European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0060OB00147.23W.1023.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Begründung:
[1] Für die 2012 geborene S*, deren Eltern nicht verheiratet sind bzw waren, war die Mutter bisher mit der Obsorge allein betraut.
[2] Die Eltern trennten sich, als S* ca eineinhalb Jahre alt war. Die Kontakte regelten sie nicht fix, sondern vereinbarten diese spontan. Das Kind war öfters auch mehrmals die Woche beim Vater und übernachtete auch dort. Zu einem jähen Kontaktabbruch kam es jedoch, nachdem die damals Fünfjährige dem Vater am 21. 4. 2017 von unangemessenen Berührungen und Aussagen (Einführen eines Fingers in den Po, „schönes Popschi“) eines TCM‑Praktikers erzählt hatte, zu dem die Mutter das Kind zweimal in der Woche brachte. Der Vater erstattete in Folge eine Gefährdungsmeldung beim Jugendamt und brachte danach auch den Antrag auf Obsorge beider Eltern ein. Die Kontakte zwischen S* und dem Vater fanden danach jahrelang nur im Besuchscafé statt, dies unter anderem deshalb, weil sich das weitere Verfahren nicht mehr um die Vorfälle beim TCM‑Praktiker drehte, sondern um die beim Vater diagnostizierte bipolare Störung, aus der die gerichtliche Sachverständige eine eingeschränkte Erziehungsfähigkeit des Vaters in ihrem Gutachten vom 19. 10. 2017 abgeleitet hatte. Die Kontakte im Besuchscafé verliefen positiv und harmonisch. Im Jahr 2020 wurden die Kontakte schließlich wieder unbegleitet ausgeübt, wobei die Übergaben zwischen den Eltern direkt erfolgten und sich äußerst schwierig gestalteten, weil sich das Kind meist dagegen wehrte, mit dem Vater mitzugehen. Es fanden daher des öfteren Kontakte zu dritt statt. Schließlich etablierte sich im zweiten Halbjahr 2020 die Übergabemodalität so, dass das Kind vom Vater am Freitag Nachmittag vom Kinderbeistand nach ihrer dortigen Sitzung abgeholt wurde und bis 20:00 Uhr beim Vater war. Die Kontakte fanden oft nicht in der gesamten Dauer statt, weil sich das Kind wünschte, früher zur Mutter nach Hause gebracht zu werden. Der Vater versuchte zwar, S* davon zu überzeugen, die gesamte Dauer mit ihm zu verbringen, entsprach jedoch deren Wunsch, sie früher zurückzubringen, wenn sie darauf insistierte. Wenn ein Termin entfiel, schafften es die Eltern bislang außergerichtlich, einen Ersatztermin zu vereinbaren. So wollte das Kind etwa am 23. 12. 2022 nach ihrem Termin beim Kinderbeistand nicht mit dem Vater mitgehen; in der Folge vereinbarten die Eltern einen Kontakt von S* beim Vater in den Weihnachtsferien.
[3] Weiters einigten sich die Eltern in der Verhandlung vom 17. 1. 2023 darauf, gemeinsam eine Familientherapie mit dem Kind zu absolvieren. Dazu übermittelte die Mutter zwei Vorschläge von möglichen Instituten an den Vater, der in Aussicht stellte, ebenfalls zwei Vorschläge an die Mutter zu übermitteln. Die Eltern vereinbarten, dass jeder aus dem ihm übermittelten Vorschlag eine Person bzw Institution auswählen und dort in Folge je ein Erstgespräch absolviert werde. Die Eltern waren zuversichtlich, sich nach dem Erstgespräch einvernehmlich und außergerichtlich auf diejenige Person bzw Institution einigen zu können, die die Therapie durchführen sollte.
[4] Aus diesen Beispielen schloss das Erstgericht, dass die Eltern dazu in der Lage sind, bei konkreten Themen miteinander zu kommunizieren und auch Lösungen zu finden. Während des laufenden Gerichtsverfahrens war die Kommunikation der Eltern jedoch auch dadurch geprägt, für das Verfahren Beweise zu sammeln. Deshalb wurde viel über E‑Mails kommuniziert, um die E‑Mails dann im Verfahren vorlegen zu können. Laut psychiatrischem Sachverständigengutachten vom 16. 7. 2019 sind beide Eltern aus psychiatrischer Sicht in der Lage, das körperliche Wohl und die Gesundheit des Kindes zu wahren und die Ausübung der unmittelbaren Aufsicht zu gewährleisten sowie die Entfaltung der körperlichen, geistigen, seelischen und sittlichen Kräfte, ihrer Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten und schulische Ausbildung zu fördern. Beim Vater findet sich im Langzeitverlauf eine emotionale und affektive Instabilität im Rahmen von Belastungssituationen (Anpassungsproblematik), im Zeitpunkt der Untersuchung durch den Sachverständigen lag jedoch keine psychiatrische Störung von Krankheitswert vor.
