OGH 8ObA58/23x

OGH8ObA58/23x15.2.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann‑Prentner und Mag. Korn sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir. Gabriele Svirak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei A*, vertreten durch Dr. Christian Puchner, Mag. Martin Streitmayer, Rechtsanwälte in Leoben, gegen die beklagte Partei Ö* Aktiengesellschaft, *, vertreten durch die CMS Reich‑Rohrwig Hainz Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 1.166,01 EUR brutto sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 29. Juni 2023, GZ 7 Ra 69/22d‑14, mit dem der Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Leoben vom 11. Oktober 2022, GZ 25 Cga 64/22a‑9, nicht Folge gegeben wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:008OBA00058.23X.0215.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 453,17 EUR (darin enthalten 75,53 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Der Kläger war von 23. 9. 2019 bis 4. 3. 2022 bei der Beklagten als Zusteller beschäftigt. Auf das Dienstverhältnis ist der Kollektivvertrag für Bedienstete der Österreichischen Post AG (ÖPAG) anzuwenden. Im Arbeitsvertrag des Klägers ist eine wöchentliche Normalarbeitszeit von 40 Stunden festgelegt. Weiters heißt es:

„Für Zusteller in einem Gleitzeitdurchrechnungsmodell gelten abweichend von c und d die Bestimmungen der am 3.9.2012 abgeschlossenen „Betriebsvereinbarung gemäß § 4b AZG iVm § 29 ArbVG und gemäß § 73 Abs 2 Z 2 PBVG sowie gemäß § 96 ArbVG über die Flexibilisierung der Normalarbeitszeit sowie über die Verwendung eines EDV‑unterstützten Zeiterfassungssystems sowie über begleitende Entgeltregelungen in den Zustellbasen der Division 'Brief' der Österreichischen Post AG.“ (im Folgenden: BV)

[2] Die Betriebsvereinbarung lautet auszugsweise:

„A. Gleitende Arbeitszeit/ Arbeitszeitdurchrechnung

(...)

2. Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit

Die Mitarbeiterinnen können den Beginn ihrer täglichen Arbeitszeit innerhalb des festgelegten Gleitzeitrahmens selbst bestimmen. Das Ende ihrer täglichen Arbeitszeit ergibt sich aus der Einhaltung der Kernzeit sowie der vollständigen Erfüllung der ihrem Arbeitsplatz zugeordneten Aufgaben. Das kann zu Übertragen in Form von Zeitguthaben (Gutstunden) und Zeitschulden (Minusstunden) in die nächste Gleitzeitperiode führen.

Ungeachtet der den Mitarbeiterinnen eingeräumten Möglichkeit hat der Dienstgeber das Recht, in begründeten Einzelfällen bei betrieblichen Erfordernissen für eine ganze Organisationseinheit oder einzelne Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeitergruppen die dienstliche Anwesenheit anzuordnen, z.B. bei Schulungen oder Änderungen des Kurszuganges oder in anderen notwendigen Einzelfällen. Die Anordnung muss zumindest drei Arbeitstage im Vorhinein erfolgen.

3. Gleitzeitrahmen/Kernzeit

Die Mitarbeiterinnen können innerhalb eines Rahmens von -10/+20 Minuten abweichend von dem für ihre Tätigkeit generell in der Zustellbasis festgelegten Dienstbeginn ihren tatsächlichen Dienstbeginn frei wählen.

Die Kernzeit wird mit 4 Stunden beginnend mit dem tatsächlichen persönlichen Dienstbeginn jeder Zustellerin festgelegt.

(...)

In diesem Zeitraum muss die Funktionsfähigkeit der Organisationseinheit gewährleistet sein, um den Bedürfnissen der jeweiligen Organisationseinheit gerecht zu werden.

Bis zum Ende der (persönlichen) Tagesarbeitszeit sind in jedem Fall die Kernzeit sowie die täglichen dienstlichen Aufgaben vollständig zu erfüllen. Die Tagesarbeitszeit ist mit den gesetzlichen/ kollektivvertraglichen Regelungen betreffend die Höchstgrenzen der täglichen Arbeitszeit begrenzt. Die Höchstgrenzen der täglichen Arbeitszeit sind jedenfalls einzuhalten.

