OGH 2Ob166/23k

OGH2Ob166/23k19.9.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Nowotny, Hon.-Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Sloboda und Dr. Kikingerals weitere Richter in der Rechtssache der klagende Partei P*, vertreten durch Dr. Steiner & Mag. Isbetcherian Rechtsanwaltspartnerschaft in Wien, gegen die beklagten Partei A*, vertreten durch Dr. Franz Schöberl, Rechtsanwalt in Wien wegen 5.705,72 EUR sA, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 26. Juni 2023, GZ 64 R 55/23w-28, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 7. April 2023, GZ 93 C 388/22d-23, aufgehoben wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0020OB00166.23K.0919.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Schadenersatz nach Verkehrsunfall

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und es wird in der Sache dahin erkannt, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.095,12 EUR (darin enthalten 182,52 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungs- und die mit 1.513,92 EUR (darin enthalten 762 EUR PG und 125,32 EUR USt) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Am 13. 10. 2021 ereignete sich in Wien 6 auf der Kreuzung der Linken Wienzeile mit der Spörlinggasse ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker seines Motorrads der Marke Vespa und der Lenker eines bei der Beklagten haftpflichtversicherten PKW beteiligt waren. Zum Unfallszeitpunkt herrschte starkes Verkehrsaufkommen („Stop-and-Go-Verkehr“), es war bereits finster. Der Kläger und der Beklagtenlenker waren beide auf der als Einbahn geführten Linken Wienzeile unterwegs.

[2] Der Beklagtenlenker fuhr am rechten der beiden Fahrstreifen in einer Kolonne, die sich mit etwa 15–20 km/h vorwärts bewegte und immer wieder aufgrund des dichten Verkehrs zum Stillstand kam. Der Beklagtenlenker beabsichtigte nach rechts in die Spörlinggasse abzubiegen, die als Einbahn von der Kreuzung weg geführt wird. Vor der Kreuzung standen am rechten Fahrbahnrand fahrbahnparallel parkende Fahrzeuge.

[3] Der Kläger näherte sich der Kreuzung, indem er an der immer wieder zum Stillstand gekommenen am rechten Fahrstreifen befindlichen Kolonne rechts vorbeifuhr, wobei zwischen der Kolonne und der Parkplatzmarkierung etwa 1,4–1,7 m Platz war.

[4] Etwa 20–30 m vor der späteren Kollisionsstelle setzte der Beklagtenlenker den rechten Blinker und fuhr in der Kolonne weiter. Ohne das Verkehrsgeschehen (unmittelbar vor seinem beginnenden Rechtszug) hinter sich zu beobachten, lenkte der Beklagtenlenker seinen PKW mittels eines flachen Einlenkvorgangs nach rechts. Der Beklagtenlenker hatte die Annäherung des Klagsfahrzeugs nicht beobachtet und wurde durch den Kontakt überrascht. Er hätte das Klagsfahrzeug vor dem Kontakt wahrnehmen können, wenn er unmittelbar vor Beginn seines Rechtslenkens seine Aufmerksamkeit auf die Annäherungsrichtung des Klagsfahrzeugs gelenkt hätte.

[5] Als sich der Kläger dem Beklagtenfahrzeug näherte, bemerkte er den gesetzten Blinker. Dessen ungeachtet bewegte er sich mit einer Geschwindigkeit von 25–30 km/h am mit etwa 15–20 km/h fahrenden, rechts blinkenden Beklagtenfahrzeug rechts vorbei, wodurch es zum Kontakt kam. Dieser fand auf der linke Seite des Klagsfahrzeugs und im rechten vorderen Seitenbereich des PKW statt.

[6] Der Kläger stützt seinen Schadenersatzanspruch darauf, dass der Beklagtenlenker beim Abbiegevorgang aus Unaufmerksamkeit das ordnungsgemäß und zulässigerweise rechts vorbeifahrende Klagsfahrzeug übersehen habe. Der Beklagtenlenker wäre dazu verpflichtet gewesen, vor dem Rechtsabbiegen nach rechts über die Schulter oder in den Außenspiegel oder durch die Seitenscheibe zu blicken.

