European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0110OS00023.23A.0829.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Fachgebiet: Datenschutzrecht
Spruch:
In Stattgebung der Beschwerde wird der angefochtene Beschluss aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht Graz zur neuen Entscheidung nach Verfahrensergänzung verwiesen.
Gründe:
[1] Mit Beschwerde (§ 85a Abs 2 iVm § 85 Abs 1 und 2 GOG) vom 3. Juni 2022 begehrte * R* die Feststellung, durch die vom Einzelrichter des Landesgerichts Klagenfurt im Verfahren AZ 9 HR 159/21k veranlasste Übermittlung von (im Einzelnen bezeichnete) personenbezogene Daten der Beschwerdeführerin enthaltenden Schriftstücken, welche die Finanzprokuratur einem in jenem (Ermittlungs‑)Verfahren von ihr eingebrachten Schriftsatz als Beilagen angeschlossen gehabt habe, an den (in jenem Verfahren) Beschuldigten * P* in ihrem Recht auf Datenschutz verletzt worden zu sein.
[2] Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Oberlandesgericht Graz dieses Begehren – nach Beischaffung der (und Einsichtnahme in die) betreffenden, sodann wieder zurückgestellten Ermittlungsakten – ab.
[3] Nach den Tatsachenannahmen (BS 1 f) des bekämpften Beschlusses führte die Staatsanwaltschaft Klagenfurt zu AZ 15 St 45/21g ein Ermittlungsverfahren gegen * P* wegen des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen. In diesem Verfahren brachte die Republik Österreich, vertreten durch die Finanzprokuratur, einen Schriftsatz samt Beilagen ein, mit dem sie erklärte, sich dem Verfahren als Privatbeteiligte anzuschließen. Dazu machte sie Ersatzansprüche aus dem Titel der Entgeltfortzahlung für die Justizwachebeamtin R* (als deren Dienstgeberin) geltend, die durch die Straftat des Beschuldigten verletzt worden und vorfallskausal für mehrere Tage dienstunfähig gewesen sei. Die Beilagen umfassten (unter anderem) einen Auszug aus dem Lohnkonto der Beschwerdeführerin sowie jeweils eine diese betreffende Unfallmeldung und Krankenstandsbestätigung. Dieser Schriftsatz (samt Beilagen) wurde von der Staatsanwaltschaft zum Ermittlungsakt genommen.
[4] Am 21. Mai 2021 verhängte der Einzelrichter des Landesgerichts über den Beschuldigten die Untersuchungshaft und verfügte die Übermittlung „einer Aktenkopie“ an dessen Verfahrenshilfeverteidiger, dem eine solche am 27. Mai 2021 ausgefolgt wurde.
[5] Rechtlich erwog das Oberlandesgericht, nicht nur die Aufnahme von Verfahrensergebnissen in den Ermittlungsakt, sondern auch eine (nach Maßgabe des § 51 Abs 2 StPO gebotene) Beschränkung der Akteneinsicht falle im Ermittlungsverfahren nicht in die Kompetenz des Einzelrichters des Landesgerichts. Dieser habe vielmehr der Strafprozessordnung entsprochen, indem er – wie im Haftfall vorgesehen (§ 52 Abs 3 StPO) – dem Verfahrenshilfeverteidiger des Beschuldigten, dessen Recht auf Akteneinsicht von der Staatsanwaltschaft nicht beschränkt worden sei, eine Kopie des gesamten Ermittlungsakts habe zukommen lassen. Demnach sei der relevierte Vorgang auch aus datenschutzrechtlicher Sicht zulässig gewesen.
Rechtliche Beurteilung
[6] Dagegen richtet sich die (als „Rekurs“ bezeichnete) Beschwerde der R*, die eine Abänderung des angefochtenen Beschlusses im Sinn der Feststellung begehrt, dass sie in ihrem Grundrecht auf Datenschutz verletzt wurde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Vorweg sei festgehalten:
[7] Das Verfahren nach §§ 85, 85a GOG ist subsidiär. Eine Überprüfung nach diesen Bestimmungen findet nur dann statt, wenn die Verfahrensgesetze kein Aufgreifen ermöglichen (RIS‑Justiz https://www.ris.bka.gv.at/Ergebnis.wxe?Abfrage=Justiz&Rechtssatznummer=RS0129940&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=True&SucheNachText=False [T8]). Auf die hier beanstandete gerichtliche Verfügung (§ 35 Abs 2 zweiter Satz StPO) trifft Letzteres in Bezug auf die Beschwerdeführerin zu.