4. Dauer und Lage der fiktiven Normalarbeitszeit

Die wöchentliche Normalarbeitszeit beträgt aufgrund der anzuwendenden Bestimmungen 40 Stunden, die auch im Durchschnitt erreicht werden soll. Die fiktive wöchentliche Normalarbeitszeit beträgt demnach 40 Stunden bzw. bei Teilzeitmitarbeiterinnen die entsprechend festgesetzte Stundenanzahl.

Als fiktive tägliche Normalarbeitszeit von Montag bis Freitag gilt jeweils die Zeit vom generell in der Zustellbasis festgelegten Dienstbeginn + 8 Stunden (zuzüglich Pause), bei Teilbeschäftigten entsprechend ihres Beschäftigungsausmaßes. Sind an einem Tag mehrere Dienstbeginne festgelegt (geteilte Dienste), gelten diese Bestimmungen sinngemäß.

(...)

6. Gleitzeitperiode/Gleitzeitsalden

Gleitzeitperiode ist der Kalendermonat.

Zeitguthaben (außer jene unter Punkt A.7. genannten) und Zeitschulden sind im Rahmen der Gleitzeitperiode grundsätzlich 1:1 auszugleichen.

Zeitguthaben/Zeitschulden bis zu einem Ausmaß von +/- 150 Stunden (Korridor) werden unter Berücksichtigung des zur Auszahlung gelangenden Mehrstunden-/Überstundenpauschales in die nächste Gleitzeitperiode übertragen.

Am 31. Dezember jeden Jahres wird die Summe der aus einem allfälligen Mehrleistungs-/Überstundenpauschale bereits akontiert vorausbezahlten Mehrleistungen/Überstunden, umgerechnet auf Normalstunden – sofern nicht bereits abgerechnet – vom Zeitguthaben abgezogen. Der verbleibende Rest des Zeitguthabens wird in den Jänner des Folgejahres übertragen. Das in den Jänner des nächsten Jahres zu übertragende Zeitguthaben darf dadurch nicht negativ werden.

(...)

Über den zuvor genannten Korridor hinausgehende Zeitguthaben sind unter Berücksichtigung eines allfälligen Mehrstunden-/Überstundenpauschales am Ende der Gleitzeitperiode im Zuge der nächstmöglichen Gehaltsabrechnung für Vollbeschäftigte im Verhältnis 1:1,5 als Überstunden, für Teilbeschäftigte entsprechend den einschlägigen gesetzlichen und kollektivvertraglichen Regelungen auszuzahlen.

Über den zuvor genannten Korridor hinausgehende noch offene Zeitschulden verfallen am Ende der Gleitzeitperiode.

Eine Auszahlung/ein Verfall von Zeitguthaben/Zeitschulden, die sich innerhalb des zuvor genannten Korridors bewegen, ist nicht vorgesehen (Ausnahmen siehe Punkt A.9. und A.10.)

(...)

9. Ausscheiden der Mitarbeiterin

Bei Auflösung des Dienstverhältnisses sind Zeitschulden bzw. Zeitguthaben bis zum Ende des Dienstverhältnisses tunlichst auszugleichen.

Sind bis Ende des Dienstverhältnisses dennoch Zeitguthaben oder Zeitschulden offen, so werden bei der Endabrechnung Zeitguthaben unter Berücksichtigung des zur Auszahlung gelangenden Mehrstunden-/Überstundenpauschales entsprechend den einschlägigen gesetzlichen und kollektivvertraglichen Regelungen ausbezahlt. Dies gilt nicht, sofern das Dienstverhältnis der Mitarbeiter/in durch Entlassung oder bei einer KV-neu-Mitarbeiter/in auch durch vorzeitigen Austritt ohne wichtigen Grund endet. Zeitschulden werden mit dem Normalstundensatz von auszuzahlenden Beträgen abgezogen.“

[3] Dem Kläger wurde vor Dienstantritt bei seiner Einschulung vom Ausbildner gesagt, dass Zusteller vor Ende der 8-stündigen täglichen Arbeitszeit nach Hause gehen können, wenn sie ihre Zustellungen erledigt hätten. Deshalb sei das ein super Job. Der Kläger führte seine Zustellungen immer sehr zügig und korrekt durch, sodass er meist eine Stunde früher fertig war. Er hatte daher fortlaufend Minusstunden auf seinem Zeitkonto. Diese Minusstunden wurden immer weiter übertragen.

