OGH 10ObS100/23p

OGH10ObS100/23p28.9.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Markus Schrottmeyer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*, vertreten durch Sailer & Schön Rechtsanwälte in Bruck an der Leitha, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm, Dr.in Simone Metz, LL.M., und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Ausgleichszulage, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 20. April 2023, GZ 8 Rs 26/23 m‑36, womit das Urteil des Landesgerichts Korneuburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 17. Oktober 2022, GZ 7 Cgs 189/21d‑31, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00100.23P.0928.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Sozialrecht, Unionsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

I. Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Abweisung des Klagebegehrens, die beklagte Partei sei schuldig der klagenden Partei ab 18. Oktober 2022 eine Ausgleichszulage in gesetzlicher Höhe zu gewähren, wendet, zurückgewiesen.

II. Im Übrigen, nämlich im Umfang des den Anspruch auf Ausgleichszulage im Zeitraum von 1. September 2020 bis 17. Oktober 2022 betreffenden Klagebegehrens, wird der Revision Folge gegeben und die Entscheidung des Berufungsgerichts dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 502,70 EUR (darin 83,78 EUR USt) bestimmten Kosten der Revision binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob der Aufenthalt der Klägerin im Inland rechtmäßig im Sinn des § 292 Abs 1 ASVG ist.

[2] Die 1956 geborene Klägerin ist slowakische Staatsbürgerin. Sie ist verwitwet, ihr Sohn lebt in der Slowakei, ihre Tochter in Österreich. Sie bezog von September 2003 bis Jänner 2016 in der Slowakei eine Invalidenrente, seit 1. Februar 2016 bezieht sie in der Slowakei eine Alterspension.

[3] Die Klägerin war in Österreich von 1. August 2019 bis 18. August 2020 bei der * GmbH tätig und verdiente dabei ein Entgelt von etwa 560 EUR brutto monatlich. Sie erwarb daher in Österreich 13 Beitragsmonate einer Pflichtversicherung.

[4] Die Klägerin hat ihren Hauptwohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt seit 19. Jänner 2015 in Österreich in einer Wohnung, die jeweils zur Hälfte in ihrem Eigentum und jenem ihrer Tochter steht. Am 30. Mai 2022 wurde der Klägerin gemäß § 53a Abs 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG)der Daueraufenthalt bescheinigt.

[5] Mit Bescheid vom 25. Oktober 2021 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin vom 25. August 2020 auf Gewährung einer Ausgleichszulage ab.

[6] Mit ihrer dagegen gerichteten Klage begehrte die Klägerin erkennbar, die Beklagte schuldig zu erkennen, ihr ab 1. September 2020 eine Ausgleichszulage im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren.

[7] Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Die Klägerin habe kein Recht auf Daueraufenthalt erworben. Die Klägerin halte sich mangels ausreichender Existenzmittel nicht rechtmäßig im Sinn der Richtlinie 2004/38/EG („Unionsbürger‑RL“) in Österreich auf und habe dies auch die letzten fünf Jahre nicht getan. Sie könne sich auch nicht auf den vorzeitigen Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt gemäß Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger‑RL berufen, da sie sich auch nicht für einen Zeitraum von drei Jahren rechtmäßig in Österreich aufgehalten habe. Darüber hinaus habe die rund einjährige Beschäftigung der Klägerin offenkundig nur den Zweck gehabt, durch einen Pensionsanspruch einen Krankenversicherungsschutz in Österreich zu erlangen, dies unter der Annahme, damit einen Anspruch auf Ausgleichszulage zu begründen. Dabei handle es sich aus unionsrechtlicher Sicht um Rechtsmissbrauch.

[8] Das Erstgerichtverpflichtete die Beklagte zur Zahlung einer Ausgleichszulage von 368,45 EUR monatlich von 1. September 2020 bis 31. Dezember 2020, von 386,68 EUR monatlich von 1. Jänner 2021 bis 31. Dezember 2021 und von 409,49 EUR monatlich von 1. Jänner 2022 bis 17. Oktober 2022. Es stellte den eingangs – soweit für das Revisionsverfahren relevant – gekürzt wiedergegebenen Sachverhalt fest. Die Klägerin habe in den ersten fünf Jahren ihres Aufenthalts in Österreich über ausreichende Existenzmittel und einen entsprechenden Krankenversicherungsschutz verfügt. Es würden keine Hinweise darauf vorliegen, dass der Umzug nach Österreich lediglich zum Zweck des Leistungsbezugs erfolgt sei. Über das Klagebegehren sei bis zum Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung abzusprechen.

