OGH 14Os39/23a

OGH14Os39/23a1.8.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 1. August 2023 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann und Dr. Setz‑Hummel LL.M., den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Sadoghi in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Mair in der Strafsache gegen * P* wegen Verbrechen des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Eisenstadt als Schöffengericht vom 21. Dezember 2022, GZ 9 Hv 3/22f‑65, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0140OS00039.23A.0801.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Sexualdelikte

 

Spruch:

 

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil aufgehoben, eine neue Hauptverhandlung angeordnet und die Sache hiefür an das Landesgericht Eisenstadt verwiesen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde * P* mehrerer Verbrechen des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 1 StGB (I./) und nach § 205 Abs 2 StGB (II./) schuldig erkannt.

[2] Danach hat er in O* wehrlose, nämlich in der Aufwachphase nach einer Sedierung mit Propofol (als Narkotikum) und Midazolam (als Dormicum) zur Durchführung einer Darm‑ oder Magenspiegelung befindliche Personen unter Ausnützung deren Zustands dadurch missbraucht, dass er

I./ mit ihnen dem Beischlaf gleichzusetzende Handlungen vornahm, indem er sie digital vaginal penetrierte, und zwar

A./ am 16. August 2021 * K*;

B./ am 17. September 2021 * D*;

II./ außer dem Fall des § 205 Abs 1 StGB an ihnen geschlechtliche Handlungen vornahm, und zwar

A./ am 12. Juli 2021 * J*, indem er ihre rechte Brust unterhalb der Bekleidung mehrmals wild packte und massierte;

B./ am 16. August 2021 K*, indem er ihre rechte Brust knetete;

C./ am 17. September 2021 D*, indem er ihre Brust und die Brustwarze massierte sowie die Brustwarze in den Mund nahm;

D./ am 15. Juni 2021 * Ku*, indem er ihren Venushügel mit kreisenden Bewegungen massierte und ihre Brüste unterhalb der Kleidung streichelte.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich die aus § 281 Abs 1 Z 4, 5, 5a, 9 lit a und 10 StPO ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der Berechtigung zukommt.

[4] Zutreffend zeigt die Tatsachenrüge (Z 5a) aktenkundige Umstände auf, die erhebliche Bedenken des Obersten Gerichtshofs gegen die Richtigkeit der dem Ausspruch über die Schuld zugrunde gelegten entscheidenden Tatsachen begründen (RIS‑Justiz RS0118780, RS0119583 und RS0099720; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 470, 488 ff).

[5] Der Beschwerdeführer verweist zunächst auf das anästhesiologisch‑intensivmedizinische Gutachten (ON 58) des Sachverständigen Univ.‑Prof. Dr. Z* und dessen Erörterung in der Hauptverhandlung vom 9. November 2022 (ON 63 S 26 ff), wonach Halluzinationen und Fehlempfindungen in der Aufwachphase bekannt seien, es bei Anwendung von – wie hier – Propofol vielfach sexuelle Träume und auch Empfindungen gäbe, dies auch relativ lange in die Aufwachphase hinein, und darauf, dass der Sachverständige auf die Frage der Vorsitzenden, ob es möglich sei, dass im gegenständlichen Fall alle vier Opfer aufgrund der Medikation, die sie bekommen haben, halluziniert haben, antwortete, dass die Literatur das eindeutig belege. Dabei sei auch klar dokumentiert, dass nicht nur angenehme sexuelle Träume, sondern sexuelle Übergriffe impliziert wurden, dies nicht nur während des Eingriffs, sondern auch in der postoperativen Erholungsphase. Die gleichzeitige Anwendung von Midazolam und Propofol habe ein Verstärkung der Propofol-Wirkung zur Folge, worauf auch die Fachinformationen der Hersteller hinweisen würden. Es sei bekannt, dass die beschriebenen lebhaften sexuellen Phantasien unter Propofol bei den Patientinnen den Eindruck eines authentischen Ereignisses hervorrufen.

