OGH 12Ns34/24g

OGH12Ns34/24g27.6.2024

Der Oberste Gerichtshof hat am 27. Juni 2024 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Oshidari, Dr. Brenner, Dr. Haslwanter LL.M. und Dr. Sadoghi in Gegenwart des Schriftführers Richteramtsanwärter Edermaier‑Edermayr LL.M. (WU) in der Strafsache gegen * N* und weitere Angeklagte wegen des Vergehens des gewerbsmäßigen Diebstahls im Rahmen einer kriminellen Vereinigung nach §§ 127, 130 Abs 1 erster und zweiter Fall, 15 StGB, AZ 10 Hv 13/24a des Landesgerichts für Strafsachen Graz in dem zwischen diesem Gericht und dem Landesgericht für Strafsachen Wien (zu AZ 144 Hv 37/24b) geführten Zuständigkeitsstreit nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0120NS00034.24G.0627.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

Das Verfahren ist vom Landesgericht für Strafsachen Wien zu führen.

 

Gründe:

[1] Die Staatsanwaltschaft Wien brachte am 20. November 2023 beim Landesgericht für Strafsachen Wien (zur AZ 115 Hv 80/23m) Strafantrag gegen * N* wegen dem Vergehen des gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 130 Abs 1 erster Fall, 15 StGB subsumierter Taten ein (ON 3). Danach habe er am 10. Oktober 2023 in T* und am 13. Oktober 2023 in W* mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz „gewerbsmäßig (§ 70 StGB)“ näher bezeichneten Opfern Parfums im Gesamtwert von 4.545,55 Euro weggenommen und wegzunehmen versucht.

[2] Am selben Tag fasste der Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien den Beschluss auf Abbrechung des Verfahrens mangels bekannten Aufenthalts und verfügte die Ausschreibung des * N* zur Aufenthaltsermittlung im Inland (ON 1.3).

[3] Am 21. Dezember 2023 brachte die Staatsanwaltschaft Wels beim Landesgericht Wels (zur AZ 39 Hv 135/23g) Strafantrag gegen * N*, (den Jugendlichen) * H* und * T* wegen dem Vergehen des gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 15, 127, 130 Abs 1 erster Fall StGB subsumierter Taten und gegen * S* wegen dem „Vergehen des gewerbsmäßigen Diebstahls und Diebstahls im Rahmen einer kriminellen Vereinigung nach §§ 15, 127, 130 Abs 1, 2 StGB“ subsumierter Taten ein (ON 9.3).

[4] Danach haben sie als Mitglied einer kriminellen Vereinigung unter Mitwirkung (§ 12 StGB) eines anderen Mitglieds dieser Vereinigung mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz (unter Verwirklichung der Kriterien der Z 1 [und teilweise der Z 3] des § 70 Abs 1 StGB) gewerbsmäßig anderen fremde bewegliche Sachen wegzunehmen versucht, nämlich

I. * N*, * H*, * T* und * S* Verfügungsberechtigten des D*

a) am 15. Dezember 2023 in S* sieben Parfums im Gesamtwert von 922,15 Euro,

b) am 13. Dezember 2023 in P* Parfums im Gesamtwert von 1.650 Euro,

II. * S* am 18. Jänner 2023 in V* Verfügungsberechtigten des M* V* Go‑Pro‑Kameras im Gesamtwert von 2.689,40 Euro, „sohin an Sachen in EUR 5.000,- übersteigendem Gesamtwert“.

[5] Der Einzelrichter des Landesgerichts Wels dokumentierte die Prüfung des Strafantrags (nach den Kriterien des § 485 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO), ordnete die Hauptverhandlung an und trat das Verfahren „wegen früherer Rechtswirksamkeit der Anklage betreffend 01 N*“ gemäß § 37 Abs 3 StPO an das Landesgericht für Strafsachen Wien zur AZ 115 Hv 80/23m zur gemeinsamen Verfahrensführung ab. Dabei verwies er darauf, dass der (einzige) jugendliche Angeklagte H* nach dem Akteninhalt in Österreich keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet habe (ON 9.1.3).

[6] Der Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien bezog im Verfahren AZ 115 Hv 80/23m das Verfahren AZ 39 Hv 135/23g des Landesgerichts [richtig:] Wels zur gemeinsamen Führung wegen Konnexität ein und veranlasste die Neuzuteilung in eine Abteilung für Jugendstrafsachen (ON 1.8); daraufhin wurde das Verfahren zur AZ 144 Hv 119/23k des Landesgerichts für Strafsachen Wien im Register erfasst. In diesem Verfahren erklärte sich die Einzelrichterin mit Beschluss vom 26. Dezember 2023 (ON 11) für örtlich unzuständig (§ 485 Abs 1 Z 1 StPO). Begründend führte sie unter Hinweis auf § 29 JGG aus, dass der Jugendliche H* zur Zeit des Beginns des Strafverfahrens seinen gewöhnlichen Aufenthalt in L* gehabt habe. Diesen Beschluss stellte sie dem Angeklagten H* und der Staatsanwaltschaft, nicht aber den Angeklagten * N*, * T* und * S* zu (vgl ON 1.9). Mit Verfügung vom 12. Jänner 2024 wurde die Sache dem Landesgericht Linz überwiesen (ON 1.16).