[9] DasBerufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge, änderte das Ersturteil im klageabweisenden Sinn ab und ließ die Revision nicht zu. Ein zum Bezug von Sozialleistungen berechtigender Aufenthalt der Klägerin in Österreich liege nicht vor. Erst nach fünf Jahren rechtmäßigem und ununterbrochenem Aufenthalt im Bundesgebiet werde das Recht auf Daueraufenthalt erworben; ab dann sei das Vorliegen weiterer Voraussetzungen nicht mehr zu prüfen. Die Klägerin habe nicht durchgehend über einen Zeitraum von fünf Jahren über ausreichende Existenzmittel verfügt, um von einem Daueraufenthaltsrecht (§ 53a NAG) und damit von einem rechtmäßigen Aufenthalt im Inland im Sinn des § 292 Abs 1 ASVG ausgehen zu können.

[10] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revisionder Klägerin mit dem Antrag auf Abänderung der Entscheidung des Berufungsgerichts im Sinn der Stattgabe des Klagebegehrens; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[11] In der – vom Obersten Gerichtshof freigestellten – Revisionsbeantwortung beantragt die Beklagte, der Revision nicht Folge zu geben; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

[12] Die Revision ist teilweise (hinsichtlich eines Anspruchs auf Ausgleichszulage ab 18. Oktober 2022) mangels Beschwer unzulässig und im Übrigen (hinsichtlich eines Anspruchs auf Ausgleichszulage von 1. September 2020 bis 17. Oktober 2022) zulässig, weil dem Berufungsgericht eine aufzugreifende Fehlbeurteilung unterlief; insofern ist sie auch berechtigt.

Zu I.:

[13] I.1. Die Klägerin begehrte erkennbar die Gewährung einer Ausgleichszulage in gesetzlicher Höhe ab dem 1. September 2020. Das Erstgericht gab dem Klagebegehren für den Zeitraum von 1. September 2020 bis 17. Oktober 2022 statt, unterließ es allerdings, über nach diesem Zeitraum liegende Ansprüche abzusprechen, obwohl es den Anspruch dem Grunde nach als gegeben und der Höhe nach zumindest bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz als bezifferbar ansah. Die Frage eines Vorgehens nach § 89 Abs 2 ASGG stellte sich nicht, weil das Klagebegehren nicht in einer zahlenmäßig noch nicht bestimmten Höhe gerechtfertigt war. Daher hätte das Erstgericht auch über die noch nicht fälligen Beträge – bei bisherigen Einkünften in unterschiedlicher Höhe allenfalls in Form eines Vorschusses – absprechen müssen (§ 89 Abs 1 ASGG; in diesem Sinn auch 10 ObS 262/93 SSV‑NF 8/107). Aus der Entscheidung des Erstgerichts ist jedoch der Wille, über nach dem Schluss der Verhandlung liegende Zeiträume nicht abzusprechen, unzweifelhaft zu erkennen.

[14] I.2. Wurde gegen die Nichterledigung eines Sachantrags (hier dem Begehren der Klägerin auf Leistung einer Ausgleichszulage nach dem 17. Oktober 2022) weder durch Ergänzungsantrag nach § 423 ZPO noch durch Berufung nach § 496 Abs 1 Z 1 ZPO Abhilfe gesucht, scheidet dieser Anspruch aus dem Verfahren aus (RS0041490; RS0039606; RS0041503). Das Berufungsgericht hat daher über den nicht mehr verfahrensgegenständlichen Teil des Klagebegehrens nicht entscheiden dürfen.

[15] I.3. Wird das Urteilsbegehren im abweisenden Spruch des Gerichts überschritten, das heißt mehr abgewiesen als begehrt wurde, liegt kein Verstoß gegen § 405 ZPO und kein Verfahrensmangel nach § 503 Z 2 ZPO vor; der fehlerhafte Spruch geht insoweit ins Leere, ist also wirkungslos (RS0041130). Die Abweisung des nicht mehr verfahrensgegenständlichen Teils des Klagebegehrens durch das Berufungsgericht entfaltete in diesem Umfang keine Wirkungen und griff daher auch nicht in die Rechtsstellung der Klägerin nachteilig ein.

