OGH 17Ob8/23k

OGH17Ob8/23k27.4.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Präsidentin Hon.-Prof. Dr. Lovrek als Vorsitzende sowie die Hofrätinnen Mag. Malesich und Dr. Kodek und die Hofräte Dr. Stefula und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. T* R* und 2. M* R*, beide vertreten durch Dr. Sven Rudolf Thorstensen, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei E* Ges.m.b.H., *, vertreten durch die Urbanek Lind Schmied Reisch Rechtsanwälte OG in Wien, und deren Nebenintervenientin S* SE, *, vertreten durch die DLA Piper Weiss-Tessbach Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 23.862,32 EUR sA, über die Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 1. Juni 2022, GZ 4 R 27/22f‑42, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 22. Oktober 2021, GZ 49 Cg 1/19y‑37, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0170OB00008.23K.0427.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Die Kläger schlossen am 1. 7. 2013 mit der I* AG (kurz: I*) mit dem Sitz in Liechtenstein einen Vermögensverwaltungsvertrag, wozu sie an I* 53.500 EUR einschließlich einer 6%‑igen Bearbeitungsgebühr und einer 1%‑igen Bankgebühr überwiesen. Ende des Jahres 2016 kündigten sie diesen Vertrag und erhielten eine „vorläufige“ Auszahlung von 32.500 EUR.

[2] Die in Graz ansässige Beklagte war zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Vertrags gewerbliche Vermögensberaterin und als solche – wie auch M* S*, ein selbständiger gewerblicher Vermögensberater, der aufgrund einer Geschäftspartnervereinbarung ausschließlich für die Beklagte tätig war – bei der Nebenintervenientin haftpflichtversichert.

[3] Die Beklagte hatte mit I* eine Vereinbarung geschlossen, wonach sie interessierte Kunden (lediglich) als „Tippgeber“ I* zuführen und dafür eine entsprechende Provision von dieser erhalten sollte, aber keine Beratungstätigkeiten zur Vermögensverwaltung von I* durchführen durfte. Für alle Geschäftspartner der Beklagten – so auch für M* S* und den damals in Ausbildung befindlichen P* G* – galt eine (schriftliche) Organisationsrichtlinie, in der die Tippgebervereinbarung mit I* beschrieben und darauf hingewiesen wurde, dass die Beklagte und ihre einzelnen Geschäftspartner keine Wertpapierdienstleistungen und Anlagetätigkeiten – wie insbesondere die Annahme und Übermittlung von Aufträgen und Anlageberatung – erbringen dürfen und diese Tätigkeiten ausschließlich von Mitarbeitern von I* erbracht werden.

[4] Mit insolvenzgerichtlichem Beschluss vom 31. 8. 2016 wurde über das Vermögen der Beklagten ein Konkursverfahren eröffnet. Allfällige Deckungsansprüche der Beklagten gegenüber der Nebenintervenientin als Haftpflichtversicherer wurden gemäß § 119 Abs 5 IO aus der Konkursmasse ausgeschieden. Mit in Rechtskraft erwachsenem und noch am selben Tag in der Insolvenzdatei bekanntgemachtem Beschluss vom 7. 1. 2022 wurde das Konkursverfahren gemäß § 139 IO aufgehoben.

