OGH 22Ds11/23x

OGH22Ds11/23x12.6.2024

Der Oberste Gerichtshof als Disziplinargericht für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter hat am 12. Juni 2024 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden, den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer als weiteren Richter sowie die Rechtsanwälte Dr. Pressl und Dr. Schimik als Anwaltsrichter in Gegenwart des Schriftführers Richteramtsanwärter Loibl LL.M. (WU), BSc in der Disziplinarsache gegen *, Rechtsanwalt in *, wegen der Disziplinarvergehen der Verletzung von Berufspflichten und der Beeinträchtigung der Ehre oder des Ansehens des Standes nach § 1 Abs 1 DSt über die Berufung des Beschuldigten gegen das Erkenntnis des Disziplinarrats der Oberösterreichischen Rechtsanwaltskammer vom 6. Februar 2023, GZ D 33/22, 5 DV 23/22 (verbunden mit D 35/22, 7 DV 25/22)‑23, nach mündlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Schneider, des Kammeranwalts Rechtsanwalt Mag. Haumer, des Beschuldigten und seiner Verteidigerin Rechtsanwältin Mag. Schauer zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0220DS00011.23X.0612.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Standes- und Disziplinarrecht der Anwälte

 

Spruch:

 

Der Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe und wegen des Ausspruchs über die Schuld wird nicht Folge gegeben.

In Stattgebung der Berufung wegen des Strafausspruchs wird die verhängte Geldbuße auf 3.000 Euro herabgesetzt.

Dem Beschuldigten fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Erkenntnis, das auch einen in Rechtskraft erwachsenen Freispruch enthält, wurde *, Rechtsanwalt in *, der Disziplinarvergehen der Verletzung von Berufspflichten und der Beeinträchtigung der Ehre oder des Ansehens des Standes nach § 1 Abs 1 DSt schuldig erkannt.

[2] Danach hat er es als Geschäftsführer der * GmbH zu verantworten, dass diese im Verfahren AZ 19 HR 214/22a des Landesgerichts Linz (AZ 21 St 86/22m der Staatsanwaltschaft Linz) sowohl den Beschuldigten * S* als auch das Opfer, nämlich die Anzeigerin * F*, vertreten hat.

Rechtliche Beurteilung

[3] Die dagegen wegen des Vorliegens der Nichtigkeitsgründe (siehe dazu RIS‑Justiz RS0128656 [T1]) der Z 3, 5, 9 lit a und 9 lit b des § 281 Abs 1 StPO sowie wegen des Ausspruchs über die Schuld erhobene Berufung des Beschuldigten geht – wie auch die Generalprokuratur zutreffend aufzeigt – fehl.

[4] Entgegen der Verfahrensrüge (Z 3) ist die „strafbare Handlung“ im Sinn des § 260 Abs 1 Z 2 StGB – also die rechtliche Kategorie, welcher der festgestellte Lebenssachverhalt unterstellt wird (Ratz in WK2 StGB Vor §§ 28–31 Rz 1 f) – im rechtsanwaltlichen Disziplinarverfahren der jeweilige Deliktstatbestand des DSt, womit eine allenfalls verletzte Norm der RAO gerade nicht Gegenstand des Ausspruchs nach § 260 Abs 1 Z 2 StPO (hier iVm § 77 Abs 3 DSt) ist.

[5] Auch begründet der Umstand, dass die angefochtene Entscheidung die als verwirklicht angesehenen Disziplinarvergehen nicht numerisch bezeichnet, keine Nichtigkeit. Nach ständiger Judikatur ist nämlich im Bezug auf die allfällige Verletzung des § 260 Abs 1 Z 2 StPO darauf abzustellen, ob die Norm, nach der subsumiert worden ist, zweifelsfrei erkennbar ist (RIS‑Justiz RS0116669), was hier zu bejahen ist, weil das DSt bloß vier – klar voneinander abgegrenzte – materielle Disziplinartatbestände kennt (dazu Lehner in Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO11 § 1 DSt Rz 1), womit die vom Disziplinarrat vorgenommene Subsumtion als Disziplinarvergehen der Verletzung von Berufspflichten und der Beeinträchtigung der Ehre oder des Ansehens des Standes (ES 1) keinen Zweifel an der Einordnung als Disziplinarvergehen nach § 1 Abs 1 erster und zweiter Fall DSt lässt.