[4] Der Kläger übernahm zusätzlich Dienste für Kolleginnen und Kollegen, sogenannte „Mitbesorgung“. Diese Mehrstunden wurden jedoch nicht am Gleitzeitkonto erfasst, sondern als Überstunden ausbezahlt. Er wurde nie aufgefordert, länger zu bleiben, um die Arbeitszeit an der Zustellbasis „abzusitzen“, oder langsamer zuzustellen.

[5] Das Dienstverhältnis wurde einvernehmlich auf Wunsch des Klägers aufgelöst. Bei Beendigung des Dienstverhältnisses wies das Zeitkonto des Klägers 122,48 Minusstunden auf. In der schriftlichen Auflösungsvereinbarung werden Minusstunden nicht erwähnt. Im Vorfeld hatte die Leiterin der Zustellbasis dem Kläger mitgeteilt, dass ihres Wissens bei der Auflösung die Minusstunden üblicherweise nicht abgezogen werden. Im Rahmen der Lohnendabrechnung für März 2022 wurden dem Kläger allerdings 1.166,01 EUR brutto aus dem Titel „Rückverrechnung Ist-Zeit“ in Abzug gebracht.

[6] Der Kläger begehrt 1.166,01 EUR brutto sA, die ihm bei der Endabrechnung für Minusstunden abgezogen wurden. Der Abzug sei zu Unrecht erfolgt, da etwaige Minusstunden der Sphäre der Beklagten zuzurechnen seien. Er habe weder den Beginn noch das Ende der täglichen Normalarbeitszeit frei wählen können und sei durchgehend arbeitsbereit und arbeitswillig gewesen, weshalb ihm nach § 1155 Abs 1 ABGB auch das Entgelt zustehe. Er habe die negativen Zeitsalden auch de facto nicht abbauen können. Zusatzdienste seien extra verrechnet und im Folgemonat als Überstunden ausbezahlt worden. In der Auflösungsvereinbarung werde ein möglicher Gehaltsabzug nicht erwähnt. Darin sei ein Verzicht der Beklagten auf die Rückverrechnung von Minusstunden zu erblicken.

[7] Die Beklagte bestreitet. Der Gehaltsabzug sei aufgrund von Zeitschulden des Klägers zulässig erfolgt. Der Kläger sei im Briefzustelldienst in einem Gleitzeitdurchrechnungsmodell beschäftigt gewesen. Auf das Arbeitsverhältnis sei die Betriebsvereinbarung über die Flexibilisierung der Normalarbeitszeit vom 3. 9. 2012 zur Anwendung gelangt. An der Zustellbasis des Klägers habe der Dienst üblicherweise um 6:10 oder 6:15 Uhr begonnen, die Betriebsvereinbarung habe davon abweichend die freie Wahl des Dienstbeginns in einem Rahmen von -10/+20 Minuten erlaubt. Da nicht an jedem Tag gleich viel Post zuzustellen sei, ergäben sich Schwankungen zwischen den Tagen einer Woche, aber auch zwischen einzelnen Monaten. Daher sehe die Betriebsvereinbarung einen Durchrechnungszeitraum von einem Jahr vor.

[8] Der Kläger habe sich im Arbeitsvertrag zu einer Tätigkeit im Umfang von 40 Stunden pro Woche verpflichtet. Die Zustellrayons seien so bemessen, dass sie im Rahmen einer Vollzeitbeschäftigung, also im Durchschnitt in 40 Stunden pro Woche, „bedient“ werden könnten. Der Kläger hätte daher das Arbeitstempo so zu wählen gehabt, dass im Schnitt die volle geschuldete Arbeitszeit aufgewendet werde. Wenn Zusteller:innen diese durchschnittliche Arbeitszeit dauerhaft und signifikant unterschritten, leide darunter entweder deren Gesundheit oder die Zustellqualität. Der Kläger habe mit seinem Vorgehen weisungswidrig gehandelt, wodurch es zu den Minusstunden gekommen sei. Diese seien bei Beendigung des Dienstverhältnisses entsprechend der Betriebsvereinbarung abgezogen worden.