[16] I.4. Nach der ständigen Rechtsprechung setzt jedes Rechtsmittel eine Beschwer voraus, weil es nicht Aufgabe der Rechtsmittelinstanzen ist, rein theoretische Fragen zu entscheiden (RS0002495). Das erfordert grundsätzlich sowohl formelle als auch materielle Beschwer (RS0041868). Letztere liegt vor, wenn der Rechtsmittelwerber in seinem Rechtsschutzbegehren durch die angefochtene Entscheidung unmittelbar beeinträchtigt wird, er also ein Bedürfnis auf Rechtsschutz gegenüber der angefochtenen Entscheidung hat (RS0041746), weil in seine Rechtssphäre nachteilig eingegriffen wird (RS0118925). Ist das nicht der Fall, ist das Rechtsmittel auch dann zurückzuweisen, wenn die Entscheidung formal vom Antrag abweicht (RS0041868 [T15]; RS0041770 [T71]).

[17] Kann ein Rechtsmittel seinen eigentlichen Zweck, die Rechtswirkungen der bekämpften Entscheidung durch eine Abänderung oder Aufhebung zu verhindern oder zu beseitigen, nämlich nicht (mehr) erreichen, fehlt das notwendige Rechtsschutzinteresse (RS0002495 [T43, T78]).

[18] In Bezug auf den Teil des Klagebegehrens, der nach dem 17. Oktober 2022 liegende Zeiträume betrifft und aus dem Verfahren ausgeschieden ist, fehlt der Revision der Klägerin somit die Beschwer. Insoweit ist sie folglich zurückzuweisen.

Zu II.:

[19] II.1. Die Klägerin macht in der Revision geltend, dass die Voraussetzung eines rechtmäßigen Aufenthalts nach § 292 Abs 1 ASVG erfüllt sei. Durch Sparen in ihrer berufstätigen Vergangenheit, intelligente Investitionen und eine sehr genügsame Lebensweise habe sie über ausreichende Existenzmittel verfügt und sei nicht auf Sozialleistungen des Staats angewiesen gewesen. Außerdem habe sie das Recht auf Daueraufenthalt gemäß § 53a Abs 3 Z 1 NAG erworben, weil sie seit mehr als zwölf Monaten in Österreich gearbeitet und seit 2015 in Österreich gewohnt habe.

Dazu wurde erwogen:

[20] II.2.1. Nach § 292 Abs 1 ASVG hat der Pensionsberechtigte Anspruch auf Ausgleichszulage, solange er seinen rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich hat. Durch das Abstellen auf den „rechtmäßigen Aufenthalt“ soll ein Gleichklang der Ausgleichszulagenregelung mit dem europäischen und österreichischen Aufenthaltsrecht hergestellt werden (10 ObS 53/21y SSV‑NF 35/51; 10 ObS 159/20k SSV‑NF 35/10).

[21] II.2.2. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat die österreichische Ausgleichszulage in der Entscheidung C‑160/02 , Skalka [ECLI:EU:C:2004:269], als „beitragsunabhängige Sonderleistung" im Sinn des Art 70 VO (EG) 883/2004 (und nicht als Sozialhilfeleistung im Sinn von „sozialer und medizinischer Fürsorge“) qualifiziert. Die Ausgleichszulage wurde – so wie die deutschen Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II („Hartz IV“) – gemäß Art 70 Abs 2 Buchstabe c VO (EG) 883/2004 in den Katalog in Anhang X dieser Verordnung eingetragen. Nach der Rechtsprechung des EuGH schließt die Einstufung einer Leistung wie der österreichischen Ausgleichszulage als „beitragsunabhängige Sonderleistung“ im Sinn des Art 70 VO (EG) 883/2004 jedoch nicht aus, dass diese Leistung gleichzeitig auch unter den Begriff der Sozialleistungen im Sinn der Unionsbürger‑RL fallen kann, sodass deren Art 24 zur Anwendung kommt (EuGH C‑299/14 , García-Nieto ua [ECLI:EU:C:2016:114]; C‑67/14 , Alimanovic [ECLI:EU:C:2015:597]; C‑333/13 , Dano [ECLI:EU:C:2014:2358]; C‑140/12 , Brey [ECLI:EU:C:2013:565]).