[8] Eine Verarbeitung von Daten (wozu unter anderem deren Weitergabe zu zählen ist – vgl Kristoferitsch/Bugelnig, WK‑StPO § 74 Rz 40, 47), die den Verfahrensgesetzen entspricht, ist auch aus datenschutzrechtlicher Sicht zulässig (RIS‑Justiz https://www.ris.bka.gv.at/Ergebnis.wxe?Abfrage=Justiz&Rechtssatznummer=RS0129940&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=True&SucheNachText=False [T4, T6, T9]).
[9] Für die Frage, ob das Feststellungsbegehren (§ 85a Abs 2 erster Satz GOG iVm § 85 Abs 1 GOG) der Beschwerdeführerin berechtigt ist, kommt es demnach auf die Prozessordnungskonformität der angesprochenen Verfügung an.
[10] Die Beschwerde ist im Hinblick darauf zulässig (§ 85a Abs 2 erster Satz GOG iVm § 85 Abs 5 zweiter Satz GOG), dass bislang keine Judikatur des Obersten Gerichtshofs zu der – dafür zu klärenden – Rechtsfrage besteht, ob der Einzelrichter des Landesgerichts im Ermittlungsverfahren (§ 31 Abs 1 StPO) befugt ist, in dem von § 52 Abs 3 erster Satz StPO geregelten Fall über die Beschränkung der Akteneinsicht (§ 51 Abs 2 StPO) zu entscheiden (zum Zulässigkeitskriterium des Abhängens der Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung vgl 11 Os 150/21z [Rz 11]). Im Sinn ihres Aufhebungsantrags ist sie auch berechtigt.
[11] Prozessuale Grundlage für die vorliegend in Beschwerde gezogene Datenweitergabe wäre § 52 Abs 3 erster Satz StPO. Nach dessen Wortlaut sind dem Verfahrenshilfeverteidiger unverzüglich Kopien des Aktes von Amts wegen zuzustellen, und zwar im Haftfall durch das Gericht.
[12] Im Ermittlungsverfahren trifft demnach, wenn – wie hier (BS 2) – über den Beschuldigten die Untersuchungshaft verhängt und ihm ein Verfahrenshilfeverteidiger beigegeben worden ist, den Einzelrichter des Landesgerichts (§ 31 Abs 1 StPO) die Pflicht, die Zustellung einer Kopie des (Ermittlungs‑)Akts an den Verfahrenshilfeverteidiger von Amts wegen zu verfügen.
[13] Dass sich diese Pflicht auf die in § 52 Abs 2 Z 2 StPO angeführten Aktenstücke (also jene, die „für die Beurteilung des Tatverdachts oder der Haftgründe von Bedeutung sein können“) beschränken würde, ist – insoweit entgegen der Stellungnahme der Generalpokuratur – dem Gesetz nicht zu entnehmen. Vielmehr bezieht sie sich (arg Kopien „des Aktes“) regelmäßig auf den gesamten (zum Entscheidungszeitpunkt vorliegenden – zur Übermittlung von Aktenstücken an den Verteidiger „in weiterer Folge“ siehe demgegenüber § 52 Abs 3 zweiter und dritter Satz StPO) Ermittlungsakt (Fabrizy/Kirchbacher, StPO14 § 52 Rz 3; McAllister/Wess, LiK‑StPO § 52 Rz 10; aus 13 Os 37/09d ergibt sich nichts anderes).
[14] Zwar reicht die angesprochene Pflicht (und zugleich Befugnis) des Gerichts im Umfang nicht weiter als dem Beschuldigten das Recht auf Akteneinsicht (§ 51 StPO) zusteht (arg „[s]oweit“ in § 52 Abs 1 StPO; vgl Fabrizy/Kirchbacher, StPO14 § 52 Rz 1).
