OGH 3Ob34/24g

OGH3Ob34/24g3.4.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.‑Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun‑Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei K* MMC, *, Aserbaidschan, vertreten durch Dr. Johannes Mayrhofer, Rechtsanwalt in Steyr, gegen die beklagte Partei I* GmbH, *, vertreten durch Mag. Stefan Tiefenbacher, Rechtsanwalt in Korneuburg, wegen 760.903,10 EUR sA, über den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom 17. November 2023, GZ 2 R 174/23g‑96, mit dem der Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts Korneuburg vom 5. September 2023, GZ 2 Cg 48/19p‑87, zurückgewiesen wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0030OB00034.24G.0403.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und dem Rekursgericht wird aufgetragen, über den Rekurs der klagenden Partei unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund zu entscheiden.

Die Kosten des Revisionsrekursverfahrens sind weitere Kosten des Rekursverfahrens.

 

Begründung:

[1] Das Erstgericht bestellte – über Antrag der Beklagten – einen Sachverständigen aus dem Gebiet der Informationstechnologie und erteilte diesem den Auftrag, Befund und Gutachten zur Frage zu erstatten, wie es dazu kam, dass Dritte mit neuen, ähnlich lautenden E‑Mail‑Adressen Teil der Korrespondenz der Parteien wurden. Der Klagsvertreter teilte dem Sachverständigen mit, dass die Klägerin keine weiteren Unterlagen bereitstellen und zur Erstattung des Sachverständigengutachtens nichts beitragen könne. Anlässlich der Befundaufnahme bei der Beklagten am 17. 3. 2023 sicherte der Sachverständige eine Postfachdatei * des E‑Mail-Accounts des Geschäftsführers der Beklagten, die sämtliche E‑Mails dieses Accounts samt Metadaten im maßgebenden Zeitraum (Mai 2015 bis August 2015) betrafen. Die Beklagte erklärte dazu gegenüber dem Sachverständigen, dass der Klägerin und Dritten keine Einschau in die gesamte Korrespondenz ermöglicht werde, sondern nur in jenen Teil, der in den Befund aufgenommen werde und zwischen den Streitteilen bzw deren gehackten E‑Mail‑Accounts geführt worden sei.

[2] Nach den Ausführungen des Sachverständigen sind „Grundlage des Befundes“ die in der erwähnten Postfachdatei enthaltenen E‑Mails gemäß Abbildung 2 bis 9, 19 bis 24 und dem Massage‑Header aus Abbildung 14 im Gutachten ON 78 („fallrelevante E‑Mails zwischen den Streitteilen“).

[3] Nach Vorliegen des Sachverständigengutachtens (ON 78) beantragte die Klägerin (unter anderem) die Übermittlung der erwähnten vom Sachverständigen gesicherten Postfachdatei.

[4] Das Erstgericht trug dem Sachverständigen auf, sämtliche E‑Mails und sonstige Dateien, welche die Grundlage des Befunds darstellen, binnen vier Wochen in digitaler Form (wenn möglich auf USB‑Stick) dem Gericht in dreifacher Ausfertigung zu übermitteln (Spruchpunkt 2.). Im Übrigen wies es den Antrag der Klägerin ab, dem Sachverständigen aufzutragen, die über Pkt 2. hinausgehenden E‑Mails bzw E‑Mail-Postfachdateien, welche anlässlich der Befundaufnahme kopiert wurden, zu übermitteln (Sprungpunkt 3.). Zudem verwarf es den Antrag der Klägerin auf Ablehnung des Sachverständigen (Spruchpunkt 1.) und trug der Klägerin gemäß § 359 Abs 2 ZPO auf, dem Sachverständigen Kopien der Postfächer bzw die Protokolle der E‑Mail-Server der konkret bezeichneten E‑Mail‑Adressen der Klägerin für den Zeitraum von Mai 2015 bis August 2015 binnen vier Wochen zu übermitteln (Spruchpunkt 4.).