[6] Der Beantwortung der Mängelrüge (Z 5) ist vorauszuschicken, dass materielle (echte) Doppelvertretung nach § 10 Abs 1 RAO vorliegt, wenn der Rechtsanwalt (oder – wie hier [ES 8] – die Rechtsanwalts‑GmbH, in der er tätig ist [vgl RIS‑Justiz RS0113207 {T10}]) eine Vertretung übernimmt und auch nur einen Rat erteilt, er (oder die GmbH) in derselben oder einer damit zusammenhängenden Sache aber auch die Gegenpartei vertritt oder verteten hat (zu hier nicht relevanten – Ausnahmen siehe Rohregger in Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO11 § 10 RAO Rz 21 ff). Als Ausfluss der umfassenden Treuepflicht gegenüber seinem Mandanten (§ 9 Abs 1 erster Satz RAO) hat sich der Rechtsanwalt von jeglicher – auch nur möglichen – Interessenskollision fernzuhalten. Danach richtet sich auch die begrifflich weite Auslegung des Gesetzesbegriffs „Gegenpartei“ (RIS‑Justiz RS0054995 [T13 und T26], RS0055492, RS0055534 und RS0117715 sowie Lehner in Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO11 § 1 DSt Rz 37 ff).

[7] Nach den Feststellungen des Disziplinarrats befand sich * S* zum Zeitpunkt der Übernahme der Vertretung (sowohl des * S* als auch der * F*) wegen des Verdachts zum Nachteil der * F* begangener Straftaten in Untersuchungshaft, wobei der Tatverdacht auf den Angaben der Letztgenannten gründete (ES 8).

[8] Bereits diese Verfahrenssituation begründet den Anschein einer Interessensüberschneidung der Verfahrensbeteiligten und löst solcherart das hier interessierende Vertretungsverbot aus.

[9] Die von der Berufung unter den Aspekten des inneren Widerspruchs (Z 5 dritter Fall) und der Aktenwidrigkeit (Z 5 fünfter Fall) relevierten Inhalte der konkreten Beratungsleistungen des Beschuldigten gegenüber * F* beziehen sich demnach nicht auf schuld- oder subsumtionsrelevante Umstände und verfehlen damit den Bezugspunkt des herangezogenen Nichtigkeitsgrundes (RIS‑Justiz RS0106268).

[10] Die Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld (§ 464 Z 2 erster Fall StPO) erschöpft sich in Rechtsausführungen und verlässt solcherart den gesetzlichen Anfechtungsrahmen. Der herangezogene Berufungspunkt eröffnet nämlich ausschließlich die Möglichkeit, in den Entscheidungsgründen festgestellte Tatsachen unter der Voraussetzung, dass sie den ergangenen Schuldspruch (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) oder Freispruch (§ 259 StPO) nach Maßgabe rechtsrichtiger Subsumtion tragen, unter Bezugnahme auf in der Disziplinarverhandlung vorgekommene Verfahrensergebnisse (§ 258 Abs 1 StPO) zu bekämpfen, wogegen Rechtsfehler und Feststellungsmängel in den Schutzbereich der materiellen Nichtigkeitsgründe ressortieren (RIS‑Justiz RS0122980; Ratz, WK‑StPO § 464 Rz 8 f).

[11] Die Rechtsrüge (Z 9 lit a) setzt sich mit der Behauptung, dass aufgrund der Geltendmachung des Aussagebefreiungsrechts „eine Kollisionssituation im Sinne belastender Aussagen und widerstreitender Interessen nicht“ vorgelegen sei, prozessordnungswidrig (RIS‑Justiz RS0099810) darüber hinweg, dass sowohl die Beratung des Opfers (vgl abermals RIS‑Justiz RS0055492) als auch die Übernahme der Vertretung des * S* nach den Feststellungen des Disziplinarrats vor der Erklärung des Opfers, das Aussagebefreiungsrecht in Anspruch zu nehmen, erfolgt ist (ES 8 f). Zudem legt sie nicht dar, weshalb die Erklärung, ein Aussagebefreiungsrecht in Anspruch zu nehmen, trotz der dem Opfer offenstehenden Möglichkeit, diese Erklärung zu widerrufen, die Gefahr einer Interessenskollision beseitigen sollte.

[12] Die weitere Rechtsrüge (Z 9 lit b) leitet nicht aus dem Gesetz ab (siehe aber RIS‑Justiz RS0116565), warum es zum Erwirken der sofortigen Enthaftung des * S* einer anwaltlichen Tätigkeit in Vertretung des Opfers bedurft haben soll.