[9] Das Erstgericht gab der Klage (mit Ausnahme eines Teils des Zinsenbegehrens) statt. Gemäß § 1155 Abs 1 ABGB gebühre dem Arbeitnehmer das Entgelt auch für Dienstleistungen, die nicht zustande gekommen seien, wenn er zur Leistung bereit gewesen, jedoch durch Umstände auf Seiten des Arbeitgebers darin gehindert worden sei. Die mangelnde Auslastung eines Arbeitnehmers sei der Sphäre des Arbeitgebers zuzurechnen. Pkt 9 der BV enthalte keine Gleitzeitvereinbarung „im eigentlichen Sinn“ und sei insoweit ungültig. Außerdem widerspreche der Abzug von Minusstunden dem Grundsatz von Treu und Glauben, da der Kläger aufgrund des Verhaltens der Beklagten davon habe ausgehen dürfen, dass die Zeitschuld auch bei der Beendigung des Dienstverhältnisses nicht „schlagend“ werde.

[10] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten gegen den klagsstattgebenden Teil dieser Entscheidung nicht Folge. Ob im konkreten Fall das AZG zur Anwendung komme, könne dahingestellt bleiben. Nach § 1155 Abs 1 ABGB gebühre dem Dienstnehmer Entgelt auch für Dienstleistungen, die nicht zustande gekommen seien, wenn er zur Leistung bereit gewesen sei und durch Umstände, die auf Seiten des Dienstgebers lägen, daran gehindert worden sei. Diese Bestimmung sei dispositiv. Selbst wenn man die BV als Gleitzeitvereinbarung ansehe, sei diese nach § 879 ABGB sittenwidrig und daher unwirksam, da die Beklagte damit das sie treffende Risiko der Auslastung ihrer Mitarbeiter im Zustelldienst überwälze und ein deutliches Missverhältnis zwischen den damit verfolgten Interessen der Beklagten und den dadurch beeinträchtigten Interessen der Arbeitnehmer vorliege. Dem „Verlust“ von Überstunden und Entgeltansprüchen der Arbeitnehmer aufgrund von Zeitschulden ständen keine nennenswerten Vorteile aus einer gleitenden Arbeitszeit gegenüber. Die Minusstunden seien aber der Sphäre der Beklagten zuzuordnen, da sie dem Kläger keine ausreichende Arbeit zugewiesen habe. Eine zügige Arbeitsweise könne dem Kläger nicht zum Vorwurf gemacht werden. Dass die Arbeit nicht ordnungsgemäß erbracht worden sei, behaupte auch die Beklagte nicht. Damit sei der Klagsbetrag aber zu unrecht abgezogen worden.

[11] Die Revision wurde vom Berufungsgericht zugelassen, weil der Oberste Gerichtshof zur (allfälligen) Sittenwidrigkeit der Gleitzeitregelung laut der österreichweit für zahlreiche Mitarbeiter:innen der Beklagten geltenden Betriebsvereinbarung noch nicht Stellung genommen habe und dieser Frage über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukomme.

[12] Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen dahingehend abzuändern, dass die Klage abgewiesen wird. In eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[13] DerKläger beantragt, die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[14] Die Revision ist aus den vom Berufungsgericht genannten Gründen zulässig, aber nicht berechtigt.

[15] 1. Nach § 1155 Abs 1 Satz 1 ABGB gebührt dem Dienstnehmer auch für Dienstleistungen, die nicht zustande gekommen sind, das Entgelt, wenn er zur Leistung bereit war und durch Umstände, die auf Seite des Dienstgebers liegen, daran verhindert worden ist.

[16] 2. Maßgeblich ist, wessen Sphäre der Grund für das Unterbleiben der Arbeitsleistungzuzurechnen ist. Zur Sphäre des Arbeitgebers gehören generell alle die Dienstverhinderung auslösenden Ereignisse und Umstände, welche die Person des Arbeitgebers, sein Unternehmen, Organisation und Ablauf des Betriebes, die Zufuhr von Rohstoffen, Energien und sonstigen Betriebsmitteln, die erforderlichen Arbeitskräfte, die Auftragslage und Absatzlage sowie die rechtliche Zulässigkeit der betrieblichen und unternehmerischen Tätigkeit betreffen (RIS‑Justiz RS0021631).

