OGH 10ObS51/23g

OGH10ObS51/23g24.7.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Elisabeth Schmied und Mag. Dr. Werner Hallas (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E*, vertreten durch Mag. Franz Kellner, Rechtsanwalt in Wien, als bestellter Verfahrenshelfer, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84–86, wegen Ausgleichszulage, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. März 2023, GZ 8 Rs 75/22 s-23, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00051.23G.0724.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob die Klägerin ein Daueraufenthaltsrecht iSd § 53a Abs 1 NAG, Art 16 Abs 1 Freizügigkeits-RL (Richtlinie 2004/38/EG Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004, Unionsbürger-RL oder Freizügigkeits-RL) erworben hat, woraus sich der rechtmäßige Aufenthalt der Klägerin im Inland iSd § 149 Abs 1 GSVG ergeben würde.

[2] Die Klägerin, eine polnische Staatsangehörige, lebt seit November 2005 in Österreich. Von Februar 2006 bis Oktober 2009 verfügte sie über eine Gewerbeberechtigung als Hausbetreuerin und übte diese Tätigkeit, aufgrund derer sie der Pflichtversicherung nach dem GSVG unterlag, bis Ende April 2009 aus. Im Anschluss daran arbeitete sie etwa vier Monate ohne Anmeldung zur Sozialversicherung als Reinigungskraft. Ab 11. 11. 2010 bezog sie Mindestsicherung. Für den Zeitraum von 3. 8. 2012 bis 5. 10. 2012 war sie als Angestellte zur Sozialversicherung angemeldet. Im Übrigen übte sie keine Erwerbstätigkeit in Österreich aus und bezog durchgängig Mindestsicherung und zeitweise auch Mietbeihilfe. Nach dem Vorbringen der Beklagten war sie ab Februar 2017 als arbeitssuchend gemeldet.

[3] Die Vorinstanzen wiesen das auf Gewährung einer Ausgleichszulage ab dem 1. 11. 2018 gerichtete Klagebegehren ab.

[4] Das Berufungsgericht ließ die Revision nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

[5] Die außerordentliche Revision der Klägerin ist nicht zulässig.

[6] 1. Das Berufungsgericht hat die Anforderungen, die an die Ausführung des Berufungsgrundes der Mangelhaftigkeit des Verfahrens gemäß § 496 Abs 1 Z 2 ZPO zu richten sind, zutreffend dargestellt, sodass darauf verwiesen werden kann (§ 510 Abs 3 ZPO).

[7] Ob das Berufungsvorbringen den Anforderungen an die Darstellung der Wesentlichkeit des Verfahrensmangels genügt, kann nur nach den Umständen des einzelnen Falls beurteilt werden (RS0043039 [T7]).

[8] Im vorliegenden Fall beurteilte das Berufungsgericht das Vorbringen, das Erstgericht hätte „nach Anleitung der Klägerin“ zu den Behauptungen, die Klägerin sei „in den Jahren 2012, 2013 und 2015 bis 2018“ vorübergehend arbeitsunfähig und in den Jahren 2011 bis 2015 „laufend Mindestsicherungsbezieherin oder arbeitssuchend“ gewesen, Beweise aufnehmen müssen, als nicht gesetzmäßige Ausführung des Berufungsgrundes des § 496 Abs 1 Z 2 ZPO, weil ein Vorbringen fehle, welche konkreten Beweisanträge die Klägerin im Fall der Erörterung gestellt hätte und welche von den erstgerichtlichen Feststellungen abweichende Sachverhaltsgrundlage sich daraus ergeben hätte.

[9] Darin liegt eine vertretbare Beurteilung des Berufungsvorbringens im konkreten Einzelfall. Eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens kann aus der Erledigung der Verfahrensrüge durch das Berufungsgericht nicht abgeleitet werden. Soweit ein Beweisverfahren zur Behauptung vermisst wird, die Klägerin sei „bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit … der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice in den Jahren 2011 bis 2015 … zur Verfügung gestanden“, hat die Klägerin ein solches Vorbringen in erster Instanz nicht erstattet, es widerspricht daher dem Neuerungsverbot. Das Beklagtenvorbringen, auf das die außerordentliche Revision Bezug nimmt, lautete hingegen dahin, dass die Klägerin in diesem Zeitraum Mindestsicherungsbezieherin oder arbeitssuchend gewesen sei, wozu ohnehin Feststellungen getroffen wurden. Der Umstand, dass die Klägerin ab Februar 2017 als arbeitssuchend gemeldet war, wurde von der Beklagten vorgebracht und ist der Entscheidung als unstrittig zugrunde zu legen (vgl RS0083785 [T3]).

[10] Eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung aufgrund eines Verstoßes des Berufungsgerichts gegen das Verfahrensrecht wird daher nicht aufgezeigt.

[11] 2. Auch im Zusammenhang mit der Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts der Klägerin iSd § 149 Abs 1 GSVG wird keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO dargetan:

[12] Nach Art 16 Abs 1 der Unionsbürger-RL (umgesetzt in § 53a Abs 1 NAG) hat jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten.

