerin auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld für ihr am 30. 7. 2019 geborenes Kind ruhe gemäß § 6 Abs 1 und 3 KBGG zur Gänze.

[2] Für den – im Revisionsverfahren allein strittigen – Zeitraum von 3. 10. 2019 bis 31. 3. 2020 wurde das Ruhen damit begründet, dass lediglich eine nachrangige Zuständigkeit Österreichs bestehe, ein höchstmöglicher Anspruch auf rumänisches Erziehungsgeld – als der Klägerin zustehende anrechenbare ausländische Familienleistung – von umgerechnet 10.461,54 EUR bestehe, dem für diesen Zeitraum ein niedrigerer Anspruch der Klägerin auf österreichisches Kinderbetreuungsgeld von 7.969,43 EUR gegenüber stehe, sodass die Beklagte keine Ausgleichszahlung zum rumänischen Erziehungsgeld zu leisten habe.

[3] Das Erstgericht sprach hinsichtlich des Zeitraums 3. 10. 2019 bis 31. 3. 2020 aus, dass der Anspruch der Klägerin auf Kinderbetreuungsgeld (nur) im Umfang von 1.787,42 EUR ruhe.

[4] Es ging davon aus, dass der rumänische Versicherungsträger zu Unrecht die Leistung des Erziehungsgeldes nach rumänischem Recht („Indemnizație pentru creșterea copilului“) abgelehnt habe, obwohl ein Leistungsanspruch der Klägerin von 1.787,42 EUR bestanden hätte. Diese Höhe ermittelte es unter Anwendung der von ihm aus den MISSOC-Vergleichstabellen festgestellten Berechnungsformel für das rumänische Erziehungsgeld und aus den festgestellten Einkünften der Klägerin aus Gewerbebetrieb samt dem dadurch erzielten Gewinn der Jahre 2018 und 2019.

[5] Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil des Erstgerichts betreffend den Zeitraum 3. 10. 2019 bis 31. 3. 2020 mit der Maßgabe, dass es die Beklagte zur Zahlung von 6.182,01 EUR Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens – als Ausgleichszahlung aufgrund der in diesem Zeitraum bestehenden nachrangigen Zuständigkeit Österreichs nach Art 68 Abs 1 lit b sublit i VO (EG) 883/2004 – verpflichtete.

Rechtliche Beurteilung

[6] Die Revision der Beklagten ist nicht zulässig.

[7] 1. Die Beklagte leitet eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung daraus ab, dass eine (unionsrechtliche) Klarstellung dahin geboten sei, ob und wie österreichische Gerichte die Höhe ausländischer Familienleistungen, die den Anspruch auf österreichisches Kinderbetreuungsgeld zum Ruhen bringen, berechnen dürften, wenn der vorrangig zuständige Mitgliedstaat die Gewährung einer Familienleistung unionsrechtswidrig ablehne und den österreichischen Trägern oder Gerichten die „konkrete Berechnungsformel“ und die erforderlichen tatsächlichen Grundlagen für die Ermittlung der Höhe der ausländischen Leistung nicht bekannt seien.

[8] Damit wird keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO dargetan:

[9] 2.1. Art 68 VO (EG) 883/2004 enthält in seinem Absatz 1 die Regeln zur Bestimmung des vorrangig zuständigen Mitgliedstaats beim Zusammentreffen von Ansprüchen auf Familienleistungen, Absatz 2 enthält Normen zur Bestimmung der Leistungshöhe und Absatz 3 enthält Regelungen des Leistungsverfahrens (vgl Marhold in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht8 [2022] Art 68 VO [EG] Nr 883/2004 Rz 5 ff).

[10] Nach Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 wird die nachrangige Familienleistung bis zur Höhe der vorrangigen ausgesetzt. Nur so weit, als die im nachrangigen Mitgliedstaat vorgesehene Familienleistung höher ist, gebührt ein Anspruch auf die Gewährung eines Unterschiedsbetrags im Umfang der Differenz zwischen den Höhen der Leistungen aus dem primär zuständigen Mitgliedstaat und der höheren Familienleistung aus dem nachrangig zuständigen Mitgliedstaat (Marhold in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht8 Art 68 VO [EG] Nr 883/2004 Rz 8).

[11] 2.2. Nach Art 7 der Durchführungs‑VO (EG) 987/2009 hat eine vorläufige Berechnung von Leistungen – so auch des Unterschiedsbetrags – stattzufinden, wenn einer Person nach der Grundverordnung ein Leistungsanspruch zusteht und dem zuständigen Träger nicht alle zur Berechnung der Leistungshöhe erforderlichen Angaben über die Situation in einem anderen Mitgliedstaat vorliegen (vgl 10 ObS 42/19b [ErwGr 8.1.] DRdA 2020/22, 257 [Rief]).

[12] 2.3. Nach Art 76 Abs 4 der VO (EG) 883/2004 sind die Träger und Personen, die in den Geltungsbereich der Verordnung fallen, zur gegenseitigen Information und Zusammenarbeit verpflichtet, um die ordnungsgemäße Anwendung dieser Verordnung zu gewährleisten.