[7] Die Beklagte warf dem Kläger vor, er habe versucht, die langsam fahrende Kolonne mit dem Beklagtenfahrzeug verkehrsordnungswidrig rechts zu überholen. Der Beklagtenlenker habe seine Absicht, nach rechts in die Spörlinggasse abzubiegen, rechtzeitig angezeigt. Dennoch habe der Kläger versucht, das Beklagtenfahrzeug rechts zu überholen, weshalb es zur Kollision gekommen sei, als der PKW bereits nach rechts gefahren sei. Das Alleinverschulden treffe daher den Kläger.

[8] Das Erstgericht wies die Klage ab. Der Kläger habe das Beklagtenfahrzeug unzulässig rechts überholt und damit gegen die Schutznorm des § 15 Abs 1 StVO verstoßen. Den Beklagtenlenker treffe kein (Mit-)Verschulden. Er habe vielmehr darauf vertrauen dürfen, dass er nicht in unzulässiger Weise durch ein einspuriges Fahrzeug rechts überholt werde. Es stehe nicht fest, dass der Kläger unmittelbar vor der Kollision an stehenden Fahrzeugen vorbeigefahren sei. Unabhängig davon dürfe nach § 12 Abs 5 StVO ein Lenker eines einspurigen Fahrzeugs ein einbiegendes Fahrzeug beim Vorbeifahren nicht behindern.

[9] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags Folge. Ebenso wie das Erstgericht ging auch das Berufungsgericht davon aus, dass der Kläger in Verletzung des § 15 StVO unzulässig rechts überholt habe und auch kein zulässiges Vorbeifahren nach § 12 Abs 5 StVO vorgelegen sei. Ein Verkehrsteilnehmer in der Situation des Beklagtenlenkers, der sich in einer verkehrsbedingt immer wieder zum Stillstand gelangenden Kolonne mit dieser sukzessive vorwärts bewege und seine Rechtseinbiegeabsicht rechtzeitig angezeigt habe, dürfe darauf vertrauen, dass ein rechts an der Kolonne vorbeifahrendes einspuriges Fahrzeug sich nicht der Kolonne mit einer nicht ihr angepassten Geschwindigkeit nähere, am rechtsblinkenden Beklagtenfahrzeug vorbeifahre und dieses in der Folge beim beginnenden Einbiegemanöver behindere. In der gegebenen Konstellation hätte der Beklagtenlenker beim beabsichtigten Einbiegen jedoch besondere Vorsicht walten lassen müssen, „hätte er doch durchaus mit einem in seinem Nahbereich befindlichen einspurigen Fahrzeug (welches sich mit der Kolonne mitbewegt) zu rechnen gehabt“. Er wäre daher verpflichtet gewesen, unmittelbar vor dem Rechtsabbiegen sich durch Kontrollblicke nach rechts davon zu überzeugen, niemanden beim Rechtseinbiegen zu gefährden oder zu behindern. Das Berufungsgericht gewichtete das beidseitige Verschulden mit 2:1 zu Lasten des Klägers und trug dem Erstgericht auf, Feststellungen zur Schadenshöhe zu treffen.

[10] Das Berufungsgericht ließ den Rekurs an den Obersten Gerichtshof mangels höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Frage zu, ob ein sich in einer aufgrund Verkehrsüberlastung abwechselnd stehenden und langsam fahrenden Kolonne fortbewegender Fahrzeuglenker, der seinen beabsichtigten Rechtsabbiegevorgang rechtzeitig und ordnungsgemäß anzeigte, seine Fahrtrichtung aus dem rechten Fahrstreifen nach rechts einbiegend nur ändern darf, nachdem er sich (durch Blicke in den Spiegel oder über die rechte Schulter) vergewissert hat, dass er durch sein bevorstehendes Fahrmanöver keinen auf seinem Fahrstreifen in einer Vorbeifahrt an der Kolonne begriffenen Zweiradfahrer gefährdet.

