OGH 4Ob101/23s

OGH4Ob101/23s19.12.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Schwarzenbacher und Dr. Parzmayr und die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M., und Mag. Waldstätten als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj P*, geboren am * 2017, *, über die außerordentlichen Revisionsrekurse 1. der Mutter H*, vertreten durch Dr. Günter Tews, Rechtsanwalt in Linz, und 2. des Vaters E*, vertreten durch die Hornek Hubacek Lichtenstrasser Epler Rechtsanwälte OG in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 5. April 2023, GZ 42 R 30/23g‑225 in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0040OB00101.23S.1219.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Familienrecht (ohne Unterhalt), Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

I. Der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters wird hinsichtlich der Ferienkontaktrechte für das Jahr 2023 (abgesehen von den Weihnachtsferien 2023/24) zurückgewiesen.

II. Im Übrigen werden die außerordentlichen Revisionsrekurse mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die getrennt lebenden Eltern üben die Obsorge für ihren Sohn im Volksschulalter gemeinsam aus, seine hauptsächliche Betreuung erfolgt im Haushalt der Mutter.

[2] Das Erstgericht hat

1. den Antrag der Mutter auf Neufestsetzung des Regelkontaktrechts abgewiesen,

2. den Antrag der Mutter auf Übertragung der alleinigen Obsorge abgewiesen,

3. den Antrag des Vaters, die hauptsächliche Betreuung im Haushalt des Vaters festzulegen, abgewiesen,

4. den Antrag des Vaters, das Kontaktrecht in Form einer Doppelresidenz festzulegen, abgewiesen,

5. das Weihnachtsferienkontaktrecht beider Eltern für das Jahr 2022/2023 geregelt,

6. die Weihnachtsferienkontakte ab dem Jahr 2023/2024 festgelegt,

7. die Ferienkontakte der Eltern ab dem Jahr 2023 für die Semesterferien (A.), Osterferien (B.), Sommerferien (C.) und Herbstferien (E.) geregelt,

8. den Antrag der Mutter auf Einholung einer ergänzenden fachlichen Stellungnahme der Familiengerichtshilfe abgewiesen,

9. den Spruchpunkten 5. und 7.A. gemäß § 44 AußStrG vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zuerkannt,

10. die von den angeführten getroffenen Regelungen abweichenden Anträge der Eltern abgewiesen.

[3] Das Rekursgericht wies den Rekurs der Mutter gegen die Punkte 1. (keine Neufestsetzung des Regelkontaktrechts), 2. (keine Übertragung der alleinigen Obsorge), 6. (Weihnachtsferienkontakte ab 2023/2024), 7. (Ferienkontakte ab 2023), 8. (keine Einholung einer ergänzenden Stellungnahme der FGH), und 10. (Abweisung des Mehrbegehrens) als verspätet zurück und gab dem Rekurs des Vaters gegen die Punkte 6. (Weihnachtsferienkontakte ab 2023/2024), 7.A., 7.D. (gemeint: 7.B.) und 7.C. (Ferienkontakte ab 2023) und 10. (Abweisung des Mehrbegehrens) nicht Folge.

[4] Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter zielt auf die ersatzlose Behebung des Zurückweisungsbeschlusses und eine inhaltliche Entscheidung des Rekursgerichts über ihren Rekurs gegen den erstinstanzlichen Beschluss ab.

[5] Der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters will eine Änderung der vorinstanzlichen Entscheidungen zu den Punkten 6. (Weihnachtsferienkontakte ab 2023/2024), 7.A. bis 7.C. (Ferienkontakte ab 2023) erreichen, sodass seinen Anträgen zur Gestaltung der Ferienkontaktrechte vollständig stattgegeben wird.

Rechtliche Beurteilung

[6] Beide Rechtsmittel sind mangels erheblicher Rechtsfragen nicht zulässig.

I. Zum Revisionsrekurs der Mutter

[7] 1. Im Außerstreitverfahren kann die Zurückweisung eines Rekurses als verspätet nur mit Revisionsrekurs unter den Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG bekämpft werden (RS0120565 [T3]). Es muss also im konkreten Fall eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung zu lösen sein.

