OGH 14Os51/23s

OGH14Os51/23s27.6.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 27. Juni 2023 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Nordmeyer und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann, Dr. Setz‑Hummel LL.M. und Dr. Sadoghi in Gegenwart des Schriftführers Obergruber LL.M. in der Strafsache gegen * A* wegen der Verbrechen des Mordes nach §§ 15, 75 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Geschworenengericht vom 16. März 2023, GZ 614 Hv 1/23p‑80.2, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0140OS00051.23S.0627.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen, auf dem Wahrspruch der Geschworenen beruhenden Urteil wurde * A* je eines Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs 4 StGB (A./), der Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen nach § 85 Abs 2 (iVm Abs 1 Z 3) StGB (B./I./) und der schweren Körperverletzung nach (richtig:) § 83 Abs 1, § 84 Abs 5 Z 1 StGB (B./II./) schuldig erkannt.

[2] Danach hat sie in W* ihre am * 2022 geborene Tochter * D* am Körper verletzt und an der Gesundheit geschädigt, indem sie sie wiederholt heftig schüttelte, und zwar

A./ zwischen Mitte Juni 2022 und 13. Juli 2022, wodurch diese Subduralblutungen im Schädelinneren, sohin eine an sich schwere Körperverletzung mit einer 24 Tage übersteigenden Gesundheitsschädigung erlitt;

B./ am 28. Juli 2022 auf eine Weise, mit der Lebensgefahr verbunden ist (II./), wodurch diese Subduralblutungen im Schädelinneren sowie im Verlauf des Wirbelkanals auf Höhe der Brust‑ und Lendenwirbelsäule, einen ausgedehnten Gehirngewebeschaden (Parenchymschaden), fleckige Netzhautblutungen beidseits und eine Blutunterlaufung an der rechten Hüfte sowie als schwere Dauerfolge in Form eines schweren Leidens und Siechtums (§ 85 Abs 1 Z 3 StGB) für immer eine deutliche Intelligenzminderung, massive Einschränkungen in der normalen Lebensführung und erhebliche motorische Einschränkungen (I./) erlitt.

[3] Die Geschworenen haben die anklagekonformen Hauptfragen 1./ und 2./ in Richtung jeweils des Verbrechens des Mordes nach §§ 15, 75 StGB verneint. Die dazu gestellten Zusatzfragen 1./ und 2./ nach Rücktritt vom Versuch (§ 16 StGB) blieben demzufolge unbeantwortet. Die Eventualfragen nach den Verbrechen der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs 4 StGB (1./), der Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen nach § 85 Abs 2 (iVm Abs 1 Z 3) StGB (2./) und der schweren Körperverletzung nach § 83 Abs 1, § 84 Abs 5 Z 1 StGB (3./) wurden bejaht.

Rechtliche Beurteilung

[4] Die dagegen aus § 345 Abs 1 Z 1 und 6 StPO ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft geht fehl.

[5] Die Besetzungsrüge (Z 1) behauptet die Ausgeschlossenheit des Vorsitzenden des Schwurgerichtshofs nach § 43 Abs 1 Z 3 StPO. Sie siehtden Anschein seinerBefangenheit zunächst

‑ in beweiswürdigenden und rechtlichen Ausführungen im Beschluss vom 30. Jänner 2023 (ON 58), mit dem er den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Fortsetzung der über die Angeklagte verhängten Untersuchungshaft abwies und deren Enthaftung anordnete und

‑ in Ausführungen in der Festnahmeanordnung vom 28. Februar 2023 (ON 69), die aufgrund des Beschlusses des Oberlandesgerichts Wien vom 27. Februar 2023 (ON 66), mit dem der oben genannte Beschluss in Stattgebung der dagegen gerichteten Beschwerde der Staatsanwaltschaft aufgehoben wurde, erging. Das Beschwerdegericht habe die Begründung des bekämpften Beschlusses als unstatthafte, vorgreifende und auch nicht überzeugende Beweiswürdigung kritisiert. Der Vorsitzende habe in der Festnahmeanordnung lediglich auf die Ausführungen des Oberlandesgerichts Wien verwiesen, wonach ein dringender Verdacht in Richtung §§ 15, 75 StGB bestehe und dadurch erneut den Eindruck erweckt, er würde dies beharrlich ablehnen.