[5] Das Rekursgericht wies den Rekurs der Klägerin gegen die Spruchpunkte 2. und 3. – und den gemäß § 515 ZPO damit verbundenen Rekurs gegen die Spruchpunkte 1. und 4. – zurück. Gemäß § 319 Abs 1 ZPO sei gegen einen Beschluss nach § 298 ZPO ein Rechtsmittel nicht zulässig. Beträfen E‑Mail‑Dateien verschiedene Rechtsverhältnisse sowohl zwischen den Streitteilen untereinander als auch zwischen einer Partei und Dritten, beantrage diese Partei eine bloß eingeschränkte Einsichtsmöglichkeit des Gegners und gewähre das Gericht demgemäß der anderen Partei (im Wege des Sachverständigen) Einsicht nur in jene Dateien, die das Rechtsverhältnis der Streitteile beträfen, bzw verwehre es die Einsicht im darüber hinausgehenden Umfang, so sei auch dies als einheitliche Anordnung im Sinn des § 298 Abs 2 ZPO zu qualifizieren. Der – einseitige, weil sich auf einen prozessleitenden Beschluss beziehende – Rekurs gegen die Spruchpunkte 2. und 3. der Entscheidung des Erstgerichts sei daher unzulässig. Zu den Spruchpunkten 1. und 4. der Entscheidung des Erstgerichts fehle die abgesonderte Anfechtbarkeit nach § 515 ZPO. Der ordentliche Revisionsrekurs sei mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zulässig.

[6] Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der Klägerin mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und dem Rekursgericht aufzutragen, über ihren Rekurs inhaltlich zu entscheiden.

Rechtliche Beurteilung

[7] Der Revisionsrekurs ist zulässig und auch berechtigt.

[8] 1. Nach der Rechtsprechung ist ein Beschluss des Rekursgerichts, mit dem ein an dieses gerichteter Rekurs zurückgewiesen wurde, nur wegen einer erheblichen Rechtsfrage anfechtbar (vgl RS0044501 [T7]). § 519 Abs 1 Z 1 ZPO ist nicht analog anzuwenden.

[9] 2.1 Das Rekursgericht hat den angefochtenen Beschluss des Erstgerichts (Spruchpunkte 2. und 3.) als Beschluss im Sinn des § 298 Abs 2 ZPO qualifiziert und darauf den Rechtsmittelausschluss des § 319 Abs 1 ZPO angewendet.

[10] 2.2 Nach § 298 ZPO kann das Prozessgericht feststellen, dass von einer vorgelegten Urkunde nur bestimmte Teile für das den Gegenstand des Streits bildende Rechtsverhältnis von Belang sind und die anderen Teile von der Einsicht des Gegners ausschließen (vgl RS0126769). Diese Norm knüpft daran an, ob der Inhalt der Urkunde nicht nur das streitgegenständliche Rechtsverhältnis betrifft und deshalb auch für die Entscheidung nicht relevante Passagen enthält (3 Ob 28/11f). Diese Bestimmung bezieht sich ausdrücklich auf Urkunden und betrifft nur den Urkundenbeweis.

[11] 2.3 Die hier fraglichen E‑Mail‑Dateien sind keine Urkunden.

[12] Urkunden im Sinn der ZPO sind schriftliche Aufzeichnungen von Gedanken, die Tatsachen festhalten. Der Urkundenbegriff ist an die Papierform geknüpft. Elektronische Dokumente sind im visualisierten Zustand beweisrechtlich hingegen Augenscheinsobjekte (Brenn, SigG 68 f) und können, wenn sie in den Befund eines gerichtlichen Sachverständigen aufgenommen wurden, Teil des Sachverständigenbeweises sein. Kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung sind elektronische Dokumente nur dann Urkunden, wenn sie mit einer Beurkundungssignatur nach § 13 NO (§ 292 ZPO) oder einer qualifizierten elektronischen Signatur (§ 294 ZPO) versehen sind (Brenn in Zankl, Rechtshandbuch der Digitalisierung, Rn 8.44 und Rn 8.51), was hier nicht der Fall ist.

[13] 3.1 Der zugrunde liegende Beschluss des Erstgerichts betrifft demnach nicht den Urkundenbeweis, weshalb der vom Rekursgericht herangezogene § 298 Abs 2 ZPO nicht anwendbar ist. Aus diesem Grund kommt der Rechtsmittelausschluss nach § 319 ZPO nicht zum Tragen.

[14] Da der Rekurs der Klägerin gegen den zugrunde liegenden Beschluss des Erstgerichts (ON 87) zulässig ist, war dem Revisionsrekurs Folge zu geben, der angefochtene Beschluss aufzuheben und dem Rekursgericht aufzutragen, über den Rekurs der Klägerin inhaltlich zu entscheiden.

[15] 3.2 Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

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