[8] 2. Die Mutter argumentiert, dass § 35 Abs 5 ZustG unvertretene Parteien gegenüber anwaltlich vertretenen Parteien in gleichheitswidriger Weise benachteilige. Nach dieser Bestimmung sei die elektronische Zustellung spätestens mit dem Abruf des Dokuments bewirkt. Erfolge die Zustellung einer Entscheidung dagegen im Elektronischen Rechtsverkehr (ERV) – typischerweise an einen Parteienvertreter –, so gelte als Zustellzeitpunkt immer der auf das Einlangen in den elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers folgende Werktag, wobei Samstage nicht als Werktage gelten. Ein früherer Abruf der Entscheidung sei im ERV unbeachtlich. Im Ergebnis komme vertretenen Parteien eine um einen, bei Zustellungen an einem Freitag oder vor einem Feiertag, sogar um mehrere Tage längere Rechtsmittelfrist zugute. Dies sei eine unsachliche Schlechterstellung juristischer Laien.

[9] 3. Damit zeigt die Mutter keine erhebliche Rechtsfrage auf.

[10] 3.1. Gerichte können ihre Erledigungen gemäß § 89a Abs 2 GOG an Teilnehmer des ERV auf diesem Weg zustellen. Ist eine Zustellung im ERV nicht möglich, so gestattet§ 89a Abs 3 GOG in gerichtlichen Verfahren elektronische Zustellungen nach den Bestimmungen des 3. Abschnitts des Zustellgesetzes an einen der zugelassenen Zustelldienste vorzunehmen, der die Weiterleitung an die bei ihm registrierten Benutzer vornimmt (3 Ob 11/19t unter Verweis auf VJ‑Info 45/2014 vom 3. 12. 2014).

[11] Gemäß § 35 Abs 1 ZustG hat der Zustelldienst den Empfänger unverzüglich an der von ihm angegebenen E‑Mailadresse davon zu verständigen, dass ein Dokument für ihn zur Abholung bereitliegt und an welcher Internetadresse er es abrufen kann (§ 35 Abs 1 Z 2 ZustG). Wird das Dokument nicht innerhalb von 48 Stunden nach der Verständigung abgeholt, hat eine zweite Verständigung zu erfolgen (§ 35 Abs 2 ZustG). Der Zustelldienst hat das Dokument zwei Wochen zur Abholung bereitzuhalten (§ 35 Abs 4 ZustG). In einem solchen Fall wird den Gerichten als Zustellinformation im VJ‑Register der Status „elektronisch hinterlegt“ angezeigt (3 Ob 11/19t). Die Zustellung derart „hinterlegter“ Dokumente gilt am ersten Tag nach der Versendung der ersten elektronischen Verständigung bewirkt (§ 35 Abs 6 ZustG).

[12] Dieser Gesetzesfiktion zum Zustellzeitpunkt geht jedoch die Bestimmung des § 35 Abs 5 ZustG vor, wonach ein zur Abholung bereitgehaltenes Dokument spätestens mit seiner Abholung als zugestellt gilt. Eine elektronische Abholung des Dokuments bewirkt also eine sofort wirksame Zustellung und löst damit auch die Rechtsmittelfrist aus. Aufgrund der vom Zustelldienst übermittelten Daten wird eine solche Zustellung im VJ‑Register abseits der elektronischen Hinterlegung mit dem Status „elektronisch zugestellt“ angezeigt (3 Ob 11/19t).

[13] 3.2. Die Entscheidung des Erstgerichts wurde der damals unvertretenen Mutter am 22. 12. 2022 gemäß § 35 Abs 5 ZustG elektronisch zugestellt.

[14] Demgemäß ist – wie vom Rekursgericht erkannt – für den an die Wirkung der Zustellung geknüpften Beginn der Rechtsmittelfrist der Mutter gegen den erstinstanzlichen Beschluss nicht auf § 35 Abs 6 ZustG, sondern auf § 35 Abs 5 ZustG abzustellen.

[15] 3.3. Richtig zeigt die Mutter auf, dass bei Zustellungen im ERV der Abruf des Dokuments den Zustellzeitpunkt nicht vorverlegt.

[16] Für den ERV gilt nämlich nach § 89d Abs 2 GOG idF BGBl I 26/2012 als Zustellungszeitpunkt nicht jener Tag, an dem die Daten in den elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers gelangen (so noch § 89d Abs 2 GOG idF BGBl 343/1989), sondern ausnahmslos erst der auf dieses Ereignis folgende Werktag (wozu weder Samstage, Sonn‑ und Feiertage noch der Karfreitag zählen).