[6] Nach dem weiters von der Beschwerde ins Treffen geführten Gutachten über spurenkundliche DNA‑Untersuchungen (ON 12) erbrachten die molekularbiologischen Untersuchungen der Y‑chromosomalen Systeme von Abrieben des Brust‑ und Dekolletébereichs der Zeugin D* einerseits negative Resultate, andererseits das Ergebnis, dass der Angeklagte als Verursacher einer am Dekolleté der Genannten nachweisbaren DNA‑Spur auszuschließen sei. In seinem Ergänzungsgutachten verneinte der Sachverständige unter Hinweis auf die vielen Variablen und Einflussgrößen zwar, dass daraus ein Schluss auf das Nichtvorkommen der von der Zeugin geschilderten sexuellen Übergriffe im Brustbereich (Schuldspruch zu II./C./) gezogen werden könne. Gleichzeitig führte er aber – von der Rüge hervorgehoben – aus, dass aus spurenkundlicher Erfahrung sowohl Speichelspuren an der Brustwarze als auch – zumindest bei Unterbleiben von zwischenzeitigen „Manipulationen“ in diesem Bereich und einer korrekten Spurensicherung innerhalb von (wie hier; ON 63, 11) drei Stunden – ein entsprechendes DNA‑Ergebnis zu erwarten sei, wenn die Brustwarze einer Frau von einer Person in den feuchten/nassen Mund genommen wird, zumal Sekretspuren eine bessere Anhaftbarkeit als beispielsweise Hautkontaktspuren aufweisen würden (ON 49).

[7] Letztlich verweist die Rüge auch mit Recht darauf, dass die Belastungszeuginnen K*, * J* und Ku* ungeachtet ihrer belastenden und dahingehend widerspruchsfreien Angaben in einzelnen Aussagepassagen vorab zum Ausdruck brachten, sich nicht sicher zu sein, ob die Übergriffe tatsächlich stattgefunden haben (K* ON 30.1, 7 „ich weiß nicht, ich glaube, der hat mich ausgegriffen“; ON 30.1, 14 „ich habe mir selbst die Frage gestellt, träum ich das oder träum ich das nicht ... soll man zur Polizei gehen, wenn man etwas trotzdem nicht zu 100 % weiß?“/ * J* ON 31, 13 „ich hab gesagt, ich glaube, da ist etwas passiert“/ Ku* ON 7.1, 9 f in ON 52 „Ich kann mich erst wieder bewusst erinnern, wie ich rausgegangen bin“).

[8] Bei vernetzter Betrachtung dieser Verfahrensergebnisseliegt daher (bei gleichzeitiger Bedachtnahme auf die Gesamtheit der tatrichterlichen Beweiswerterwägungen) – gemessen an allgemeinen Erfahrungs‑ und Vernunftsätzen – eine Fehlentscheidung bei der Beweiswürdigung hinsichtlich der Feststellungen (bereits) zur objektiven Tatseite qualifiziert nahe.

[9] Das angefochtene Urteil war daher zur Gänze aufzuheben und die Verfahrenserneuerung anzuordnen (zur Verweisung der Privatbeteiligten * J* auf den Zivilrechtsweg vgl RIS-Justiz RS0101303, RS0100493 [T1]).

[10] Mit seiner Berufung war der Angeklagte darauf zu verweisen.

[11] Wegen Aufhebung des gesamten Urteils hatte ein Kostenausspruch nach § 390a StPO zu unterbleiben (RIS‑Justiz RS0101342 [T4, T5]; Lendl, WK-StPO § 390a Rz 7).

[12] Für den zweiten Rechtsgang wird angemerkt, dass zur Klärung der Frage einer (intakten) Wahrnehmungs‑ und Aussagefähigkeit (Wirklichkeitskontrolle und Quellenmonitoring) einer Person die Einholung eines Gutachtens aus dem Fachbereich der Aussagepsychologie möglich ist (RIS-Justiz RS0098015 [T9], zum Zustimmungserfordernis des Zeugen RS0098015 [T1, T2, T13], RS0118956).

[13] Im Fall eines neuerlichen Schuldspruchs wird zu berücksichtigen sein, dass mehrere geschlechtliche Handlungen, die nicht im Beischlaf bestehen oder diesem gleichzusetzen sind, die aber einem einheitlichen, auf die Erzwingung eines geschlechtlichen Missbrauchs gerichteten Tätervorsatz entspringen und in einem nahen zeitlichen Zusammenhang an demselben Opfer begangen werden, nicht gesondert strafbar sind, sondern durch Subsumtion unter den Tatbestand der Vergewaltigung (§ 201 Abs 1 StGB) konsumiert werden (RIS‑Justiz RS0117038 [T3], RS0094869; Philipp in WK² StGB § 201 Rz 49). Gleiches gilt im Verhältnis zwischen geschlechtlichen Handlungen im Sinn des § 205 Abs 2 StGB und dem Beischlaf gleichzusetzenden Handlungen nach § 205 Abs 1 StGB, sofern keine ungewöhnliche Intensität der begleitenden geschlechtlichen Handlungen (vgl RIS‑Justiz RS0095057) vorliegt (siehe aber die Anklagepunkte II./B./ und II./C./ neben jenen nach I./A./ und I./B./).

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