[13] Entgegen der Behauptung mangelnder Strafwürdigkeit der Tat (§ 3 DSt) ist das Verschulden des Beschuldigten nicht bloß als geringfügig – im Sinn von erheblich hinter den typischen Fällen solcher Verstöße zurückbleibend (RIS‑Justiz RS0056585 und RS0089974) – anzusehen (vgl RIS‑Justiz RS0054998 [T1]), sodass die begehrte Privilegierung des dem Beschuldigten zur Last liegenden – grundsätzlich ein schweres Disziplinarvergehen darstellenden (RIS‑Justiz RS0054993) – Verstoßes gegen das Doppelvertretungsverbot ausscheidet (vgl Lehner in Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO11 § 1 DSt Rz 43/2).

[14] Der Berufung wegen des Vorliegens von Nichtigkeitsgründen (§ 464 Z 1 StPO) und wegen des Ausspruchs über die Schuld (§ 464 Z 2 erster Fall StPO) war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – nicht Folge zu geben.

[15] Der Disziplinarrat verhängte über den Beschuldigten nach § 16 Abs 1 Z 2 DSt eine Geldbuße von 3.500 Euro und wertete dabei keinen Umstand als erschwerend, die bisherige Unbescholtenheit als mildernd.

[16] Nach ständiger Judikatur sind die für die Strafbemessung maßgebenden Grundsätze des Strafgesetzbuchs (§§ 32 ff StGB) auch für das anwaltliche Disziplinarverfahren sinngemäß heranzuziehen (RIS‑Justiz RS0054839).

[17] Hievon ausgehend wendet die Berufung wegen des Strafausspruchs (§ 464 Z 2 zweiter Fall StPO) zutreffend ein, dass die überlange Verfahrensdauer aus einem nicht vom Beschuldigten oder seiner Verteidigerin zu vertretenden Grund mildernd hinzutritt (§ 34 Abs 2 StGB).

[18] Hingegen stellt das sogenannte Tatsachengeständnis den Milderungsgrund des § 34 Abs 1 Z 17 StGB nicht her. Während nämlich das bloße Zugestehen von Tatsachen ohne subjektives Reueelement vom ersten Fall dieses besonderen Milderungsgrundes generell nicht erfasst ist, fehlt es für die mildernde Wertung nach § 34 Abs 1 Z 17 zweiter Fall StGB fallbezogen am Tatbestandselement der Wesentlichkeit, weil der Umstand der Doppelvertretung als solcher hier ohnedies durch die Aktenlage objektiviert ist (zum Ganzen eingehend mwN Riffel in WK2 StGB § 34 Rz 38).

[19] Das Vorbringen zu den Milderungsgründen des § 34 Abs 1 Z 3, 11 und 12 StGB argumentiert prozessordnungswidrig nicht auf der Basis des Schuldspruchs, wonach dem Beschuldigten die – gegen § 10 Abs 1 RAO verstoßende – Vertretung (siehe einmal mehr RIS‑Justiz RS0055492) der * F* angelastet wird.

[20] Bei einem gesetzlichen Geldbußrahmen von bis zu 45.000 Euro (§ 16 Abs 1 Z 2 DSt) erweist sich die vom Disziplinarrat unter zutreffender Gewichtung der Verschuldensschwere (§ 32 Abs 2 und 3 StGB) sowie der Einkommens‑ und Vermögensverhältnisse des Beschuldigten (§ 16 Abs 6 DSt) gefundene Sanktion trotz der geringfügig zum Vorteil des Beschuldigten zu korrigierenden besonderen Strafbemessungsgründe als schuldangemessen (§ 32 Abs 1 StGB).

[21] Allerdings reicht der besondere Milderungsgrund des § 34 Abs 2 StGB hier in die Grundrechtssphäre. Nach der Judikatur des EGMR ist das Grundrecht auf Entscheidung in angemessener Frist (§ 6 Abs 1 erster Satz MRK) nämlich jedenfalls dann verletzt, wenn sich die Verfahrensdauer insgesamt als unangemessen lang erweist (Grabenwarter/Pabel, EMRK7, § 24 Rn 83 mwN), was hier unter Berücksichtigung der geringen Komplexität des Falles (dazu Grabenwarter/Pabel, EMRK7, § 24 Rn 82) mit Blick auf die zwischen dem Einlangen der Disziplinaranzeige und der Rechtskraft des Disziplinarerkenntnisses liegenden Zeitspanne von rund zwei Jahren zu bejahen ist.

[22] Der Oberste Gerichtshof erkennt die in der solcherart überlangen Verfahrensdauer gelegene Grundrechtsverletzung ausdrücklich an und gleicht sie durch eine Reduktion der Geldbuße um 500 Euro aus.

[23] Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 54 Abs 5 DSt.

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