[17] Dies liegt daran, dass es für den ERV keine Bestimmung gibt, die mit § 35 Abs 5 ZustG für elektronische Zustellungen vergleichbar wäre. Die „Zustellfiktion“ des § 89d Abs 2 GOG für Teilnehmer am ERV (Zustellung am dem Einlangen in den elektronischen Verfügungsbereich folgenden – Samstage ausnehmenden – Werktag) kann also durch einen früheren Abruf nicht widerlegt werden.

[18] 3.4. Dennochbestehen aus folgenden Gründen keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Regelung des § 35 Abs 5 ZustG zum Zustellzeitpunkt:

[19] § 89d Abs 2 GOG führt auch im Vergleich zu einer herkömmlichen (nicht elektronischen) Zustellung zu einer Fristverlängerung. Bei physischen Zustellungen gilt ein hinterlegtes Schriftstück nämlich ebenfalls schon dann als wirksam zugestellt, wenn es dem Empfänger vor Beginn der Abholfrist ausgefolgt wird (RS0129524).

[20] Genau diese Differenzierung hat der Verfassungsgerichtshof bereits aufgrund eines Gesetzesprüfungsantrags des Obersten Gerichtshofs geprüft und für verfassungsrechtlich zulässig erachtet (VfGH G325/2015 ua): Der Gleichheitssatz setze dem Gesetzgeber zwar auch inhaltliche Schranken, jedoch sei es ihm nicht verwehrt, seine politischen Zielvorstellungen auf die ihm geeignet erscheinende Art zu verfolgen (Pkt 2.3.1). Zwischen der Zustellung gerichtlicher Erledigungen in Form physischer Übermittlung einerseits und im Wege des ERV andererseits bestünden von vornherein Unterschiede im Tatsächlichen, insbesondere, was den Zeitpunkt der (Möglichkeit der) Kenntnisnahme vom Inhalt der Sendung und dessen Feststellbarkeit anlangt (Pkt 2.3.3). Der Gesetzgeber habe offenbar getragen von dem Bestreben, grundsätzlich jenen Tag als Zustellungszeitpunkt festzulegen, an dem regelmäßig davon ausgegangen werden kann, dass der Empfänger von dem zuzustellenden Schriftstück tatsächlich Kenntnis erlangt hat oder zumindest erlangen konnte, bei Zustellungen im ERV nicht schon das bloße Einlangen im elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers genügen lassen, sondern erst den folgenden Werktag als Zustellungszeitpunkt bestimmt. Er nehme auf diese Weise auf einen planbaren, geordneten Kanzlei‑, Büro‑ oder Geschäftsbetrieb bei Rechtsanwälten oder Notaren bzw bei anderen (gemäß § 89c Abs 5 GOG) zur Teilnahme am ERV verpflichteten Institutionen oder auch bei freiwillig am ERV teilnehmenden Personen Rücksicht. Für die tatsächliche Kenntnisnahme von im ERV übermittelter Dokumente bedürfe es nämlich nicht nur entsprechender technischer Vorkehrungen, sondern auch entsprechend geschulten Personals, sodass die Regelung des Zustellungszeitpunkts in § 89d Abs 2 GOG – ausgehend von einer Durchschnittsbetrachtung – nicht unsachlich sei. Der dem Gesetzgeber zustehende rechtspolitische Gestaltungs-spielraum sei damit nicht überschritten worden.

[21] 3.5. Die tragenden Argumente der Analyse des Verfassungsgerichtshofs zur Zulässigkeit der Fristverlängerung nur bei ERV‑Zustellungen und damit ihrer Begünstigung gegenüber postalischen Zustellungen gelten gleichermaßen auch für die Regelung elektronischer Zustellungen.

[22] Bei einer ERV‑Zustellung – typischerweise – an einen beruflichen Parteienvertreter ist bei einer Durchschnittsbetrachtung ab Freitag Nachmittag oder Abend davon auszugehen, dass das Dokument erst bei Wiederaufnahme des Geschäftsbetriebs am Montag in der Früh abgerufen werden kann. Bis der eigentliche Adressat – und damit der Entscheidungsträger für die weitere Vorgangweise im Verfahren – vom Dokument Kenntnis erlangt, sind typischerweise sogar noch weitere Schritte nötig, nämlich die Vorlage des Dokuments an den zuständigen juristischen Sachbearbeiter des Parteienvertreters und die Weiterleitung desselben an den Mandanten.