[6] Der Rügeobliegenheit entsprach die Beschwerdeführerin diesbezüglich – zulässigerweise außerhalb der Hauptverhandlung (RIS‑Justiz RS0097452 [T6]) – mit ihrem schriftlich gestellten Ablehnungsantrag vom 1. März 2023 (ON 1.96). Der diesen abweisenden Entscheidung des Präsidenten des Landesgerichts für Strafsachen Wien (ON 75) kommt für die Prüfung des Beschwerdevorbringens keine Bindungswirkung zu (RIS‑Justiz RS0125766; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 131). Der Oberste Gerichtshof prüft die tatsächlichen Voraussetzungen einer Ausgeschlossenheit auf Basis des Rechtsmittelvorbringens, der Akten und allenfalls gemäß § 285f StPO angeordneter Aufklärungen in freier Beweiswürdigung (RIS‑Justiz RS0125767; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 97).

[7] Ausgeschlossenheit nach § 43 Abs 1 Z 3 StPO liegt vor, wenn ein Richter an eine Rechtssache nicht mit voller Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit herantritt, somit eine Hemmung zu unparteiischer Entscheidung durch sachfremde psychologische Motive gegeben ist. Es genügt schon der entsprechende Anschein (RIS‑Justiz RS0096914).

[8] Die Umstände, wonach der Vorsitzende des Schwurgerichtshofs vor der Hauptverhandlung in gesetzeskonformer Erfüllung seiner Dienstpflichten über die Festnahme und die Untersuchungshaft entschied (Lässig, WK‑StPO § 43 Rz 15, 21), sich dabei eine (vorläufige) Meinung über den Fall bildete (RIS-Justiz RS0096914 [T19], RS0096733; Lässig, WK-StPO § 43 Rz 12), im Enthaftungsbeschluss Beweise in einer der Intention der Beschwerdeführerin zuwiderlaufenden Weise würdigte (RIS‑Justiz RS0096914 [T32]) und eine von deren Rechtsansicht abweichende (selbst im Fall ihrer Unrichtigkeit RIS‑Justiz RS0096993; Lässig, WK-StPO § 43 Rz 15) Meinung vertrat (RIS-Justiz RS0096914 [T20]; Lässig, WK‑StPO § 43 Rz 12) sowie schließlich in der – in Umsetzung der Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts getroffenen – Festnahmeanordnung vom 28. Februar 2023 zulässigerweise (vgl RIS-Justiz RS0115236) teilweise (wenn auch im Konjunktiv) auf die Ausführungen des Beschwerdegerichts verwies, sind per se nicht geeignet, bei einem verständig würdigenden objektiven Beurteiler seine volle Unbefangenheit in Zweifel zu ziehen. Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Vorsitzende angesichts allfälliger gegenteiliger Verfahrensergebnisse nicht gewillt gewesen wäre, von seiner bisherigen Meinung abzugehen (RIS-Justiz RS0096914 [T10, T19]; Lässig, WK-StPO § 43 Rz 12), werden mit dem Vorbringen nicht aufgezeigt.

[9] Die in diesem Zusammenhang aufgestellte Behauptung, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der den Geschworenen zugängliche und in der Hauptverhandlung wiederholt angesprochene Enthaftungsbeschluss vom 30. Jänner 2023 (ON 58)deren Meinungsbildung „nicht unmaßgeblich beeinflusst“ habe, genügt im Übrigen den gesetzlichen Bestimmtheitserfordernissen nicht (RIS-Justiz RS0109958; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 144).