[11] Gegen den Beschluss des Berufungsgerichts richtet sich der Rekurs der Beklagten, mit dem sie eine Abänderung im Sinn einer Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteils anstrebt.

[12] Der Kläger beantragt, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[13] Der Rekurs ist wegen einer aufzugreifenden Fehlbeurteilung des Rekursgerichts zulässig; er ist auch berechtigt.

[14] 1. Die Vorinstanzen sind zutreffend davon ausgegangen, dass sich der Kläger nicht auf ein zulässiges Vorfahren („Vorschlängeln“) im Sinne des § 12 Abs 5 StVO berufen kann.

[15] 1.1 Ein solches Vorfahren setzt voraus, dass ein Lenker des einspurigen Fahrzeugs die Lenker von Fahrzeugen, die die Absicht zum Einbiegen angezeigt haben, nicht behindern darf. Anders als im Fall, der der Entscheidung 2 Ob 262/05s zugrunde lag (mangels einer Querstraße im näheren Umkreis des blinkenden PKW war dort ein Einbiegen gar nicht möglich) hat der Kläger das vom Beklagtenlenker ordnungsgemäß angezeigte Einbiegemanöver konkret behindert.

[16] 1.2 Des weiteren hat der Kläger § 12 Abs 5 StVO auch deshalb nicht erfüllt, weil die von ihm gewählte Geschwindigkeit (25–30 km/h) deutlich über jener der Kolonne (15–20 km/h) lag. Grundsätzlich stellt § 12 Abs 5 StVO darauf ab, dass der Lenker des einspurigen Fahrzeugs an einer stehenden Kolonne vorbeifährt, um sich weiter vorne aufzustellen. Wohl muss auch der Lenker eines einspurigen Fahrzeugs, der gemäß § 12 Abs 5 StVO rechts an einer Kolonne vorfährt, dann, wenn er bemerkt, dass sich die Kolonne vor ihm in Bewegung setzt, sein Fahrzeug nicht zum Stillstand bringen. Er muss aber seine Geschwindigkeit in einem solchen Fall so an die Kolonne anpassen, dass er, sobald er ein Fahrzeug der Kolonne erreicht, das sich in Bewegung zu setzen beginnt, nicht schneller fährt als die schon in Bewegung befindlichen zweispurigen Fahrzeuge der Kolonne (RS01218844). Dem widersprach die Fahrweise des Klägers.

[17] 1.3 Die Schlussfolgerung der Vorinstanzen, in der Fahrweise des Klägers sei ein unzulässiges Rechtsüberholen gelegen, weil weder eine Ausnahme des § 15 Abs 2 und 2a StVO noch ein zulässiges Vorbeifahren im Sinne des § 12 Abs 5 StVO vorgelegen sei, ist nicht zu beanstanden. Dem tritt der Kläger in dritter Instanz auch nicht entgegen.

[18] 2. Das Berufungsgericht stützt das Mitverschulden des Beklagtenlenkers darauf, dass dieser einen Kontrollblick zum nachfolgenden Verkehr unmittelbar vor dem Abbiegevorgang unterlassen habe. Damit hat das Berufungsgericht die Rechtslage verkannt.

[19] 3. Nach gesicherter Rechtsprechung ist ein ordnungsgemäß eingeordneter Fahrzeuglenker, der einen Abbiegevorgang anzeigt, nicht verpflichtet, in jedem Fall den nachfolgenden Verkehr unmittelbar vor dem Einbiegen zu beobachten (RS0079255).