[23] Dass es bei privaten Empfängern elektronischer Zustellungen an Wochenenden und/oder Feiertagen zu ebensolchen Verzögerungen kommt, kann bei einer Durchschnittsbetrachtung nicht angenommen werden. E‑Mails, die den persönlichen Lebensbereich betreffen, werden erfahrungsgemäß je nach Lebensrhythmus und Verpflichtungen zu allen möglichen Tages‑ und Nachtzeiten abgerufen: am Computer im Büro oder erst nach der Arbeit in einem Umfeld ohne elektronische Kommunikationsmittel; auf dem Handy während der Bewältigung des Arbeitswegs in einem öffentlichen Verkehrsmittel oder erst nach Zurücklegung des Weges im Individualverkehr; tagsüber zuhause in einem ohnedies ruhigen Umfeld oder erst, nachdem Kinder zu Bett gebracht oder andere pflegebedürftige Personen oder Tiere versorgt wurden; vielleicht auch gerade am Wochenende, wo für viele Menschen berufliche Verpflichtungen wegfallen.

[24] 4. Der Revisionsrekurs der Mutter weckt damit keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 35 Abs 5 ZustG und zeigt auch sonst keine erhebliche Rechtsfrage auf.

II. Zum außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters

[25] 1. Der Vater sieht durch die Kontaktrechtsregelung der Vorinstanzen das Kindeswohl beeinträchtigt, weil diese nicht unmissverständlich, widerspruchslos und vollständig sei. Das Kind habe Anspruch auf eine Regelung, die keinen Interpretationsspielraum lasse, weil sonst wieder Dissens der Eltern über die Auslegung der Beschlüsse im Einzelfall drohe.

[26] 2. Nach ständiger Rechtsprechung setzt jedes Rechtsmittel – auch im Außerstreitverfahren (RS0006598) – eine Beschwer voraus, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel noch fortbestehen muss; andernfalls ist das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen (RS0041770; RS0006880). Diese Grundsätze gelten auch für ein zeitlich überholtes Kontaktrecht (1 Ob 167/21x; RS0002495 [T2]; RS0006880 [T10, T15, T16]; RS0041770 [T33, T36]; vgl RS0006526 [T1]).

[27] Soweit die Entscheidungen der Vorinstanzen das Kontaktrecht des Vaters zu Zeiten betreffen, die inzwischen verstrichen sind, fehlt seinem Rechtsmittel die Beschwer, weil es den Zweck nicht mehr erreichen kann.

[28] 3. Im Übrigen zeigt der Revisionsrekurs des Vaters keine erheblichen Rechtsfragen auf.Welche Obsorge‑ und Kontaktrechtsregelungen dem Kindeswohl am besten entsprechen, kann nur aufgrund der Umstände des Einzelfalls geprüft werden. Eine erhebliche Rechtsfrage stellt sich daher in der Regel nur, wenn die Vorinstanzen bei der Beurteilung ihren Ermessensspielraum verlassen und leitende Rechtsprechungsgrundsätze verletzt haben (vgl RS0007101 [T20]).

[29] Dies ist hier nicht der Fall. Das Rekursgericht hat nachvollziehbar dargelegt, wie die Kontaktregelung des Erstgerichts in den vom Vater angesprochenen Konstellationen zu verstehen ist und dass sie dem Kindeswohl entspricht.

[30] An dieser Stelle sei auch betont, dass es gar nicht möglich ist, eine Regelung zu schaffen, die jede Eventualität vorwegnimmt und jede eigenständige Koordination zwischen den Eltern überflüssig werden lässt. So würde auch die vom Vater bevorzugte Regelung, dass alle seine Ferienkontakte durch Abgabe des Sohnes am ersten Schultag in der Schule enden sollen, etwa in jenen Fällen versagen, in denen das Kind zu Ferienende krank ist oder etwa aufgrund eines Lausbefalls die Schule nicht besuchen darf.

[31] Eine Regelung ohne jeden Interpretationsspielraum ist daher entgegen der Rechtsansicht des Vaters nicht erwartbar.

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