[15] Das – verfassungsrechtlich geschützte (vgl Art 6 Abs 1 und 3 lit a und b MRK) – Recht des Beschuldigten wiederum, in die „der Kriminalpolizei, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht vorliegenden Ergebnisse“ des (hier relevant:) Ermittlungsverfahrens „Einsicht zu nehmen“ (§ 51 Abs 1 erster Satz StPO), darf allerdings nur in den von § 51 Abs 2 StPO normierten Ausnahmefällen beschränkt werden (RIS‑Justiz RS0129024; zur davon strikt zu unterscheidenden – vorgelagerten – Entscheidung darüber, welche Informationen überhaupt zum Inhalt des Ermittlungsakts werden, siehe Ratz, ÖJZ 2023, 61 [Entscheidungsanmerkung]; RIS‑Justiz RS0133323).
[16] Da § 51 Abs 2 StPO – nach Maßgabe der in § 74 Abs 2 StPO normierten allgemeinen Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten – die zulässigen Beschränkungen der Akteneinsicht bei Beschuldigten abschließend regelt (lex specialis), entspräche die von der Beschwerdeführerin unter Berufung auf § 74 Abs 2 StPO geforderte, darüber hinausgehende Einschränkung derselben nicht dem Gesetz (14 Os 82/22y [Rz 10]; dazu kritisch Ainedter/Poppenwimmer, ZWF 2023, 61).
[17] Ausnahmslos (Hinterhofer/Oshidari, Straf-verfahren Rz 6.23) unzulässig ist demnach eine Beschränkung der Akteneinsicht des Beschuldigten, wenn sich dieser (wie hier) in Haft befindet, hinsichtlich solcher „Aktenstücke“, die „für die Beurteilung des Tatverdachts oder der Haftgründe von Bedeutung sein können“ (vgl § 52 Abs 2 Z 2 StPO), ab Verhängung der Untersuchungshaft (§ 51 Abs 2 letzter Satz StPO).
[18] Hinsichtlich sonstiger „Aktenstücke“ wäre eine Beschränkung seiner Akteneinsicht jedoch – soweit hier relevant – (immerhin) nach § 51 Abs 2 erster Satz StPO „zulässig“: und zwar insoweit, als die „im § 162 [StPO] angeführte Gefahr besteht“, also aufgrund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, dass ein Zeuge oder ein Dritter durch die Kenntniserlangung des Beschuldigten von aktenmäßig festgehaltenen (vgl § 51 Abs 1 StPO: „vorliegenden Ergebnisse“) – somit nach § 53 Abs 1 StPO zugänglichen (vgl Ratz, Verfahrensführung und Rechtsschutz nach der StPO2 Rz 492 und 503) – personenbezogenen Daten und anderen Umständen (auch Textzusammenhängen), die Rückschlüsse auf die Identität oder die höchstpersönlichen Lebensumstände gefährdeter Personen zulassen, einer ernsten Gefahr für Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit oder Freiheit ausgesetzt würde. Unter dieser Voraussetzung lässt § 51 Abs 2 erster Satz StPO zu, die betreffenden „Daten und anderen Umstände“ von der Akteneinsicht auszunehmen und Kopien auszufolgen, in denen diese Umstände unkenntlich gemacht wurden (dazu 14 Os 43/13z, 115/13p, 116/13k; Fabrizy/Kirchbacher, StPO14 § 51 Rz 8).
[19] Überzeugt sich ein Führungsorgan von „schutzwürdige[n] Interessen“ an „Geheimhaltung“ (§ 1 Abs 1 DSG), hat es diese gegen den Zweck des Strafverfahrens (§ 1 Abs 1 erster Satz StPO) abzuwägen und eine darauf bezogene Entscheidung zu treffen oder herbeizuführen (Ratz, Verfahrensführung und Rechtsschutz nach der StPO2 Rz 494).