[17] 3. In der Literatur werden „Zeitschulden“ beispielsweise dann der Arbeitgebersphäre zugerechnet, wenn das Unterbleiben der Arbeitsleistung auf eine im betrieblichen Interesse liegende Arbeitszeiteinteilung zurückgeht, etwa bei Ausgabe von Dienstplänen (Heilegger in Gasteiger/Heilegger/Klein, AZG7 § 19f Rz 2) oder wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer wegen schlechter Auslastung des Unternehmens aufgrund schwacher Auftragslage zu wenig oft zum Dienst einteilt (Posch/Haas, Endabrechnung – Auswirkung von Gehaltserhöhungen auf Zeitguthaben und Abrechnung von Zeitschulden [Stand August 2023, Lexis Briefings in lexis360.at]; Sabara, ARD 6012/7/2009; vgl auch Kronberger/Kraft, Kompaktes Wissen rund um die Rückzahlung von Arbeitslohn [Teil 2], PVP 2023/38, 140 [141]).

[18] 4. Die Zurechnung zur Sphäre des Arbeitgebers führt dazu, dass der Anspruch auf Entgelt aufrecht bleibt, obwohl keine Arbeitsleistung erbracht wurde. Das bedeutet auch, dass in diesen Fällen eine Rückforderung oder ein Abzug des Entgelts für Minusstunden bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht in Betracht kommt (vgl etwa Schindler in Gruber‑Risak/Mazal [Hrsg], Arbeitsrecht: System- und Praxiskommentar [40. Lfg 2022] Kapitel XX Rz 26, Heilegger in Gasteiger/Heilegger/Klein, AZG7 § 19f Rz 2; Morgenstern, Gehaltsabzug für „Minusstunden“ zulässig? PV‑Info 5/2009, 27).

[19] 5. Resultieren bei Beendigung eines Arbeitsverhältnisses verbleibende Minusstunden dagegen aus einer Gleitzeitvereinbarung, nach der der Arbeitnehmer Beginn und Ende seiner täglichen Arbeitszeit während des Gleitzeitrahmens selbst bestimmen kann, wird das Unterbleiben der Arbeitsleistung in der Regel der Sphäre des Arbeitnehmers zuzurechnen sein, da das Entstehen der Minusstunden auf seine eigenbestimmte Zeiteinteilung zurückzuführen ist (vgl Heilegger in Gasteiger/Heilegger/Klein, AZG7 § 19f Rz 2; Posch/Haas, aaO; Schindler in Gruber‑Risak/Mazal, Arbeitsrecht Kap XX Rz 26; vgl auch Schrank, Arbeitszeit: Kommentar7 [2023] § 4b AZG Rz 89 zur grundsätzlichen Rückforderbarkeit von Zeitschulden). In diesem Sinne führt auch Jöst aus, dass, da die Zeiteinteilung bei der Gleitzeit vom Arbeitnehmer selbst bestimmt werde, er eine Zeitschuld im Regelfall auch zu vertreten haben werde, sodass der Gehaltsabzug prinzipiell gerechtfertigt erscheine (Jöst in Gruber‑Risak/Jöst/Patka [Hrsg], Praxishandbuch Gleitzeit3 [2021] 120). Eine Rückzahlungspflicht bzw Verrechnungsmöglichkeit wird allerdings dann verneint, wenn die Unmöglichkeit des Naturalausgleichs dem Arbeitgeber zuzurechnen ist, etwa bei berechtigtem vorzeitigem Austritt, unberechtigter Entlassung oder Arbeitgeberkündigung, sofern das Einarbeiten der Fehlstunden während der Kündigungsfrist unmöglich oder unzumutbar ist (Schindler in Gruber‑Risak/Mazal, Arbeitsrecht Kap XX Rz 26; Sabara, ARD 6012/7/2009; Lindmayr in Schrank/Lindmayr, Handbuch Beendigung Kap 18 Rz 13).