[5] Die Kläger begehren von der Beklagten 23.862,32 EUR samt 4 % Zinsen seit Klagezustellung bei sonstiger Exekution in den Deckungsanspruch gegen die Nebenintervenientin als Haftpflichtversicherer zu den (näher bezeichneten) Versicherungspolizzen der Beklagten und von M* S*; in eventu bei sonstiger Exekution (schlicht) in den Deckungsanspruch gegen die Nebenintervenientin. Sie brachten vor, zwischen ihnen und – über M* S* als deren Stellvertreter – der Beklagten sei konkludent ein Beratungsvertrag zustande gekommen, weil die Geschäftsführung der Beklagten von ihren Geschäftspartnern – entgegen der schriftlichen Organisationsrichtlinie – eine Beratung der Kunden im Hinblick auf den I*‑Vermögensverwaltungsvertrag verlangt habe. M* S* habe die Kläger als Erfüllungsgehilfen der Beklagten vor Abschluss des Vermögensverwaltungsvertrags mit I* fehlerhaft beraten, indem er nicht auf das Totalverlustrisiko hingewiesen, die Veranlagung vielmehr als gut zur Altersversorgung geeignet angepriesen und den Klägern erklärt habe, sie könnten die Investmentfonds jederzeit verkaufen und es würden außer der Bearbeitungsgebühr von 6 % und der Bankgebühr von 1 % keine weiteren Kosten anfallen. Tatsächlich habe sich das gemanagte Fondsportfolio jedoch als hochspekulativ erwiesen, zahlreiche Risiken in sich geborgen und zusätzlich seien die Erlöse mit einer 20%‑igen Quellensteuer sowie mit Performance Fees zugunsten der Beklagten belastet gewesen. Bei Kenntnis all dessen hätten die Kläger den Vermögensverwaltungsvertrag mit I* nicht geschlossen. Ihr Vertrauensschaden bestünde nach der Differenzmethode in der Investition von 53.500 EUR abzüglich des nach Auflösung des Vertrags erhaltenen Betrags von 32.500 EUR (= 21.000 EUR) zuzüglich des Erlöses aus einer Alternativanlage in Höhe von 2,5 % von 21.000 EUR vom 1. 7. 2013 bis 11. 12. 2018 von 2.862,32 EUR. M* S* sei der Beklagten als Erfüllungsgehilfe zuzurechnen, weil sie ihn in Sachen I* geschult und für jeden von ihm vermittelten Vermögensverwaltungsvertrag 15 % des vermittelten Volumens lukriert habe. Die Geschäftspartner sollten „Volumen ankarren“ und somit auch Kunden beraten; es hätte keinen Sinn gemacht, sie auf dieses Produkt zu schulen, wenn sie die Kunden dann nicht darüber hätten beraten sollen.

[6] Die Beklagte beteiligte sich – abgesehen davon, dass sie im zweiten Rechtsgang der (bereits innerhalb der Frist zur Klagebeantwortung aus eigenem auf der Seite der Beklagten beigetretenen) Nebenintervenientin aus anwaltlicher Vorsicht den Streit verkündete – am gesamten Verfahren nicht.

[7] Die Nebenintervenientin entgegnete den Klägern, die Beklagte sei in Bezug auf I* bloß „Tippgeberin“ gewesen. Es läge kein Beratungs- und/oder Auskunftsvertrag zwischen den Klägern und der Beklagten vor, zumal die Beklagte M* S* ausdrücklich nicht zum Abschluss eines solchen Vertrags bevollmächtigt habe. Selbst wenn M* S* entgegen der internen Organisationsrichtlinie der Beklagten in deren Namen eine Anlageberatung (fehlerhaft) durchgeführt haben sollte, hafte die Beklagte mangels inneren sachlichen Zusammenhangs zwischen der schädigenden Handlung und dem Aufgabenbereich von M* S* für die Beklagte nicht für daraus resultierende Schäden. Die Geschäftsführung der Beklagten habe von ihren Geschäftspartnern nicht verlangt, entgegen dem klaren Wortlaut der Organisationsrichtlinie die Kunden sehr wohl zum Produkt I* in ihrem Namen zu beraten. Die Beklagte habe ihre Geschäftspartner auch nicht in Bezug auf Vermögensverwaltungsverträge von I* geschult. Im Übrigen wurde die Fehlerhaftigkeit einer allfälligen Beratung durch M* S* sowie die Höhe des geltend gemachten Anspruchs bestritten.