[13] Nach § 51 Abs 1 Z 1 NAG sind aufgrund der Freizügigkeits-RL EWR-Bürger zum Aufenthalt von mehr als drei Monaten berechtigt, wenn sie Arbeitnehmer oder Selbständige sind.

[14] Nach § 51 Abs 2 NAG bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft als Arbeitnehmer oder Selbständige dem EWR-Bürger, der diese Erwerbstätigkeit nicht mehr ausübt, erhalten, wenn er

Z 1: wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig ist;

Z 2: sich als Arbeitnehmer bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice zur Verfügung stellt.

Z 3: sich als Arbeitnehmer bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice zur Verfügung stellt, wobei in diesem Fall die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten erhalten bleibt,

[...]

[15] § 51 Abs 2 Z 1 bis 3 NAG beruht auf Art 7 Abs 3 lit a bis c Freizügigkeits-RL. Nach der Rechtsprechung des EuGH kann ein Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger vorübergehend aufgegeben hat, die Erwerbstätigeneigenschaft nach Art 7 Abs 3 der Freizügigkeits-RL nur behalten, wenn er innerhalb eines angemessenen Zeitraums zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats fähig ist und hiefür zur Verfügung steht (EuGH 13. 9. 2018, C‑618/16 , Prefeta, Rz 37; 11. 4. 2019, C-483/17 , Tarola, Rz 40).

[16] Art 7 Abs 3 Freizügigkeits-RL betrifft demnach Situationen, in denen innerhalb einer angemessenen Frist mit der Wiedereingliederung des Unionsbürgers in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats gerechnet werden kann (Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht14 [2022] FreizügigkeitsG/EU § 2 Rz 129).

[17] In der außerordentlichen Revision steht die Klägerin auf dem Standpunkt, das Berufungsgericht habe verkannt, dass sie aufgrund ihrer zunächst ausgeübten Erwerbstätigkeit, auf die Zeiten der vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit und der ordnungsgemäß gemeldeten unfreiwilligen Arbeitslosigkeit gefolgt seien, ein Daueraufenthaltsrecht erworben habe.

[18] Im vorliegenden Fall stellte die Klägerin im Verfahren erster Instanz – ebenso im Berufungsverfahren – für die auf die Beendigung ihrer Erwerbstätigkeit folgenden Kalenderjahre 2010 und 2011 allerdings gar nicht die Behauptung auf, sich beim Arbeitsmarktservice gemeldet zu haben und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestanden zu sein. Auch ihr Vorbringen, arbeitsunfähig gewesen zu sein, bezog sich als frühesten Zeitraum auf das Jahr 2012.

[19] Im Anschluss an die zu einem nicht genau festgestellten Zeitpunkt gegen Ende des Jahres 2009 beendete Erwerbstätigkeit der Klägerin lag daher keine Situation vor, in der der Klägerin nach § 51 Abs 2 Z 1 oder 2 NAG iVm Art 7 Abs 3 lit a oder b Freizügigkeits-RL die Erwerbstätigeneigenschaft erhalten geblieben wäre.

[20] Die Klägerin behauptete im Verfahren auch nicht, im Anschluss an die Aufgabe ihrer Erwerbstätigkeit über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt zu haben, woraus ein rechtmäßiger Aufenthalt gemäß § 51 Abs 1 Z 2 NAG iVm Art 7 Abs 1 lit b Freizügigkeits-RL folgen hätte können. Im Anschluss an die Aufgabe der rund dreieinhalb Jahre andauernden Erwerbstätigkeit der Klägerin schloss daher ein Zeitraum an, für den keine Grundlage für ein Aufenthaltsrecht der Klägerin zu erkennen ist. Ein fünf Jahre andauernder rechtmäßiger und ununterbrochener Aufenthalt, der ein Daueraufenthaltsrecht der Klägerin begründen hätte können (§ 53a Abs 1 NAG; Art 16 Abs 1 Freizügigkeits-RL), liegt daher in diesem Zeitraum nicht vor.

[21] Auch im Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis der Klägerin von 3. 8. 2012 bis 5. 10. 2012 ergibt sich keine fünfjährige Dauer eines rechtmäßigen Aufenthalts. Im Zusammenhang mit der für das Jahr 2012 und die Folgejahre behaupteten Arbeitsunfähigkeit der Klägerin ist vielmehr ebenfalls zu beachten, dass ein Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit vorübergehend aufgegeben hat, das Aufenthaltsrecht nach der Freizügigkeits-RL nur behalten kann, wenn er innerhalb eines angemessenen Zeitraums zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats fähig ist und hiefür zur Verfügung stand (vgl EuGH 11. 4. 2019, C-483/17 , Tarola, Rz 40). Nach dem Akteninhalt war die Klägerin aber erst ab Februar 2017 als arbeitssuchend gemeldet; eine frühere Meldung beim Arbeitsmarktservice wird von ihr nicht konkret behauptet. Ihr Vorbringen geht vielmehr dahin, durch eine jahrelang andauernde Arbeitsunfähigkeit dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung gestanden zu sein.

[22] Die Entscheidung der Vorinstanzen entspricht der dargestellten Rechtslage.

[23] Eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO wird in der außerordentlichen Revision daher nicht aufgezeigt.

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