[5] S* besucht die 4. Klasse Volksschule des *, sie lernt singen, tanzen, Ballett und steht schulisch unter Leistungsdruck. Sie wird von allen Beteiligten als belastet wahrgenommen. Ihre Mutter berichtet von Einschlafproblemen, Albträumen, dass sie mit den Zähnen im Schlaf knirsche und sich in die Faust beiße, um die emotionalen Spannungszustände abzubauen. Weiters berichtet die Mutter von regressiven (kleinkindhaft anmutenden) Verhaltensweisen des Kindes, insbesondere nach der Übernachtung beim Vater im August 2022. Der Loyalitätskonflikt bei S* ist vorhanden und belastet sie wesentlich und über einen langen Zeitraum.
[6] Das Kind hat auch eine tragfähige Beziehung zum Vater, sie befürwortet prinzipiell die Kontakte; diese wurden auf expliziten Wunsch des Kindes von Freitag Nachmittag auf Samstag verlegt. S* wünscht einen regelmäßigen Kontakt zum Vater. Sie signalisiert jedoch der Mutter gegenüber, keine Kontakte mit dem Vater zu wollen, was zur Verschärfung der Konfliktlage zwischen den Eltern führt.
[7] Die Mutter ist bemüht, die Kontakte zwischen Kind und Vater zu ermöglichen. Vor Gericht äußerte S* mehrmals in Briefen, sie wünsche, dass die Eltern aufhören zu streiten.
[8] Am 23. 5. 2017 stellte der Vater den Antrag auf Obsorge beider Eltern. Er wolle unabhängig von dem Entgegenkommen der Mutter Informationen bei Schule oder Ärzten einholen können und die Lehrerinnen des Kindes kennenlernen. Er strebe eine weitere Ausdehnung der Kontakte an, sei erziehungsfähig und habe eine tragfähige Beziehung mit dem Kind sowie eine ausreichende Kommunikationsbasis mit der Mutter.
[9] Die Mutter sprach sich dagegen aus, erklärte sich aber im Gegenzug dazu einverstanden, dem Vater Vollmachten auszustellen, die es ihm etwa ermöglichen würden, an einem Elternsprechtag teilzunehmen oder Informationen bei Ärzten einzuholen. Die Kommunikationsfähigkeit der Eltern sei eingeschränkt und nicht tragfähig. Die Eltern seien nicht in der Lage, gemeinsame Lösungen zu finden. Dieser Zustand belaste das Wohl des Kindes.
[10] Die Familien- und Jugendgerichtshilfe führte in der fachlichen Stellungnahme vom 31. 8. 2022 aus, es sprächen keine Gründe gegen die Obsorge beider Eltern.
[11] Das Erstgericht übertrug die Obsorge für S* auch auf den Vater, sodass sie nunmehr beiden Eltern zukomme. Den hauptsächlichen Aufenthalt bestimmte das Erstgericht bei der Mutter. Nach oberstgerichtlicher Rechtsprechung solle die Betrauung beider Eltern mit der Obsorge den Regelfall darstellen. Maßgeblich sei dabei das dem Willen der Eltern übergeordnete Kindesinteresse, wobei ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit der Eltern Voraussetzung sei. Der Vater sei erziehungsfähig, es bestehe ein Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit zwischen den Eltern. Aus dem festgestellten Sachverhalt ließen sich insbesondere keine Umstände ableiten, die zu einem Obsorgeentzug des Vaters führten, was im Umkehrschluss bedeute, dass nichts gegen die gemeinsame Obsorge beider Eltern spreche.