[20] Für den Regelungsbereich des § 51 Abs 2 erster (und letzter) Satz StPO folgt daraus, dass die Beschränkung der Akteneinsicht des Beschuldigten nach dieser Bestimmung (nicht nur „zulässig“, sondern) geboten ist, wenn und soweit die (verfahrens‑)gesetzlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind und die Interessen der betroffenen Person an Geheimhaltung die aus einer solchen resultierenden Nachteile des Beschuldigten überwiegen (vgl zur Abwägung nach § 162 StPO Kirchbacher/Keglevic, WK‑StPO § 162 Rz 1 ff und Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 367).
[21] Die Entscheidung hierüber kommt im Ermittlungsverfahren zwar in der Regel der Staatsanwaltschaft (und bis zur Erstattung des Abschlussberichts auch der Kriminalpolizei) zu (§ 53 Abs 1 StPO). Soweit das Gesetz jedoch das Gericht dazu verpflichtet, dem Beschuldigten im Ermittlungsverfahren Akteneinsicht zu gewähren (vgl dazu ErläutRV 113 BlgNR 24. GP 113), also in den Fällen
- des § 52 Abs 3 erster Satz StPO (nämlich im Haftfall von Amts wegen durch Zustellung einer Kopie des Aktes an den Verfahrenshilfeverteidiger) und
- des § 53 Abs 1 zweiter Satz StPO (nämlich solange der Beschuldigte in Untersuchungshaft angehalten wird auf Antrag in die im § 52 Abs 2 Z 2 StPO angeführten Aktenstücke),
hat es auch über deren (allfällige) Beschränkung zu entscheiden (im gleichen Sinn [implizit] Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 6.38; nicht differenzierend Soyer/Stuefer, WK‑StPO §§ 51–53 Rz 23, wonach für Beschränkungen der Akteneinsicht „die aktenführende Behörde“ zuständig sei).
[22] Eine Beschränkung der Einsicht des Beschuldigten in die „im § 52 Abs 2 Z 2 StPO angeführten Aktenstücke“ (§ 53 Abs 1 zweiter Satz StPO) wäre freilich im Haftfall – wie dargelegt – gemäß § 51 Abs 2 letzter Satz StPO stets unzulässig. Nach Maßgabe des zuvor Gesagten kann sie jedoch hinsichtlich solcher Aktenstücke geboten sein, die Teil „des Aktes“ (§ 52 Abs 3 erster Satz StPO) sind, aber „für die Beurteilung des Tatverdachts oder der Haftgründe“ nicht (iSd § 51 Abs 2 letzter Satz StPO; § 52 Abs 2 Z 2 StPO) „von Bedeutung sein können“.
[23] Entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts hätte der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft das Recht des Beschuldigten auf Akteneinsicht nicht beschränkt hatte (vgl BS 3), den Einzelrichter des Landesgerichts seiner diesbezüglichen (Prüfungs‑ und allfälligen Entscheidungs‑)Pflicht nicht enthoben.
[24] Aus seiner (gegenteiligen) unrichtigen Rechtsansicht heraus ließ das Oberlandesgericht in tatsächlicher Hinsicht ungeklärt,
- ob es sich bei den fraglichen Aktenstücken um solche handelte, die für die Beurteilung des Tatverdachts oder der Haftgründe von Bedeutung sein konnten (§ 51 Abs 2 letzter Satz StPO), und (bei Verneinung dieser Frage relevant)
- ob der Einzelrichter des Landesgerichts zum Zeitpunkt seiner (in Beschwerde gezogenen) Verfügung bestimmte Tatsachen vorfand, die ihn – bei rechtsrichtiger Beurteilung – zu einer entsprechenden Beschränkung der Akteneinsicht des Beschuldigten gemäß § 51 Abs 2 erster Satz StPO verpflichtet hätten.
[25] Hiervon ausgehend erweisen sich diesbezügliche Beweisaufnahmen durch das Oberlandesgericht als unumgänglich (§ 85a Abs 2 letzter Satz GOG iVm § 89 Abs 2a Z 3 zweiter Fall StPO).
[26] Dies führte – im Ergebnis in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses wie aus dem Spruch ersichtlich.
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