[13] Zusätzlich sieht der Beschluss Nr F2 der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 23. 6. 2015 über den Datenaustausch zwischen den Trägern zum Zweck der Gewährungen von Familienleistungen (ABl 2016/C 52/07) Fristen für den Informationsaustausch und Regeln für die Zahlung des (auch vorläufigen) Unterschiedsbetrags vor. Allerdings enthält der Beschluss Nr F2 der Verwaltungskommission keine Auslegungshilfe dazu, wie vorzugehen ist, wenn ein Träger seine Informationspflichten nicht einhält (10 ObS 111/20a [Rz 16]).

[14] 2.4. Die Anordnung von Kooperations- und Informationspflichten ändert nichts daran, dass die österreichischen Gerichte – unabhängig davon, ob die Versicherungsträger anderer beteiligter Mitgliedstaaten ihre Kooperationspflichten eingehalten haben oder nicht – die Entscheidungsgrundlagen für die Beurteilung der vor ihnen geltend gemachten Ansprüche herbeizuführen haben:

[15] Zur Beurteilung, ob und in welcher Höhe ein Anspruch auf eine ausländische Familienleistung besteht, haben die Gerichte das ausländische Recht von Amts wegen zu ermitteln (10 ObS 48/24t [Rz 36 ff] zum polnischen Elterngeld; vgl 10 ObS 123/23w [Rz 25] zum tschechischen Elterngeld [„rodičovský příspěvek“] und slowakischen Kinderbetreuungsgeld [„príspevok na starostlivosť o dieťa“]). Einer allfälligen Mitteilung der Behörden des anderen Mitgliedstaats über das Bestehen eines Leistungsanspruchs kommt dabei keine wesentliche Bedeutung zu (10 ObS 48/24t [Rz 38]).

[16] Die unterbliebene Ermittlung fremden Rechts stellt einen Verfahrensmangel besonderer Art dar, der zur Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanzen führt (10 ObS 48/24t [Rz 39]; 10 ObS 123/23w [Rz 24]; 10 ObS 5/22s [Rz 13]; vgl RS0116580; RS0040045).

[17] 3.1. Die Beklagte geht in ihrem Vorbringen zur Zulässigkeit der Revision von der Prämisse aus, dass dem österreichischen Gericht die „konkrete Berechnungsformel“ und die erforderlichen tatsächlichen Grundlagen für die Ermittlung der Höhe der ausländischen Leistung unbekannt geblieben seien.

[18] Dass in einem solchen Fall eine Berechnung des Unterschiedsbetrags, den der nachrangig zuständige österreichische Versicherungsträger zu leisten hat, nicht möglich und auch nicht zulässig wäre, ergibt sich bereits aus der dargestellten Rechtsprechung, nach der vor der Entscheidung die Ermittlung des ausländischen Rechts zu erfolgen hat. Dasselbe gilt auch für die sonstigen zur Ermittlung des ausländischen Leistungsanspruchs erforderlichen Tatsachengrundlagen.

[19] 3.2. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass die Sozialgerichte in anders gelagerten Fällen, in denen sie die Sach- und Rechtslage – einschließlich der Ermittlung des anzuwendenden ausländischen Rechts – ausreichend geklärt haben, über die Höhe des Unterschiedsbetrags nicht nur vorläufig, sondern wie im vorliegenden Fall endgültig zu entscheiden haben, steht im Einklang mit der dargestellten Rechtsprechung.

[20] 3.3. Auch der in der Revision behauptete Widerspruch zur Entscheidung 10 ObS 111/20a liegt nicht vor. Dass in dem der Entscheidung 10 ObS 111/20a zugrunde liegenden Verfahren das Kinderbetreuungsgeld als Ausgleichszahlung zu einer allenfalls vorrangigen Leistung eines anderen Mitgliedstaats (Italiens) zugesprochen wurde, hindert nicht den endgültigen Zuspruch in einem Fall, in dem das Gericht den Sachverhalt – wie im vorliegenden Fall – als ausreichend geklärt ansieht, um eine endgültige Entscheidung zu treffen.

[21] 3.4. Die Revision argumentiert, mangels konkreter Angaben des prioritär zuständigen Mitgliedstaats könne eine verlässliche Berechnung der Familienleistung dieses Mitgliedstaats nur anhand der jeweils potentiellen Höchstbeträge der Familienleistungen des vorrangig zuständigen Mitgliedstaats entsprechend den Angaben in den MISSOC-Vergleichstabellen (www.missoc.org ) erfolgen. Im vorliegenden Fall ergebe sich – ausgehend vom Höchstbetrag des rumänischen Erziehungsgeldes – kein Anspruch der Klägerin auf einen Unterschiedsbetrag zum Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens.

[22] Mit diesem Vorbringen lässt die Revision außer Acht, dass die Vorinstanzen die Ermittlung des rumänischen Rechts und des Einkommens der Klägerin als ausreichend für eine konkrete, nicht auf eine pauschalierende Betrachtung des potentiellen Höchstsatzes des rumänischen Erziehungsgeldes abstellende Beurteilung des Unterschiedsbetrags ansahen.

[23] 3.5. Eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens durch das Heranziehen der MISSOC-Vergleichstabellen zur Ermittlung des rumänischen Rechts und eine insgesamt ungenügende Klärung des ausländischen Rechts wurde vom Berufungsgericht bereits verneint.

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