OGH 23Ds18/22g

OGH23Ds18/22g29.6.2023

Der Oberste Gerichtshof als Disziplinargericht für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter hat am 29. Juni 2023 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Lovrek als weitere Richterin sowie die Rechtsanwälte Dr. Kreissl und Dr. Schlager als Anwaltsrichter in Gegenwart des Schriftführers Mag. Wunsch in der Disziplinarsache gegen *, Rechtsanwalt in *, wegen der Disziplinarvergehen der Verletzung von Berufspflichten sowie der Beeinträchtigung der Ehre oder des Ansehens des Standes nach § 1 Abs 1 erster und zweiter Fall DSt über die Berufung des Beschuldigten gegen das Erkenntnis des Disziplinarrats der * Rechtsanwaltskammer vom 21. Oktober 2021, AZ D 16/19 (3 DV 24/19), nach mündlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Gföller, und des Kammeranwalts Dr. Orgler zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0230DS00018.22G.0629.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

In Stattgebung der Berufung wird das angefochtene Erkenntnis aufgehoben und in der Sache selbst erkannt:

* wird von dem wider ihn erhobenen Vorwurf, er habe von 5. September 2018 bis zum November 2018 durch gleichzeitige Begründung eines Mandantsverhältnisses zur J* GmbH (FN *) einerseits und zu deren Gesellschafter * J* persönlich andererseits gegen das Verbot der Doppelvertretung (§ 10 RAO) verstoßen, gemäß § 38 Abs 1 erster Fall iVm § 54 Abs 3 DSt freigesprochen.

Mit seiner gegen den Ausspruch über die Strafe gerichteten Berufung wird der Beschuldigte auf diese Entscheidung verwiesen.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde * der Disziplinarvergehen der Verletzung von Berufspflichten sowie der Beeinträchtigung der Ehre oder des Ansehens des Standes nach § 1 Abs 1 erster und zweiter Fall DSt schuldig erkannt, weil er „als Gesellschafter der * Rechtsanwälte GmbH durch gleichzeitige Begründung eines Mandantsverhältnisses zur Gesellschaft, der J* GmbH zu FN *, und deren Gesellschafter * J* persönlich und zwar im Zeitraum vom 5. September 2018 bis zum November 2018, einen Verstoß gegen § 1 DSt iVm § 10 Abs. 1 RAO … zu verantworten“ habe.

Rechtliche Beurteilung

[2] Dagegen richtet sich die Berufung des Disziplinarbeschuldigtenwegen der Aussprüche über die Schuld (zur Geltendmachung von Nichtigkeitsgründen in deren Rahmen s RIS‑Justiz RS0128656 [T1]) und die Strafe.

[3] Die Rechtsrüge (Z 9 lit a) zeigt im Ergebnis zutreffend auf, dass die Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses weder die rechtliche Annahme einer Verletzung der Berufspflichten noch die einer Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes zu tragen vermögen.

[4] Nach den wesentlichen Feststellungen des Disziplinarrats plante der Minderheitsgesellschafter der J* GmbH, * S*, die Abtretung seiner Geschäftsanteile an den geschäftsführenden Gesellschafter des Unternehmens, * J*, welcher vom Beschuldigten vertreten wurde. Zwischen den Gesellschaftern bestanden im September 2018 noch „gewisse Auffassungsunterschiede“ bezüglich „diverser Abtretungs-modalitäten (Finanzierung, Transaktionsstruktur)“.

[5] Ein Aufforderungsschreiben betreffend „Informationserteilung zur Gesellschaft“ durch den Vertreter des * S*, wurde – zufolge urlaubsbedingter Abwesenheit des Beschuldigten – von dessen Kanzleipartner „im Auftrag und in Vertretung der J* GmbH“ beantwortet.

[6] Im Zuge der am 11. Oktober 2018 durchgeführten ordentlichen Generalversammlung der Gesellschaft wurden * J* vom Beschuldigten und * S* von seinem eigenen Rechtsbeistand vertreten. Gegen das vom Beschuldigten in der Generalversammlung diktierte und schriftlich ausgefertigte Protokoll über diese Versammlung erhob * S* Einwendungen und begehrte dessen Berichtigung, eine Anfechtung (oder die Erstattung eine „Strafanzeige aufgrund des erstellten Generalversammlungsprotokolls“) erfolgte nicht.

[7] Mit Schreiben vom 30. Oktober 2018 forderte der Beschuldigte den Minderheitsgesellschafter * S* „namens der J* GmbH“ auf, die Nutzung der Infrastruktur der Gesellschaft „mangels operativer Funktion“ zu unterlassen.

[8] Die geplante Abtretung der Geschäftsanteile von S* an * J* erfolgte schließlich im August 2019 ohne Zutun des Beschuldigten, der oder dessen Gesellschaft, die * Rechtsanwälte GmbH, „seit Ende November 2018 nicht mehr vertraten“ (US 5 ff).

[9] Durch das geschilderte Verhalten habe der Beschuldigte „zuerst den Gesellschafter * J* und dann gleichzeitig die J* GmbH vertreten“ und dabei „sowohl Vertretungshandlungen bzw. Beratungen für den Gesellschafter J* (im Zuge der Abtretungsverhandlungen und der Generalversammlung) als auch Vertretungshandlungen für die Gesellschaft (im Zusammenhang mit den Streitigkeiten bzgl. Informationsrechte über die Gesellschaft) jeweils gegenüber dem (Minderheits‑)Mitgesellschafter, * S*, gesetzt“ (US 8).