[20] 6. Zu prüfen ist daher zunächst, wessen Sphäre es zuzurechnen ist, dass beim Kläger die Zeitabrechnung am Ende des Arbeitsverhältnisses Minusstunden aufgewiesen hat. Grundsätzlich hatten die Parteien eine Normalarbeitszeit von 40 Stunden festgelegt. Zusätzlich wurde ein „Gleitzeitdurchrechnungsmodell“ vereinbart. Die Dispositionsmöglichkeit des Klägers aufgrund dieser Vereinbarung beschränkte sich allerdings darauf, innerhalb eines Rahmens von -10/+20 Minuten um einen vorgegebenen Zeitpunkt seinen Arbeitsbeginn festzulegen. Sämtliche anderen Parameter waren von der Beklagten vorgegeben, insbesondere die Zuteilung der zu erledigenden Arbeit (ein bestimmtes Rayon) und das Ende der Arbeitszeit, nämlich die vollständige Erfüllung der zugeordneten Aufgaben. Damit war aber die Dauer der Arbeitsleistung an jedem Tag zwar nicht zeitlich, aber durch die Übertragung der konkreten Arbeitsaufgabe (Zustellung in einem bestimmten Rayon) von der Beklagten vorgegeben und vom Kläger grundsätzlich nicht beeinflussbar.

[21] 7. Die Ausführungen der Beklagten dazu, dass dem Kläger der Vorwurf zu machen sei, die ihm übertragenen Aufgaben „zu schnell“ erledigt zu haben, verkennen, dass der Kläger in erster Linie das Bemühen um die ordnungsgemäße Erfüllung der ihm übertragenen Arbeiten schuldete. Dass er aufgrund seines Arbeitstempos seine Aufgaben unzureichend erfüllt hat oder seine Gesundheit konkret gefährdet hat, behauptet auch die Beklagte nicht. Wenn er – wie die Revision moniert – schnell arbeitete, „um mehr Freizeit zu haben“, mag das richtig sein, ist aber hier nicht entscheidend. Im Übrigen wurde dem Kläger ja schon bei der Einstellung angekündigt, dass es sich deshalb um einen „super Job“ handle. Ein vernünftiges Arbeitstempo soll auch nicht der Verhinderung von Minusstunden, sondern der Einhaltung von Qualitätsstandards dienen.

[22] Die Beklagte selbst geht davon aus, bei der Einteilung der Zustellrayons die durchschnittliche Arbeitszeit eines durchschnittlichen Zustellers mit 40 Stunden zugrunde gelegt zu haben. Wie bei jedem Arbeitsprozess werden aber auch bei der Beklagten manche Arbeitnehmer Aufgaben schneller als andere erledigen. Der im Vorhinein errechnete Zeitrahmen ermöglicht einen effizienteren Einsatz der Arbeitskräfte, führt für sich allein aber nicht dazu, dass Arbeitnehmer die ein etwas anderes als das vom Arbeitgeber berücksichtigte Arbeitstempo einhalten, ihre Arbeitsleistung nicht ordnungsgemäß erbringen. Dass der Kläger nicht langsamer war, kann ihm daher nicht zum Vorwurf gemacht werden.

[23] Da ihm aber von der Beklagten neben dem Abarbeiten seines Rayons keine anderen Aufgaben übertragen wurden und ein „Absitzen“ der Zeit in der Zustellbasis nicht erwünscht war, wurde ihm seitens der Beklagten keine Möglichkeit gegeben, allfällige aus seiner schnelleren Arbeitsweise resultierenden Minusstunden abzuarbeiten. Das Entstehen der Minusstunden ist daher nicht auf eine unzureichende Zeiteinteilung des Klägers zurückzuführen. Vielmehr sind die bei Beendigung des Dienstverhältnisses vorliegenden Minusstunden der Sphäre der Beklagten zuzurechnen, die dem Kläger nur ein klar bestimmtes Arbeitskontingent zur Erledigung zuwies und die Arbeitszeit mit dieser Erledigung begrenzte.