[20] 3.1 Unmittelbar vor dem Abbiegen ist Beachtung des nachfolgenden Verkehrs demnach nur in Ausnahmefällen geboten, vor allem bei Vorliegen einer unklaren Verkehrssituation (RS0079255 [T4]) und/oder dann, wenn besondere Gründe eine Gefahr erkennen lassen und somit besondere Vorsicht erforderlich machen (RS0073770; RS0079255 [T6]). Die Unterlassung eines Rückblicks unmittelbar vor dem Einbiegen begründet (ua) dann ein Verschulden des abbiegenden Lenkers, wenn dieser damit rechnen musste, dass ein nachfolgender Verkehrsteilnehmer die Stelle, an der abgebogen werden soll, nicht ausreichend erkennen kann (RS0073581 [T8]; RS0073681).

[21] 3.2 Diese Judikatur wurde vorwiegend für das Linksabbiegen entwickelt, zumal dieses unfallsträchtiger ist als das Rechtsabbiegen. Die entwickelten Grundsätze gelten aber allgemein und damit auch für das Rechtsabbiegen (vgl RS0073793 [T8]; 8 Ob 280/80 = ZVR 1982/373). § 11 StVO unterschiedet hier nicht.

[22] 3.3 Verhält sich ein rechtsabbiegender Lenker beim Abbiegevorgang nicht vorschriftswidrig und liegen auch sonst keine besonderen Gründe vor, kann man ihm nicht vorwerfen, dass er ein rechtswidrig rechts überholendes Fahrzeug nicht beachtet hat (8 Ob 280/80 = ZVR 1982/373). Ein ordnungsgemäß eingeordneter und den rechten Blinker betätigender Lenker darf nämlich darauf vertrauen, dass er gegebenenfalls (nur) vorschriftsmäßig überholt wird (RS0079255 [T9]). Er muss also nicht damit rechnen, dass er beim Rechtseinbiegen gleichzeitig auf der rechten Seite (rechtswidrig) überholt wird; das gilt auch gegenüber Lenkern von einspurigen Fahrzeugen (Pürstl, StVO15 § 11 StVO Anm 2).

[23] 3.4 Der Umstand, dass bei einem „Stop-and-Go‑Verkehr“ mit dem „Vorschlängeln“ einspuriger Verkehrsteilnehmer gerechnet werden muss, beschränkt sich auf das zulässige Vorbeifahren im Sinne des § 12 Abs 5 StVO (2 Ob 169/16s), das hier aber nicht vorlag.

[24] 4. Im Anlassfall wurden besondere Gründe, die eine Gefahr erkennbar und somit besondere Vorsicht erforderlich gemacht hätten (insbesondere eine unklare Verkehrssituation, ein Nichterkennen der Querstraße, ein Fehlverhalten des Beklagtenlenkers im Zusammenhang mit dem Abbiegevorgang) nicht festgestellt. Der Lenker des Beklagtenfahrzeugs hat den richtigen Fahrstreifen gewählt sowie den Abbiegevorgang rechtzeitig und für den Kläger auch wahrnehmbar angezeigt. Er musste mit dem verkehrswidrigen Verhalten des Klägers nicht rechnen.

[25] 5. Zusammengefasst ergibt sich: Das Alleinverschulden trifft den Kläger, der das Beklagtenfahrzeug rechtswidrig rechts überholen wollte und damit die Kollision ausgelöst hat. Der Beklagtenlenker war im Anlassfall nicht verpflichtet, unmittelbar vor seinem Abbiegevorgang den Nachfolgeverkehr zu beobachten, sodass ihn kein Mitverschulden trifft. Damit erübrigt sich die vom Berufungsgericht angeordnete Verfahrensergänzung, sodass dem Rekurs stattzugeben, in der Sache selbst zu erkennen und die Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen ist.

[26] 6. Da bereits eine Sachentscheidung getroffen werden kann, ist auch über die Kosten des Berufungs- und Rekursverfahrens abzusprechen. Diese Kostenentscheidung beruht auf § 50 Abs 1 iVm § 41 ZPO.

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