[22] II.2.3. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt, der grundlegende Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu sein. Jeder Unionsbürger kann sich daher in allen Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art 18 AEUV) berufen, das auch in Art 4 VO (EG) 883/2004 und in Art 24 Unionsbürger‑RL konkretisiert wird. Diese Situationen umfassen etwa die Ausübung des von Art 21 AEUV gewährten Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, vorbehaltlich der Beschränkungen und Bedingungen, die ua auch in der Unionsbürger‑RL festgelegt sind. Diese Richtlinie sieht hinsichtlich des Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat ein abgestuftes System vor, das im Recht auf Daueraufenthalt mündet (vgl EuGH C‑411/20 , Familienkasse Niedersachsen-Bremen [ECLI:EU:C:2022:602] Rn 28 ff; C‑424/10 , C‑425/10 , Ziolkowski und Szeja [ECLI:EU:C:2011:866] Rn 38).

[23] II.2.3.1. Erstens beschränkt Art 6 Unionsbürger‑RL für Aufenthalte bis zu drei Monaten die für das Aufenthaltsrecht geltenden Bedingungen oder Formalitäten auf das Erfordernis des Besitzes eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses. Art 14 Abs 1 dieser Richtlinie erhält das Aufenthaltsrecht für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen aufrecht, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen (EuGH C‑411/20 , Familienkasse Niedersachsen-Bremen [ECLI:EU:C:2022:602] Rn 31). Abweichend vom Recht auf Gleichbehandlung nach Art 24 Abs 1 Unionsbürger‑RL ist der Aufnahmemitgliedstaat dementsprechend auch nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während der längeren Dauer der Arbeitssuche (Art 14 Abs 4 lit b Unionsbürger‑RL) einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren (Art 24 Abs 2 Unionsbürger‑RL).

[24] II.2.3.2. Zweitens ist bei einem Aufenthalt von mehr als drei Monaten die Ausübung des Aufenthaltsrechts von den Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 Unionsbürger‑RL abhängig, und nach Art 14 Abs 2 Unionsbürger‑RL steht Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen dieses Recht nur so lange zu, wie sie diese Voraussetzungen erfüllen. Insbesondere dem Erwägungsgrund 10 der Unionsbürger‑RL ist zu entnehmen, dass diese Voraussetzungen ua verhindern sollen, dass diese Personen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen (EuGH C‑709/20 , The Department for Communities in Northern Ireland [ECLI:EU:C:2021:602] Rn 76; C‑424/10 , C‑425/10 , Ziolkowski und Szeja [ECLI:EU:C:2011:866] Rn 39).

[25] II.2.3.3. Drittens erwirbt jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig (EuGH C‑147/11 , C‑148/11 , Czop und Punakova [ECLI:EU:C:2012:538]) fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, gemäß Art 16 Abs 1 Unionsbürger‑RL ein    Daueraufenthaltsrecht, das keinen Bedingungen mehr unterworfen ist (vgl Erwägungsgrund 18 der Unionsbürger‑RL). Abweichend davon haben nach Art 17 Abs 1 Unionsbürger‑RL bestimmte, dort näher bezeichnete Personen bereits vor Ablauf des ununterbrochenen Zeitraums von fünf Jahren das Recht auf Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat. Soweit hier von Interesse, gehören dazu nach Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger‑RL Arbeitnehmer oder Selbständige, die zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben das in dem betreffenden Mitgliedstaat für die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlich vorgesehene Alter erreicht haben, oder Arbeitnehmer, die ihre abhängige Erwerbstätigkeit im Rahmen einer Vorruhestandsregelung beenden, sofern sie diese Erwerbstätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat mindestens während der letzten zwölf Monate ausgeübt und sich dort seit mindestens drei Jahren ununterbrochen aufgehalten haben.