[7] Das Landesgericht Linz erklärte sich mit Beschluss vom 13. Jänner 2024 (ON 30) zur AZ 33 Hv 2/24a zur Führung des Verfahrens örtlich unzuständig (§ 485 Abs 1 Z 1 StPO). Dazu führte es aus, dass der Jugendliche * H* zu keiner Zeit einen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich gehabt habe, vielmehr habe er sämtliche ihm angelastete Taten im Zuständigkeitsbereich des Landesgerichts für Strafsachen Graz begangen. In der Folge überwies es die Sache dem Landesgericht für Strafsachen Graz (ON 1.23).

[8] Mit Beschluss vom 2. Februar 2024 (ON 44) sprach das Landesgericht für Strafsachen Graz zur AZ 10 Hv 13/24a gemäß § 485 Abs 1 Z 1 StPO seine örtliche Unzuständigkeit aus. Der Jugendliche * H* habe in Österreich, somit auch in G*, keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet, sodass sich „die Zuständigkeit nach der StPO und nicht nach dem JGG richtet“ und (grundsätzlich) auf den Tatort abzustellen sei. Nach Einbeziehung „aufgrund subjektiver Konnexität in das Verfahren betreffend den früheren Strafantrag ON 3“ sei das Verfahren jedoch vom Landesgericht für Strafsachen Wien zu führen.

Rechtliche Beurteilung

[9] Der gegen den letztgenannten Beschluss, der den Verteidigern der vier Angeklagten und der Staatsanwaltschaft zugestellt worden war (ON 44 S 5), erhobenen Beschwerde des * S* gab das Oberlandesgericht Graz mit Beschluss vom 4. März 2024 zur AZ 8 Bs 49/24b keine Folge (ON 58).

[10] Das Landesgericht für Strafsachen Graz legte in der Folge den Akt dem Obersten Gerichtshof gemäß § 38 letzter Satz StPO zur Entscheidung über den negativen Kompetenzkonflikt vor (ON 59).

[11] Nach Rückstellung des Akts durch den Obersten Gerichtshof an das Landesgericht für Strafsachen Wien zur Zustellung des am 26. Dezember 2023 gefassten Beschlusses dieses Gerichts (ON 11) an die Verteidiger der Angeklagten * N*, * T* und * S* (zur AZ 144 Hv 37/24b) liegt nunmehr, nach Eintritt der Rechtskraft dieses Beschlusses, ein vom Obersten Gerichtshof zu entscheidender Kompetenzkonflikt vor.

[12] Da es sich vorliegend – in Bezug auf * H* – um eine Jugendstrafsache (§ 1 Abs 1 Z 2 bis 4 JGG) handelt, wäre grundsätzlich der gewöhnliche Aufenthalt dieses Angeklagten zur Zeit des Beginns des Strafverfahrens (§ 1 Abs 2 StPO), das ist fallaktuell der Zeitpunkt seiner Festnahme nach § 170 Abs 1 Z 1 StPO am 15. Dezember 2023 (ON 9.2.27.2), für die Führung der – (unstrittig) gemäß § 37 Abs 3 StPO verbundenen – Verfahren zuständigkeits-begründend (§ 29 JGG).

[13] Bei Ausländern, die in Österreich nicht integriert sind, ist der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts extensiv zu interpretieren und die Zuständigkeit gemäß § 29 JGG schon dann anzunehmen, wenn ein Jugendlicher, der sonst keinen Bezugspunkt im Inland hat, sich wenigstens eine gewisse Zeit hindurch an einem bestimmten Ort aufgehalten hat (RIS‑Justiz RS0109116; Schroll/Oshidari in WK2 JGG § 29 Rz 6 mwN). Vorliegend fehlt jedoch beim bloß – zu kriminaltouristischen Zwecken – durchreisenden, grundsätzlich in Polen aufhältigen (vgl ON 12.4, 2; ON 48, 6) Angeklagten * H*, der sich nach den Ermittlungsergebnissen zum Zeitpunkt der Tatbegehung erst seit wenigen Tagen in Österreich befand und dabei tageweise in unterschiedlichen Städten nächtigte (vgl ON 9.2.27.7.4, 4 und 19 sowie ON 9.2.27.7.5, 8), jeglicher Stetigkeitsansatz. Solcherart greifen wiederum die über § 31 JGG subsidiär geltenden sonstigen Anhaltspunkte – also primär jener des Tatorts (vgl Schroll/Oshidari in WK2 JGG § 29 Rz 6/1).

[14] Da sowohl im Sprengel des Landesgerichts für Strafsachen Wien als auch im Sprengel des Landesgerichts für Strafsachen Graz Straftaten ausgeführt wurden, kommt die Zuständigkeit für das verbundene Verfahren im – hier mangels Eingreifens eines der darin normierten vorrangigen Anknüpfungspunkte gegebenen – Fall des § 37 Abs 2 zweiter Satz StPO dem Gericht zu, bei dem die Anklage zuerst rechtswirksam geworden ist (§ 37 Abs 3 zweiter Halbsatz StPO). Vorliegend wurde der zur AZ 115 Hv 80/23m des Landesgerichts für Strafsachen Wien eingebrachte Strafantrag zuerst rechtswirksam, indem dieses Gericht mit Verfügung vom 20. November 2023 durch die Anordnung der Ausschreibung des Angeklagten zur Aufenthaltsermittlung (ON 1.3 und ON 4) die Bejahung der Prozessvoraussetzungen zum Ausdruck brachte.

[15] Das Landesgericht für Strafsachen Wien ist daher zur Führung des Verfahrens zuständig.

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