[8] Das Erstgericht wies (auch) im zweiten Rechtsgang – gegen den im ersten Rechtsgang ergangenen zweitinstanzlichen Aufhebungs- und Zurückverweisungsbeschluss war der Rekurs nach § 519 Abs 1 Z 2 ZPO nicht zugelassen worden – die Klage ab, wobei es von dem eingangs zusammengefasst wiedergegeben und im Wesentlichen dem folgenden Sachverhalt ausging:

[9] Die Beklagte stellte gegenüber ihren Geschäftspartnern – also auch gegenüber M* S* und P* G* – I* als Anbieter von Vermögensverwaltungen mit äußerst guten Renditen dar. Es war daher gängige Praxis, Kunden, die den Einstiegsbetrag von 50.000 EUR aufbringen konnten, neben einem Sparplan auch eine I*-Vermögensverwaltung anzubieten. Die Beratungstätigkeiten für I* durfte die Beklagte ebenso wenig wie ihre Geschäftspartner durchführen. Auf Seiten der Beklagten war es klar, dass die Geschäftspartner hinsichtlich der I*-Produkte lediglich als Tippgeber auftreten. Jedenfalls wurde den Geschäftspartnern der Beklagten, so auch M* S*, kommuniziert, dass keine Beratung im Zusammenhang mit den I*-Produkten erfolgen durfte. Die Beklagte, insbesondere der für Marketing und Vertrieb zuständige seinerzeitige Geschäftsführer der Beklagten, wollte nicht, dass die für die Beklagte tätigen Vermögensberater im Zusammenhang mit der Vermittlung von I*-Produkten Beratungstätigkeiten ausüben; im Gegenteil waren Beratertätigkeiten untersagt. Die Beklagte wollte ausdrücklich nur, dass sie beim Produkt Tippgeberin ist. M* S* hatte keine Vollmacht von der Beklagten, hinsichtlich der I*-Produkte Beratungstätigkeiten durchzuführen.

[10] Die Geschäftspartner der Beklagten erhielten bei von Mitarbeitern von I*, insbesondere von C* D* durchgeführten Schulungen im Sinn einer Vorstellung des Produkts Informationen über I*-Produkte. Die Beklagte hat solche Schulungen nicht durchgeführt oder organisiert.

[11] M* S* war für die Kundenneugewinnung zuständig. Er übte grundsätzlich hinsichtlich der I*-Produkte keine Beratertätigkeiten aus. Er übermittelte lediglich die Kundendaten (Interessentendaten) an C* D*, der dann die Beratung durchführte. Mit dem Abschluss von Vermögensverwaltungsverträgen zwischen Kunden und I* hatte M* S* nichts zu tun.

[12] Die Kläger wollten angespartes Geld auf längere Sicht anlegen. Sie kamen über ihren Sohn in Kontakt mit P* G*, einem Vermögensberater in Ausbildung, und über diesen zu M* S*. Zwischen den beiden Klägern und M* S* fand mindestens ein Vermögensberatungsgespräch statt. Bei diesem Gespräch erwähnte M* S*, dass „er von der Beklagten sei“ und es eine Dachhaftung über die J* GmbH gebe, zählte einige Fonds auf, die auch der Erstkläger zumindest vom Namen her kannte, und empfahl den Klägern ein breit gestreutes Portfolio bei der J* GmbH mit einem monatlich zu erlegenden Betrag von 350 EUR. Hinzu kam das Produkt I*, wobei M* S* erwähnte, dass die Kläger diesen Vermögensverwaltungsvertrag nicht mit der Beklagten oder mit der J* GmbH, sondern mit I* abschließen würden und zumindest ein Betrag von 50.000 EUR zuzüglich einer Fee einzuzahlen wäre. M* S* pries das Produkt I*, das der Erstkläger vorher nicht gekannt hatte, als besonders sicher und mit einer Verzinsung von 3 bis 4 % an.

[13] Bei diesem ersten Termin wurde der Vermögensverwaltungsvertrag nicht unterschrieben, ob der „Monatssparer“ bereits damals abgeschlossen wurde, konnte nicht festgestellt werden. Die Unterschrift der Kläger auf dem Vermögensverwaltungsvertrag kam dadurch zustande, dass P* G* als Bote den Vertrag, den C* D* vorbereitet hatte, zu den Klägern brachte. Ein Beratungsgespräch mit P* G* fand dabei nicht statt, ebenso wenig ein Treffen mit und eine Beratung durch C* D*.