[26] II.3. Die Klägerin behauptet ein Recht auf Daueraufenthalt und stützt sich in der Revision erkennbar einerseits auf Art 16 Abs 1 Unionsbürger‑RL und andererseits auf § 17 Abs 1 lit a Unionsbürger‑RL.

[27] Das Berufungsgericht verneinte einen rechtmäßigen Aufenthalt der Klägerin in den letzten fünf Jahren, weil sie in dieser Zeit nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt habe, und bezog sich damit (nur) auf Art 16 Unionsbürger‑RL. Diese in der Revision (auch) bekämpfte Beurteilung ist aber nicht entscheidungswesentlich, weil sich die Klägerin zutreffend auf ein – vom Berufungsgericht nicht geprüftes – Recht auf Daueraufenthalt nach Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger‑RL stützen kann.

[28] II.3.1. Die dort enthaltenen zeitlichen Voraussetzungen – die Ausübung einer Erwerbstätigkeit während der letzten zwölf Monate einerseits und ein ununterbrochener Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat seit mindestens drei Jahren andererseits – gelten auch für Arbeitnehmer (wie die Klägerin), die zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben das in diesem Mitgliedstaat für die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlich vorgesehene Alter erreicht haben (EuGH C‑32/19 , Pensionsversicherungsanstalt [ECLI:EU:C:2020:25]), und sind im vorliegenden Fall unstrittig erfüllt.

[29] II.3.2. Soweit die Beklagte in der Revisionsbeantwortung (wie in der Berufung) die Arbeitnehmereigenschaft der Klägerin bestreitet, ist dies nicht zielführend. Für die Qualifizierung als Arbeitnehmer im Sinn des Art 7 der Unionsbürger‑RL ist erforderlich, dass eine Person eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, die keinen so geringen Umfang hat, dass sie sich als vollständig untergeordnet und unwesentlich darstellt. Ob eine tatsächliche und echte Tätigkeit vorliegt, ist vom nationalen Gericht anhand objektiver Kriterien zu beurteilen; es sind alle Umstände des Falls, die sich auf die Art sowohl der fraglichen Tätigkeit als auch des fraglichen Arbeitsverhältnisses beziehen, in ihrer Gesamtheit zu beurteilen. Wesentliches Merkmal eines Arbeitsverhältnisses ist die Erbringung von Leistungen nach Weisung während einer bestimmten Zeit, für die als Gegenleistung Vergütungen gewährt werden (10 ObS 160/17b SSV‑NF 32/12; EuGH C‑46/12 , N. [ECLI:EU:C:2013:97] Rn 40 und 42; C‑413/01 , Ninni‑Orasche [ECLI:EU:C:2003:600] Rn 24 und 26). Der Umstand, dass eine unselbständige Tätigkeit für kurze Dauer ausgeübt wird (EuGH C‑413/01 , Ninni‑Orasche [ECLI:EU:C:2003:600] Rn 25), ändert daran grundsätzlich genauso wenig wie die beschränkte Höhe dieser Vergütung, der Ursprung der Mittel, die stärkere oder schwächere Produktivität des Betroffenen oder die geringe Anzahl geleisteter Wochenstunden (EuGH C‑46/12 , N. [ECLI:EU:C:2013:97] Rn 41). Bei dieser Prüfung sind nur die Art der Tätigkeit und des fraglichen Arbeitsverhältnisses maßgeblich (EuGH C‑46/12 , N. [ECLI:EU:C:2013:97] Rn 43; C‑413/01 , Ninni-Orasche [ECLI:EU:C:2003:600] Rn 27) und Umstände, die sich auf das Verhalten des Betreffenden vor und nach der Beschäftigungszeit beziehen, ohne Bedeutung (C‑413/01 , Ninni-Orasche [ECLI:EU:C:2003:600] Rn 28).

[30] Weder die nach Ansicht der Beklagten „kurzzeitige“ Tätigkeit noch die von ihr behaupteten Verhaltensweisen der Klägerin vor und nach der Beschäftigungszeit vermögen daher die Qualifikation der Klägerin als Arbeitnehmerin im Sinn des Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger‑RL in Zweifel zu ziehen. Soweit die Beklagte der Klägerin einen unionsrechtlichen Rechtsmissbrauch unterstellt, ist ihr zu entgegnen, dass das Problem eines Rechtsmissbrauchs keinen Einfluss auf diese Beurteilung haben kann (EuGH C‑413/01 , Ninni-Orasche [ECLI:EU:C:2003:600] Rn 31).