[12] Das Rekursgericht änderte den Beschluss dahin ab, dass es den Antrag des Vaters auf gemeinsame Obsorge abwies. Es stützte seine Erwägungen für die Abänderung ausschließlich auf Passagen der erwähnten fachlichen Stellungnahme der Familien- und Jugendgerichtshilfe vom 31. 8. 2022 und griff dabei folgende Umstände heraus: Der Vater habe selbst gegenüber der Familiengerichtshilfe betont, dass die Eltern zwar auf der formellen Ebene nett und freundlich miteinander redeten, unterschwellig aber zwischen ihnen ein Konflikt vorhanden sei, der auf gegenseitiger „Verständnislosigkeit“ beruhe. Auch die Mutter habe angegeben, die Wahrnehmungen der Eltern gingen auseinander, sie fänden gemeinsam keinen guten Weg. Die Eltern fielen schnell in alte Konfliktmuster zurück. Das Rekursgericht könne sich daher der Rechtsansicht des Erstgerichts nicht anschließen. S* sei seit sechs Jahren damit konfrontiert, dass ihre Eltern Ereignisse in ihrem Leben diametral anders schilderten und dies vor Gericht auch noch nach Jahren immer wieder thematisierten. Die Anordnung einer gemeinsamen Obsorge sei daher hier „bedauerlicherweise“ (noch) nicht möglich.
Rechtliche Beurteilung
[13] Der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters, mit dem er die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Beschlusses anstrebt, ist zulässig und berechtigt.
[14] 1. Die gemeinsame Obsorge beider Eltern kommt nur dann in Frage, wenn ein Mindestmaß an Kooperationsbereitschaft vorhanden ist und beide Elternteile bereit und in der Lage sind, an der gemeinsamen Erfüllung der mit der Obsorge verbundenen Aufgaben mitzuwirken (RS0130248 [T2]). Die für eine beiderseitige Obsorge vorauszusetzende Beteiligung beider Eltern an der Betreuung des Kindes erfordert für eine Teilnahme an den Betreuungsaufgaben einen Mindestkontakt des jeweiligen Elternteils zum Kind (RS0128812 [T23]). Um Entscheidungen gemeinsam im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und einen Entschluss zu fassen. Es kommt daher darauf an, ob zumindest in absehbarer Zeit mit einer entsprechenden Gesprächsbasis gerechnet werden kann (RS0128812 [T1, T2, T4]). Der Informationsaustausch dient dazu, Erziehungs- und Betreuungsmaßnahmen gemeinsam zu besprechen, wobei die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes möglichst übereinstimmend zu beurteilen sind; die darauf beziehenden Entscheidungen der Elternteile dürfen sich also nicht regelmäßig widersprechen (RS0132055 [T2]; RS0128812 [T25]). Die beiderseitige Obsorge soll der Regelfall sein (vgl RS0128812 [T20]).
[15] 2. Das Rechtsmittel zeigt zutreffend auf, dass die vom Rekursgericht herangezogenen Passagen aus der fachlichen Stellungnahme der Familien- und Jugendgerichtshilfe keine Deckung in den Feststellungen des Erstgerichts finden. Überdies hat sich das Rekursgericht darüber hinweggesetzt, dass die Familien- und Jugendgerichtshilfe trotz der von ihr angesprochenen Probleme (die es in einem vor Gericht geführten Pflegschaftsverfahren zwangsläufig immer gibt) zum abschließenden Ergebnis gekommen ist, dass keine Gründe gegen die Obsorge beider Eltern sprechen.
[16] Die vom Rekursgericht für seine Rechtsansicht zitierten Entscheidungen 3 Ob 37/16m und 8 Ob 40/15p sind – worauf das Rechtsmittel des Vaters ebenfalls hinweist – insofern nicht einschlägig, als dort nach den jeweiligen Feststellungen die Beziehungen zwischen den Eltern (3 Ob 37/16m) bzw zwischen Vater und Kind (8 Ob 40/15p) wesentlich konfliktbeladener waren als im vorliegenden Fall.
[17] 3. Soweit die Mutter in der vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsrekursbeantwortung die Situation zwischen den Eltern – zusammengefasst – als so konfliktbeladen darstellt, dass zwischen ihnen keine ausreichende Kommunikationsbasis bestehe, gehen diese Ausführungen nicht vom festgestellten Sachverhalt aus.
[18] 4. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass ausgehend von den erstgerichtlichen Feststellungen hier die Voraussetzungen für die gemeinsame Obsorge beider Eltern vorliegen, weshalb der erstgerichtliche Beschluss wiederherzustellen war.
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