OGH 4Ob62/24g

OGH4Ob62/24g23.5.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schwarzenbacher als Vorsitzenden sowie den Vizepräsidenten Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M., und Mag. Waldstättenund den Hofrat Dr. Stiefsohn als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj *, geboren am * 2011, wegen Obsorge und Kontaktrecht, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Pflegeeltern *, vertreten durch Mag. Christiane Schwarzenbacher, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten vom 14. Februar 2024, GZ 23 R 48/24t‑244,den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0040OB00062.24G.0523.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der Minderjährige konnte wegen Suchterkrankungen beider Eltern nicht in seiner Herkunftsfamilie aufwachsen. Der Kinder- und Jugendwohlfahrtsträger entzog deshalb der leiblichen Mutter die Obsorge und brachte den Minderjährigen ab seinem 15. Lebensmonat bei den Pflegeeltern unter, die Obsorge hatte weiterhin der Kinder- und Jugendwohlfahrtsträger.

[2] Am 11. 6. 2021 nahm der Kinder- und Jugendwohlfahrtsträger den damals neuneinhalbjährigen Minderjährigen den Pflegeeltern ab und brachte ihn danach in einer Wohngemeinschaft in Wien unter. Anlass dafür waren Erzählungen der leiblichen Tochter der Pflegeeltern während ihres Aufenthalts auf einer psychosomatischen Station über Vorfälle im Verband der Pflegefamilie, die sich nach derzeitigem Kenntnisstand so nicht zugetragen haben.

[3] Der Minderjährige lebt seit der Abnahme in einer Wohngemeinschaft, wo er sich wohlfühlt. Die Pflegeeltern bemühen sich intensiv, den Minderjährigen wieder in ihrem Haushalt betreuen oder zumindest intensiv(er)en Kontakt mit ihm haben zu können.

[4] Beim inzwischen fast 12‑jährigen Minderjährigen hat sich jedoch mittlerweile subjektiv ein nicht erlebnisbasiertes Bild einer massiv gewalttätigen Pflegefamilie verfestigt. Er möchte nicht mehr zu den Pflegeeltern zurück und ist mit der monatlichen Kontaktregelung zufrieden.

[5] Die Vorinstanzen wiesen den Obsorgeantrag der Pflegeeltern ab und legten ein Kontaktrecht in einem geringeren als von den Pflegeeltern beantragten Ausmaß fest. Sie betonten – wie auch schon in allen vorangegangenen Entscheidungen – die Verdienste der Pflegefamilie für die positive Entwicklung des Minderjährigen. Für die nun zu treffende Obsorgeentscheidung komme es aber nicht darauf an, ob die Abnahme des Minderjährigen im Jahr 2021 aus heutiger Sicht erforderlich oder auch nur förderlich war. Es gehe vielmehr um eine Regelung, die dem künftigen Wohl des Minderjährigen in der derzeitigen Ausgangslage am besten entspreche. Dafür sei die derzeitige Einstellung des Minderjährigen zu seiner Pflegefamilie zentral, egal wodurch diese Haltung entstanden sei.

[6] Mit ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs streben die Pflegeeltern die Übertragung der Obsorge an sie an, hilfsweise soll die Rekursentscheidung aufgehoben und dem Rekursgericht eine neue Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen werden. Das Rechtsmittel zeigt keine erhebliche Rechtsfrage auf und ist deshalb nicht zulässig.

Rechtliche Beurteilung

[7] 1. Der Revisionsrekurs releviert als Mangel des außerstreitigen Verfahrens erster Instanz, dass die Befragungen des Minderjährigen immer nur in Gegenwart von Mitarbeiterinnen des Kinder- und Jugendwohlfahrtsträgers bzw der Wohngemeinschaft erfolgt seien. Diese seien derzeit seine wichtigsten Bezugspersonen, sodass im Sinn der Rechtsprechung zu § 105 AußStrG ihre Anwesenheit bei Anhörungen des Minderjährigen durch das Pflegschaftsgericht ebenso zu vermeiden sei wie die von Eltern.

[8] 1.1. Vom Rekursgericht geprüfte und verneinte Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens bilden im Allgemeinen keinen Revisionsrekursgrund (RS0050037). Dieser Grundsatz kann im Pflegschaftsverfahren ausnahmsweise durchbrochen werden, aber nur, wenn dies aus Gründen des Kindeswohls erforderlich ist (RS0050037 [T1, T4]). Dies wäre etwa der Fall, wenn eine Anhörung eines Minderjährigen nach § 105 AußStrG gänzlich unterblieben wäre, ohne dass ein im Gesetz vorgesehener Ausnahmetatbestand vorliegt (6 Ob 45/23w Rz 31 mwN).