[14] Es konnte nicht festgestellt werden, dass die Kläger darauf vertrauten, dass M* St* entgegen der schriftlichen Organisationsrichtlinie mit Wissen und Willen der Beklagten eine Beratung im Zusammenhang mit I*‑Produkten durchführen durfte.

[15] Wäre der Erstkläger aufmerksam gemacht worden, dass es auch zu einem Totalausfall kommen könne und, dass ein allfälliger Gewinn aus der Vermögensverwaltung zu versteuern sei (Quellensteuer), hätte er den Vermögensverwaltungsvertrag nicht abgeschlossen.

[16] Im Jahr 2016 erfuhr der Erstkläger, dass sein Kontostand bei I* ziemlich stark nach unten gegangen war und sich ein Fonds sogar in Liquidation befand.

[17] Das Erstgericht führte rechtlich aus, dass ein (zumindest schlüssiges) Zustandekommen des Beratungsvertrags zwischen den Klägern und der Beklagten nicht anzunehmen sei, weil weder M* S* noch P* G* bevollmächtigt gewesen seien, einen Beratungs- oder Auskunftsvertrag über die I*‑Vermögensverwaltung für die Beklagte oder allenfalls in deren Namen abzuschließen. Auf Seiten der Beklagten liege ein Bindungswille für den Abschluss eines derartigen Vertrags weder ausdrücklich noch schlüssig vor. Es hätten sich auch keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Kläger auf ein Handeln von M* S* oder P* G* im Namen der Beklagten vertraut hätten. Die Beklagte hafte daher nicht für Beratungsfehler im Zusammenhang mit dem I*‑Vermögensverwaltungsvertrag.

[18] Das Berufungsgericht bestätigte mit der angefochtenen Entscheidung ausgehend von dem vom Erstgericht festgestellten Sachverhalt dessen Urteil. Rechtlich führte es aus, M* S* habe als Geschäftspartner der Beklagten bei deren Kunden im Zusammenhang mit der I*-Vermögensverwaltung keine Anlageberatung durchführen, sondern lediglich als Tippgeber auftreten dürfen. Ein Beratungsvertrag zwischen den Klägern und der Beklagten, vermittelt über deren Stellvertreter M* S*, sei hinsichtlich der I*-Vermögensverwaltung daher nicht zustande gekommen. Wenn M* S* über sein rechtliches Dürfen im Innenverhältnis zur Beklagten hinausgegangen sei und die Kläger in Bezug auf die I*‑Vermögensverwaltung tatsächlich beraten habe, so habe er nicht „bei“, sondern bloß „gelegentlich“ der Erfüllung der Pflichten der Geschäftsherrin, der Beklagten, gehandelt. Weil das Verhalten ihres Gehilfen M* S* aus dem allgemeinen Umkreis des Aufgabenbereichs, den er im Rahmen der Interessenverfolgung für die Beklagte wahrzunehmen gehabt habe, herausgefallen sei, hafte die Beklagte als Geschäftsherrin für ihn nicht nach § 1313a ABGB.

[19] Das Berufungsgericht ließ die Revision gemäß § 508 ZPO nachträglich mit der Begründung zu, es habe möglicherweise nicht ausreichend bedacht, dass sehr wohl ein Beratungsvertrag zwischen den Streitteilen hinsichtlich des grundsätzlichen Veranlagungswunsches der Kläger vorgelegen sei und daher auch die Auffassung vertreten werden könnte, dass M* S* mit seinen über das bloße „Tippgeben“ hinausgehenden und vertraglich der I* vorbehaltenen Ausführungen zur I*-Vermögensverwaltung gegenüber den Klägern bloß aus eigenem seine Aufgaben als Erfüllungsgehilfe der Beklagten überschritten habe, diese Handlungen jedoch noch in einem sachlichen Zusammenhang mit der Interessenverfolgung der Beklagten stünden.

[20] Gegen das Berufungsurteil richtet sich die wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene Revision der Kläger mit einem auf Klagestattgebung gerichteten Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

[21] Die Nebenintervenientin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung die Zurückweisung des Rechtsmittels, hilfsweise ihm den Erfolg zu versagen.