[10] Die gleichfalls auf Z 1 gestützte Kritik an der Verhandlungsleitung des Vorsitzenden, welche aus Sicht der Beschwerdeführerin (aufgrund tendentiöser [teilweise suggestiver] Befragung der Angeklagten, dem Unterbleiben als geboten erachteter Vorhalte und Fragen an diese und den Sachverständigen sowie der Stellung von – angeblich nicht indizierten – Zusatzfragen nach dem Strafaufhebungsgrund des Rücktritts vom Versuch und der Formulierung der [mündlichen] Begründung der Abweisung des entsprechenden Abänderungsantrags der Staatsanwaltschaft) seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit in Frage stelle (vgl RIS‑Justiz RS0118445), scheitert schon daran, dass der nunmehr relevierte Sachverhalt in der Hauptverhandlung nicht gerügt wurde (§ 345 Abs 2 StPO; RIS‑Justiz RS0097452; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 139). Im (vor Beginn der Hauptverhandlung eingebrachten) Ablehnungsantrag vom 1. März 2023 geäußerte – aus dem dort beanstandeten Verhalten des Vorsitzenden im Zwischenverfahren abgeleitete – pauschale Befürchtungen voreingenommenen Verhaltens des Genannten „in seiner Funktion als Vorsitzender des Geschworenengerichts“ reichen dafür nicht aus. Da auch in der Beschwerde nicht dargelegt wurde, welche Gründe der rechtzeitigen Rüge im Weg gestanden sein sollen (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 143; RIS-Justiz RS0119225), war auf das Vorbringen nicht näher einzugehen.

[11] Bleibt daher nur der Vollständigkeit halber anzumerken, dass sowohl über die an die Geschworenen zu richtenden Fragen als auch über Anträge der Parteien auf Änderung oder Ergänzung der Fragen nicht der Vorsitzende alleine, sondern – wie hier erfolgt – der Schwurgerichtshof zu entscheiden hat (§ 310 Abs 1 und 3 StPO; RIS-Justiz RS0133673; Lässig, WK-StPO § 310 Rz 1). Eine als verfehlt erachtete Fragestellung ist Gegenstand der Anfechtung mit – ohnehin erhobener – Fragenrüge (§ 345 Abs 1 Z 6 StPO; vgl RIS-Justiz RS0100417) und stellt per se keinen Grund für eine Ablehnung des Vorsitzenden dar (vgl neuerlich RIS‑Justiz RS0118445).

[12] Die Fragenrüge (Z 6) richtet sich gegen die Stellung der (unbeantwortet gebliebenen) Zusatzfragen 1 und 2 nach Rücktritt vom Versuch (§ 16 StGB).

[13] Erfolgreiche Geltendmachung einer Fragenrüge zum Nachteil der Angeklagten setzt – neben der Einhaltung der Rügeobliegenheit des öffentlichen Anklägers, dem Begehren einer Entscheidung des Schwurgerichtshofs und dem Vorbehalt der Nichtigkeitsbeschwerde (ON 80.1, 7 f) – voraus, dass erkennbar ist, dass die Formverletzung (hier: der kritisierte Mangel der Fragestellung) einen die Anklage beeinträchtigenden Einfluss auf die Entscheidung üben konnte (§ 345 Abs 4 StPO), wofür insbesondere die Niederschrift der Geschworenen, aber auch die Rechtsbelehrung Anhaltspunkte liefern können (RIS-Justiz RS0120164; Ratz, WK-StPO § 345 Rz 81).

[14] Da die Geschworenen bereits in Ansehung der in Richtung §§ 15, 75 StGB gestellten Hauptfragen (zu 1./) „keinen Anhaltspunkt“ und „keine Beweise für einen Tötungsvorsatz“ sahen und (zu 2./) „ein bewusstes in Kauf nehmen des Todes“, dessen „bewusste Billigung“ und „ein[en] konkrete[n] Tötungsgedanke[n] bei der Angeklagten nicht [für] realistisch“ hielten (ON 80.7, 1, ON 80.7, 3; vgl dazu auch die zutreffende Rechtsbelehrung ON 80.4, 7 f, ON 80.4, 15 f), geht die vorzunehmende Nachteilsabwägung zu Lasten der Beschwerdeführerin.

[15] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1, § 344 StPO). Daraus folgt die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung (§§ 285i, 344 StPO).

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