[31] II.3.3. Die Beklagte stand in erster Instanz noch auf dem Standpunkt, dass sich die Klägerin nicht drei Jahre rechtmäßig in Österreich aufgehalten hat und sich daher (auch) nicht auf Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger‑RL berufen könne. Abgesehen davon, dass ein „rechtmäßiger“ Aufenthalt in Art 17 Unionsbürger‑RL – anders als in Art 16 (oder Art 18) Unionsbürger‑RL – nicht gefordert wird, kam sie darauf schon in der Berufung nicht mehr zurück, sodass diese (auch in der Revisionsbeantwortung nicht behandelte) Frage nicht weiter zu prüfen ist.

[32] II.3.4. Dass die Klägerin die Voraussetzungen des Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger‑RL formal erfüllt, bestreitet die Beklagte auch in der Revisionsbeantwortung nicht mehr. Sie hält dem derart begründeten Recht auf Daueraufenthalt vielmehr lediglich (wie auch in der Klagebeantwortung und in der Berufung) einen unionsrechtlichen Rechtsmissbrauch der Klägerin entgegen. Dies begründete sie damit, dass die Klägerin unmittelbar nach Beendigung des letzten Dienstverhältnisses in der Slowakei während des Bezugs einer slowakischen Invaliditätsrente nach Österreich übersiedelt sei, kurz danach erstmalig die Gewährung einer Ausgleichszahlung beantragt habe, den Antrag nach Befassung der Aufenthaltsbehörde zurückgezogen habe, dann neuerlich die Gewährung der Ausgleichszulage beantragt habe, kurz nach Ablehnung dieses Anspruchs im 64. Lebensjahr kurzfristig ein Dienstverhältnis aufgenommen habe und schließlich jedwede Beschäftigung in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Zuerkennung der österreichischen Alterspension aufgegeben habe. Die von der Klägerin in Österreich aufgenommene Erwerbstätigkeit sei daher von dem Bemühen getragen gewesen, auf kürzest möglichem Wege die Zuerkennung der Ausgleichszulage zu erwirken.

[33] II.3.4.1. Feststellungen zu diesen tatsächlichen Umständen, aus denen nach der Rechtsauffassung der Beklagten auf einen Rechtsmissbrauch der Klägerin zu schließen sei, wurden zwar nicht getroffen. Dem Erstgericht ist allerdings darin zuzustimmen, dass sich aus diesem Vorbringen ein unionsrechtlicher Rechtsmissbrauch der Klägerin, der einen Ausgleichszulagenanspruch ausschließen könnte, nicht ableiten lässt.

[34] II.3.4.2. Das Unionsrecht findet bei missbräuchlichen Praktiken keine Anwendung (EuGH C‑456/12 , O. [ECLI:EU:C:2014:135] Rn 58; C‑413/01 , Ninni-Orasche [ECLI:EU:C:2003:600] Rn 36; C‑39/86 , Lair/Universität Hannover [ECLI:EU:C:1988:322] Rn 43). Der Nachweis eines Missbrauchs setzt zum einen voraus, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, und zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden (EuGH C‑456/12 , O. [ECLI:EU:C:2014:135] Rn 58; C‑364/10 , Ungarn/Slowakei [ECLI:EU:C:2012:630] Rn 58).

[35] II.3.4.3. Voranzustellen ist, dass die Erfüllung der in der Unionsbürger‑RL normierten Voraussetzungen eines rechtmäßigen Aufenthalts für sich allein genommen in der Regel keinen Rechtsmissbrauch darstellen kann. Auch erfolglose Anträge auf Gewährung von Leistungen deuten – ohne Hinzutreten weiterer, hier nicht vorgetragener Umstände – auf einen Rechtsmissbrauch grundsätzlich nicht hin.