Rechtliche Beurteilung

[22] Die Revision ist mangels Rechtsprechung zur Rolle eines sogenannten „Tippgebers“ sowie zur Korrektur einer dem Berufungsgericht unterlaufenen Fehlbeurteilung bei Anwendung des § 1313a ABGB zulässig und im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrags auch berechtigt.

[23] 1.1. Das „Tippgebergeschäft“ ist dadurch gekennzeichnet, dass der Tippgeber einem Unternehmer die Kontaktdaten interessierter Personen (also potentieller Kunden) übermittelt, wofür er ein Entgelt („Tippgeberprovision“) erhält (vgl etwa Gruber, Der Tippgeber, ZFR 2014, 356; Dreyer/Haskamp, ZVertriebsR 2019, 321 [Entscheidungsanmerkung]). Die Aufgabe des Tippgebers besteht darin, die Möglichkeit eines künftigen Vertragsabschlusses aufzuzeigen und dazu den Kontakt zwischen den potentiellen Vertragspartnern herzustellen, somit Personen zusammenzuführen, ohne dass auf den weiteren Verlauf Einfluss genommen wird (Handig, Bundeseinheitliche Liste der freien Gewerbe, RdW 2013, 69 [72]; Weber in Münchener Kommentar zum BGB9 [2023] § 655a Rz 11). Der Tippgeber wird aus diesem Grund auch „Namhaftmacher“ oder „Kontaktgeber“ genannt (BVwG W148 2140531‑1/14E, ZFR 2018, 143 [Wolfbauer]; Reiff in Langheidt/Wandt, Münchener Kommentar zum VVG3 [2022] § 59 Rz 7; explizit für den Versicherungsbereich § 376 Z 18 Abs 8 GewO: „Alle Wortlaute von freien Gewerben, die in irgendeiner Weise, sei es auch in der Kurzbezeichnung, auf Tätigkeiten hinweisen, die in weiterer Folge zu einer Versicherungsvermittlung führen sollen, sei es insbesondere zur bloßen Benennung oder Namhaftmachung von Versicherungskunden, Versicherungsvermittlern oder Versicherungsunternehmen ['Tippgeber‘] ...“).

[24] 1.2. Die Tätigkeit des Tippgebers zielt als vorbereitende Handlung nicht auf eine konkrete Willenserklärung des Interessenten zum Vertragsschluss ab, sondern beschränkt sich auf die Aufnahme und Weiterleitung von dessen (Kontakt-)Daten (Moth in Trojer/Ramharter, Praxishandbuch IDD [2021] Kap 7.3.4; Lehmann/Rettig, Versicherungsvertrieb im Internet – Zur Abgrenzung des erlaubnisfreien Tippgebers von der regulierten Vermittlertätigkeit, NJW 2017, 596 [598]). Der Tippgeber unterstützt Unternehmer bei der Akquise von Kunden, ohne über die bloße Kundenzuführung hinaus eine Vermittlungsleistung zu erbringen (Majcen, Tippgeberprovision im Lichte von MiFID II, ÖBA 2019, 895; iglS BGH I ZR 7/13 [Rz 21]). Erst recht liegt die Beratung der potentiellen Kunden außerhalb seines Tätigkeitsbereichs (BVwG W148 2140531‑1/14E, ZFR 2018, 143 [Wolfbauer]; Hartmann/Heidinger, in Gruber/N. Raschauer, Wertpapieraufsichtsgesetz-Kommentar1.01 [2011] § 1 Rz 22a; Lehmann/Rettig, NJW 2017, 599).

[25] 2.1. Für die Beurteilung der Gehilfenhaftung nach § 1313a ABGB ist maßgebend, ob der Gehilfe bei der Verfolgung der Interessen des Schuldners tätig war, das heißt, ob er in das Interessenverfolgungsprogramm des Schuldners und damit in seinen Risikobereich einbezogen war (RS0028425). Nach ständiger Rechtsprechung haftet der Geschäftsherr nicht nach § 1313a ABGB, wenn das Verhalten des Gehilfen aus dem allgemeinen Umkreis des Aufgabenbereichs, den der Gehilfe im Rahmen der Interessenverfolgung für den Schuldner wahrzunehmen hatte, herausfällt (RS0028499; vgl auch RS0121745).