[9] 1.2. Die als erheblich bezeichnete Frage, ob auch die Anwesenheit bestimmter Personen bei der Anhörung nach § 105 AußStrG einen Verfahrensmangel bilde, der auch in dritter Instanz noch aufzugreifen sei, stellt sich im vorliegenden Fall nicht:

[10] Am 14. 2. 2022 erfolgte eine persönliche Anhörung des Minderjährigen nach § 105 AußStrG durch den Erstrichter in der Wohngemeinschaft. Aus dem Akteninhalt ergibt sich aber nicht, dass bei diesem Gespräch außer dem Richter und dem Minderjährigen noch jemand anwesend gewesen wäre. Der Richter hielt in seinem Aktenvermerk zwar fest, dass er die Situation im Anschluss mit einer Betreuerin besprochen habe. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass diese Person auch der Anhörung des Minderjährigen beiwohnte.

[11] Am 12. 9. 2022 erfolgte neuerlich eine persönliche Anhörung durch den Erstrichter. Diesmal fand sie bei Gericht in Anwesenheit der WG‑Bezugsbetreuerin des Minderjährigen statt. Dabei hielt der Erstrichter fest, dass der Minderjährige ausdrücklich wolle, dass er das Gespräch mit dem Pflegschaftsrichter in Anwesenheit der Mitarbeiterin der Wohngemeinschaft führe, die ihn zum Gerichtstermin gebracht habe. Die Beurteilung des Rekursgerichts, dass dies keinen relevanten Verfahrensmangel begründe, ist schon deshalb zumindest vertretbar, weil nach § 289b Abs 3 ZPO iVm § 35 AußStrG der Vernehmung einer minderjährigen Person eine Person ihres Vertrauens beizuziehen ist, soweit es in ihrem Interesse zweckmäßig ist.

[12] 1.3. Richtig zeigt das Rechtsmittel auf, dass auch die persönliche Exploration durch den Sachverständigen für klinische und Gesundheitspsychologie, Psychotherapie im Sommer 2023 in den Räumen der Wohngemeinschaft im Beisein einer der Betreuerinnen stattfand. Dabei handelte es sich aber nicht um die Bezugsbetreuerin des Minderjährigen.

[13] Die Begutachtung durch einen Sachverständigen ist kein Anwendungsfall von § 105 AußStrG, sodass die Anwesenheit von Personen nicht durch Verfahrensregeln bestimmt ist. Jedoch kann der Oberste Gerichtshof die generelle Eignung der gewählten Methode eines Sachverständigengutachtens überprüfen (RS0127336). Eine solche ungeeignete Methode zeigt das Rechtsmittel allerdings nicht auf. Es wird nicht dargelegt, dass die anwesende Mitarbeiterin des Wohnheims in einem besonderen Naheverhältnis zum Minderjährigen stünde, oder dass ihre Anwesenheit nicht dem Wunsch des Minderjährigen entsprochen habe.

[14] 2. Die Pflegeeltern machen außerdem sekundäre Feststellungsmängel zur mangelnden Bindungstoleranz des Kinder- und Jugendwohlfahrtsträgers geltend. Dessen Mitarbeiter hätten sowohl vom Pflegschaftsgericht angeordnete Besuchs- und Telefonkontakte der Pflegeeltern verweigert als auch das nicht erlebnisbasierte, gewaltbesetzte Bild des Minderjährigen von seinen Pflegeeltern bewirkt.

[15] 2.1. Sekundäre Feststellungsmängel liegen nur dann vor, wenn Tatsachen fehlen, die für die Beurteilung wesentlich sind (RS0053317).

[16] 2.2. Dass Telefonkontakte nicht immer im vom Pflegschaftsgericht angeordneten Ausmaß stattfanden, der Kinder- und Jugendwohlfahrtsträger Termine für persönlichen Kontakt verschob und auch Anträge auf Einschränkung der persönlichen und telefonischen Kontakte stellte, wurde ohnedies festgestellt.

[17] 2.3. Das Rechtsmittelzweifelt – zu Recht (vgl RS0106312; RS0048632) – nicht die Rechtsansicht der Vorinstanzen an, wonach es auf eine zukunftsbezogene Entscheidung ankomme. Aufgrund des nunmehrigen verfestigten subjektiven Bildes einer massiv gewalttätigen Pflegefamilie könnten auch die begehrten Feststellungen zur Ursache des subjektiven Bildes des Minderjährigen über seine Pflegeeltern nichts an der Gesamtbewertung ändern, dass eine Obsorgeübertragung auf die Pflegeeltern aktuell das Kindeswohl gefährden würde.

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