[36] Aus der Aufnahme einer Beschäftigung durch die Klägerin, die die zeitlichen Voraussetzungen des Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger‑RL von einem Jahr erfüllt und daher – entgegen der Qualifikation der Beklagten – nicht bloß „kurzzeitig“ ausgeübt wurde, ist insbesondere nicht ersichtlich, dass das Ziel dieser Richtlinie – die Förderung der Freizügigkeit der Unionsbürger ohne unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfe des Aufnahmestaats – nicht erreicht worden wäre. Hintergrund des Rechts auf Daueraufenthalt nach den Art 16 f Unionsbürger‑RL ist erkennbar eine entsprechende Integration des Unionsbürgers im Aufnahmestaat; die von der Beklagten genannten Umstände stehen dieser Intention nicht entgegen.

[37] Dem Vorbringen der Beklagten lässt sich somit insgesamt nicht entnehmen, inwiefern die vom EuGH für einen unionsrechtlichen Rechtsmissbrauch erforderlichen objektiven Elemente vorliegen. Auf die Frage, ob das vom EuGH außerdem (zusätzlich) geforderte subjektive Element hier vorlag, muss daher nicht eingegangen werden. Die von der Beklagten angeführten Umstände stehen dem Recht der Klägerin auf Daueraufenthalt somit nicht entgegen, sodass insofern auch keine sekundären Feststellungsmängel zu erkennen sind.

[38] II.4.1. Infolge des Rechts der Klägerin auf Daueraufenthalt nach Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger‑RL ist die Voraussetzung eines rechtmäßigen Aufenthalts nach § 292 Abs 1 ASVG erfüllt, sodass der vom Berufungsgericht und von der Beklagten angenommene Grund für die Verneinung des Anspruchs der Klägerin – wie sie in der Revision zutreffend geltend macht – nicht vorliegt.

[39] II.4.2.1. Gegen die Berechnung der Ausgleichszulage durch das Erstgericht wendete sich die Beklagte in der Berufung insofern, als sie die der Klägerin geleisteten Unterstützungsbeträge bezifferte und vorbrachte, dass diese als Nettoeinkommen auf einen Ausgleichszulagenanspruch der Klägerin anzurechnen wäre. Eine gleichlautende Argumentation enthält auch die Revisionsbeantwortung. In erster Instanz brachte die Beklagte hingegen lediglich vor, dass mangels Unterhaltsgewährung die Voraussetzung des Art 7 Abs 1 lit d Unionsbürger‑RL nicht erfüllt sei, und nur für den Fall, dass die Klägerin (weder hinsichtlich ihrer Höhe noch ihres Zeitpunkts substantiierte) Unterstützungsleistungen von ihrer Tochter erhalte, ausführte, dass dadurch kein rechtmäßiger Aufenthalt begründet werden könne.

[40] II.4.2.2. Nach ständiger Rechtsprechung ist es Sache des beklagten Versicherungsträgers, durch Vorbringen entsprechender Tatsachen einzuwenden, dass der Anspruch des Pensionsberechtigten auf Ausgleichszulage aufgrund bestimmter Einkünfte oder Unterhaltsansprüche vermindert oder zur Gänze aufgehoben ist (RS0086050 [T4]). Einkünfte oder Unterhaltsansprüche, die der beklagte Versicherungsträger nicht einwendet, bilden keinen Gegenstand des Rechtsstreits (RS0086050 [T20]).

[41] II.4.2.3. Da die Beklagte in erster Instanz die Berücksichtigung irgendwelcher Beträge als Nettoeinkommen im Sinn des § 292 Abs 3 ASVG nicht forderte, bildeten derartige Einwendungen keinen Gegenstand des Verfahrens. Die diesbezüglichen Ausführungen in der Berufung und in der Revisionsbeantwortung sind somit wegen Verstoßes gegen das Neuerungsverbot unbeachtlich. Da die Beklagte die vom Erstgericht angestellte Berechnung des Anspruchs der Klägerin in den jeweiligen Zeiträumen auch sonst nicht bekämpfte, ist diese nicht weiter zu prüfen und das Ersturteil vollinhaltlich wiederherzustellen.

[42] II.4.3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 1 lit a iVm Abs 2 ASGG. Pauschalgebühren sind gemäß § 80 ASGG in Sozialrechtssachen nicht zu entrichten. Die verzeichneten Kosten der elektronischen Akteneinsicht waren schon mangels Bescheinigung nicht zuzusprechen.

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