[10] Auf dieser Basis vertrat der Disziplinarrat – nach Wiedergabe der Bestimmungen der § 10 RAO und § 10 RL‑BA 2015 (letztere unter Hervorhebung deren Abs 1 Z 4 durch Unterstreichung) und allgemeinen Ausführungen zur „echten“ oder „materiellen“ im Gegensatz zur „formellen“ Doppelvertretung – die Auffassung, der Beschuldigte habe „durch diese Vertretungen sowohl des Gesellschafters als auch gleichzeitig der Gesellschaft gegenüber dem Mitgesellschafter gegen das Verbot der DoppelvertretungiSd § 10 RAO iVm § 10 RL‑BA 2015 schuldhaft verstoßen“ (US 8).

[11] Materielle (echte) Doppelvertretung liegt nach § 10 Abs 1 RAO vor, wenn der Rechtsanwalt eine Vertretung übernimmt und auch nur einen Rat erteilt, er in derselben oder einer damit zusammenhängenden Sache aber auch die Gegenpartei vertritt oder vertreten hat. Als Ausfluss der umfassenden Treuepflicht gegenüber seinen Mandanten (§ 9 Abs 1 erster Satz RAO) hat sich der Rechtsanwalt von jeglicher – auch nur möglichen – Interessenkollision fernzuhalten. Danach richtet sich auch die begrifflich weite Auslegung des Tatbestands sowohl in Bezug auf die „zusammenhängende Sache“ als auch die Frage der „Gegenpartei“ (Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO11 § 10 RAO Rz 11, DSt § 1 Rz 37 ff; RIS-Justiz RS0054995 [T13, T25, T26, T29], RS0117715, RS0055492, RS0055534; ausführlich zuletzt 20 Ds 9/21k mwN).

[12] Davon ausgehend zeigt der Berufungswerber zutreffend auf, dass den Feststellungen nicht zu entnehmen ist, dass er gleichzeitig oder in einer zusammenhängenden Sache für eine Partei und dann gegen diese Partei anwaltlich tätig geworden wäre. Denn zwischen einer Kapitalgesellschaft und ihren Gesellschaftern besteht ebenso wenig Identität wie zwischen der juristischen Person und deren Organen (RIS‑Justiz RS0055023 [T4]), sodass vorliegend eine auch nur mittelbare (über die J* GmbH) Vertretung des * S* durch den Beschuldigten nicht in Rede steht (vgl auch 25 Ds 2/20s). Bleibt nur der Vollständigkeit halber anzumerken, dass Doppelvertretung – weil insoweit nicht allfällige Treuepflichten gegenüber den Gesellschaftern einer Kapitalgesellschaft, sondern ausschließlich jene gegenüber der juristischen Person selbst maßgeblich sind – vor allem dann verwirklicht sein kann, wenn ein Rechtsanwalt ein Unternehmen, dem selbst Rechtspersönlichkeit zukommt, und gleichzeitig einen Gesellschafter dieses Unternehmens gegen das Unternehmen vertritt (ausführlich 20 Os 9/16y, RIS‑Justiz RS0055023 [T6]). Ein solcher Fall liegt aber hier nach den Sachverhaltsannahmen des Disziplinarrats gerade nicht vor.

[13] Seit der Streichung des § 14 RL‑BA 1977 durch das Inkrafttreten der RL‑BA 2015 reicht die bloße Setzung von Vertretungshandlungen des eine Gesellschaft vertretenden Rechtsanwalts für einen Gesellschafter gegen einen anderen Gesellschafter für die Annahme einer „formellen“ Doppelvertretung nicht mehr aus (in dieser Allgemeinheit daher [in Bezug auf „einen Streit der Gesellschafter untereinander“] daher überholt: RIS‑Justiz RS0055504; vgl aber ES 8). Nunmehr ist bei solchen Konstellationen anhand der Kriterien des § 10 RL‑BA 2015 inhaltlich zu prüfen, ob Klienteninteressen konkret gefährdet wurden (vgl Engelhart/ Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO11 § 10 RAO Rz 25, § 1 DSt Rz 39 ff; erneut 25 Ds 2/20s).

[14] Für einen – vom Disziplinarrat (aus der durch Unterstreichung erfolgten Hervorhebung der Bestimmung [ES 8] erkennbar) angenommenen – Verstoß gegen § 10 Abs 1 Z 4 RL‑BA 2015 fehlt es dem Erkenntnis an einer – nach dem Vorgesagten aber zur rechtsrichtigen Subsumtion erforderlichen – Sachverhaltsbasis, welche bei objektiver Betrachtung befürchten ließe, der Disziplinarbeschuldigte wäre gegenüber einem seiner beiden Mandanten in Folge des anderen Mandats nicht mit dem erforderlichen Eifer, der gebotenen Treue und Gewissenhaftigkeit (§ 9 Abs 1 RAO) tätig geworden (vgl Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/ Vitek, RAO11 § 10 RL‑BA 2015 Rz 23).

[15] Dieser Rechtsfehler mangels Feststellungen erfordert – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – die Aufhebung des Schuldspruchs und damit auch des Strafausspruchs, ohne dass es eines Eingehens auf das weitere Berufungsvorbringen bedürfte.

[16] Da nach der Aktenlage Sachverhaltsannahmen, die einen Schuldspruch tragen könnten, in einem weiteren Rechtsgang nicht zu erwarten sind, war in der Sache selbst ein Freispruch zu fällen (RIS‑Justiz RS0100239, RS0118545; Ratz, WK‑StPO § 288 Rz 24).

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