[26] 2.2. Das Berufungsgericht begründete die Abweisung der Klage im Wesentlichen damit, dass M* S* die Kläger zwar womöglich in Bezug auf I* fehlberaten, dafür die Beklagte aber nicht einzustehen habe, weil sich M* S* hier außerhalb seines Tätigkeitsbereichs im Sinne der zuvor genannten Rechtsprechung befunden habe, er also insofern nicht „Erfüllungsgehilfe“ der Beklagten iSd § 1313a ABGB gewesen sei.

[27] Diese Beurteilung wäre zutreffend, wäre Aufgabe von M* S* bei seinem Kontakt mit den Klägern ausschließlich gewesen, deren Interesse für das „I*‑Produkt“ festzustellen und hierauf bloß die Kundendaten (Interessentendaten) weiterzuleiten. Nach dem festgestellten Sachverhalt beschränkte sich seine Tätigkeit für die Beklagte gegenüber den Klägern aber nicht auf das Produkt „I*“. Zwischen ihm und den Klägern fand mindestens ein Vermögensberatungsgespräch statt, wobei er erwähnte, dass er „von der Beklagten“ sei und es eine Dachhaftung über die J* GmbH gebe, und den Klägern ein breit gestreutes Portfolio bei der J* GmbH mit einem monatlich zu erlegenden Betrag von 350 EUR empfahl. „[H]inzu kam das Produkt I*“.

[28] Dass M* S* – abseits der Thematik I* – nicht beraten durfte, wurde im Prozess nicht behauptet und wäre auch lebensfremd, handelte es sich doch bei der Beklagten damals um eine gewerbliche Vermögensberaterin. Weil es somit auch Aufgabe von M* S* war, Kunden über andere Investitionsmöglichkeiten als I* zu beraten, was er auch tat (Empfehlung eines breit gestreuten Portfolios mit einem monatlich zu erlegenden Betrag von 350 EUR), fiel die unter Missachtung des (internen) Gebots, in Bezug auf I* jede Beratung zu unterlassen, erfolgte Beratung über I* nicht aus dem allgemeinen Umkreis des Aufgabenbereichs, den M* S* im Rahmen der Interessenverfolgung für die Beklagte wahrzunehmen hatte, heraus (vgl RS0028499). Seine allgemeine Aufgabe bestand ja in der Vermögensberatung.

[29] Die Beklagte hat daher für eine allfällige Fehlberatung der Kläger durch M* S* nach § 1313a ABGB in Bezug auf I* einzustehen.

[30] 2.3. Ob eine Fehlberatung vorliegt, kann dem festgestellten Sachverhalt noch nicht entnommen werden. Die Feststellung, dass der Erstkläger den Vermögens‑verwaltungsvertrag nicht abgeschlossen hätte, wäre er darauf aufmerksam gemacht worden, „dass es auch zu einem Totalausfall kommen kann und dass ein allfälliger Gewinn aus der Vermögensverwaltung auch zu versteuern ist (Quellensteuer)“, lässt im Unklaren, ob das I*-Produkt diese (und die übrigen von den Klägern ins Treffen geführten ungünstigen) Eigenschaften aufweist. Dass M* S* die Kläger fehlerhaft beraten habe, wurde – wie auch die Höhe des geltend gemachten Anspruchs – von der Nebenintervenientin ausdrücklich bestritten.

[31] Der Fall ist somit noch nicht entscheidungsreif. Die Urteile der Vorinstanzen waren aufzuheben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzutragen. Dass die Beklagte für eine Fehlberatung der Kläger durch M* S* in Bezug auf I* nach § 1313a ABGB einzustehen hat, sollte eine solche vorliegen, ist ein abschließend erledigter Streitpunkt, der im fortgesetzten Verfahren nicht neuerlich in Frage gestellt werden kann (RS0042411 [T13]).

[32] Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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