[24] 8. Zwar verweist die Beklagte zu Recht darauf, dass der Entgeltanspruch voraussetzt, dass der Arbeitnehmer zur Leistung bereit war. Der Kläger hat allerdings alle ihm übertragenen Aufgaben ordnungsgemäß erledigt. Damit hat er seine Leistungsbereitschaft der Beklagten gegenüber ausreichend zum Ausdruck gebracht. Die im Zusammenhang mit Arbeitsniederlegung verlangte ausdrückliche Erklärung der Arbeitsbereitschaft (8 ObA 23/05y) lässt sich auf den vorliegenden Fall nicht übertragen.

[25] 9. Richtig ist, wie die Revision ausführt, dass § 1155 ABGB dispositiv ist und daher von den Arbeitsvertragsparteien abbedungen werden kann (zuletzt etwa 9 ObA 52/23x mwN). Eine Änderung des § 1155 ABGB zu Lasten des Arbeitnehmers ist jedoch an § 879 Abs 1 ABGB zu messen (Rebhahn in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKom3 [2018] § 1155 ABGB Rz 6 mwN; Rebhahn/Ettmayer in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.04 § 1155 Rz 4). Die Grenze der Abdingbarkeit stellt somit die Sittenwidrigkeit dar.

[26] Sittenwidrigkeit iSd § 879 ABGB kann jedenfalls nur dann angenommen werden, wenn die Interessenabwägung eine grobe Verletzung rechtlich geschützter Interessen oder bei Interessenkollision ein grobes Missverhältnis zwischen den durch die Handlung verletzten und den durch sie geförderten Interessen ergibt (RS0045886).

[27] In der Literatur wird bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit auf die Höhe des (zeitlichen) Einsatzes, der unvergütet bleiben soll, auf den Umfang, in dem der Arbeitnehmer das Unterbleiben der Dienstleistung beeinflussen kann und auf die Höhe des Entgelts, das auch bei Unterbleiben der Arbeitsleistung zusteht, abgestellt (vgl Rebhahn/Ettmayer in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.04 § 1155 Rz 4). Umgekehrt spricht es nach Rebhahn für die Zulässigkeit des Ausschlusses, wenn der Grund der Störung vom Arbeitgeber nicht oder nur schwer beeinflusst werden kann, wenn sie für Betrieb und Geschäftszweig nicht typisch und daher unvorhersehbar ist und wenn der Ausschluss erst nach einiger Zeit greift (Rebhahn in ZellKomm3 § 1155 ABGB Rz 7).

[28] 10. Im vorliegenden Fall kann letztlich dahingestellt bleiben, ob die in Pkt 9 der BV vorgesehene Abrechnung überhaupt als Abbedingen des § 1155 ABGB zu verstehen ist und ob die BV – unabhängig davon, ob sie dem AZG unterliegt – eine wirksame Gleitzeitvereinbarung darstellt.

[29] Da die Beklagte es im zuvor aufgezeigten Sinn durch die Einteilung der Arbeit und die Vorgabe, dass mit der Erledigung der zugewiesenen Arbeit die Arbeitszeit endet, dem Kläger im Rahmen der Vereinbarung unmöglich machte, allfällige Minusstunden abzuarbeiten und sie selbst trotz Festlegung einer 40‑Stunden‑Woche über die Besorgung des konkreten Zustellrayons hinaus kein Interesse an einer Arbeitsleistung des Klägers hatte, wäre ein Ausschluss des § 1155 ABGB in diesem Umfang nach § 879 Abs 1 ABGB unwirksam. Dieser Fall ist letztlich nicht anders zu beurteilen, als die Einteilung des Arbeitnehmers im Rahmen von vom Dienstgeber vorgegebenen Dienstplänen, die es dem Dienstnehmer unmöglich machen, die vereinbarte Stundenzahl zu erreichen. Im vorliegenden Fall bestand zwar keine Zeitvorgabe, aber eine klare Vorgabe des zu erbringenden Arbeitsumfangs, mit dessen Erledigung die Arbeit begrenzt war.

[30] 11. Die von der Beklagten als fehlend gerügten Feststellungen haben für die rechtliche Beurteilung keine Bedeutung. Ein sekundärer Feststellungsmangel liegt daher nicht vor.

[31] Insgesamt haben die Vorinstanzen daher der Klage zu Recht stattgegeben.

[32] 12. Die Kostenentscheidung gründet auf §§ 41, 50 ZPO.

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