OGH 10ObS25/23h

OGH10ObS25/23h25.4.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Hofrat Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Faber und den Hofrat Mag. Schober sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Maria Buhr (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A*, vertreten durch Dr. Borns Rechtsanwalts GmbH & Co KG in Gänserndorf, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm, Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld und Berufsunfähigkeitspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. Jänner 2023, GZ 7 Rs 77/22 b‑112, mit dem das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 2. Mai 2022, GZ 17 Cgs 77/19s, 17 Cgs 78/19p‑107, bestätigt wurde, beschlossen und zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00025.23H.0425.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

I. Der Schriftsatz des Klägers vom 16. 3. 2023 wird zurückgewiesen.

II. Der außerordentlichen Revision wird teilweise Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung zu lauten hat:

„1. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei die Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß über den 31. 7. 2019 hinaus weiter zu gewähren, besteht dem Grunde nach zu Recht.

2. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei ab 1. 8. 2019 bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheids eine vorläufige Zahlung von 500 EUR monatlich zu erbringen, und zwar die bis zur Zustellung dieses Urteils fälligen vorläufigen Zahlungen binnen 14 Tagen, die weiteren jeweils im Nachhinein am Ersten des Folgemonats.

3. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei ab 1. 9. 2019 bis 31. 12. 2020 Pflegegeld der Stufe 1 in Höhe von 157,30 EUR monatlich von 1. 9. 2019 bis 31. 12. 2019 und von 160,10 EUR monatlich von 1. 1. 2020 bis 31. 12. 2020 binnen 14 Tagen zu zahlen.

4. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei ab 1. 9. 2019 ein über die Stufe 1 hinausgehendes Pflegegeld zu zahlen, wird abgewiesen.

5. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei ab 1. 1. 2021 Pflegegeld zumindest in Höhe der Stufe 3 zu zahlen, wird zurückgewiesen. Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden, soweit sie sich auf den Anspruch auf Pflegegeld ab 1. 1. 2021 beziehen, für nichtig erklärt.

6. Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die mit 10.023,53 EUR (darin 1.670,59 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen zu ersetzen.“

Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die mit 912,41 EUR (darin 152,41 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 626,52 EUR (darin 104,42 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Zu I.:

[1] Mit seinem unzulässigen Schriftsatz (Urkundenvorlage) vom 16. 3. 2023 verstößt der Kläger gegen den Grundsatz der Einmaligkeit des Rechtsmittels und der Unzulässigkeit von Nachträgen und Ergänzungen (vgl RIS‑Justiz RS0041666).

Zu II.:

[2] Mit Bescheid vom 12. 1. 2017 anerkannte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt ab 1. 1. 2017 den Anspruch des 1968 geborenen Klägers auf eine Berufsunfähigkeitspension für die weitere Dauer der Berufsunfähigkeit. Mit Bescheid vom 19. 6. 2018 bemaß sie das Pflegegeld ab 1. 4. 2018 neu und erkannte dem Kläger ab diesem Zeitpunkt Pflegegeld der Stufe 3 zu.

[3] Mit dem angefochtenen Bescheid vom 5. 7. 2019 entzog die Beklagte, gestützt auf §§ 9, 26 BPGG, dem Kläger mit Ablauf des Monats August 2019 das Pflegegeld. Obwohl auf die Folgen hingewiesen worden sei, sei eine Wiederbegutachtung mangels Mitwirkung des Klägers nicht möglich gewesen. Es müsse daher angenommen werden, dass eine wesentliche Besserung im Zustandsbild des Klägers eingetreten sei und kein Pflegebedarf mehr bestehe.

[4] Mit dem weiteren angefochtenen Bescheid vom 5. 7. 2019 entzog die Beklagte, gestützt auf §§ 99, 271 und 366 ASVG, dem Kläger mit Ablauf des Monats Juli 2019 die Berufsunfähigkeitspension. Der Kläger sei ohne triftigen Grund trotz schriftlicher Aufforderung mit Hinweis auf die Folgen seines Verhaltens zu einer ärztlichen Untersuchung nicht erschienen.

[5] Mit seinen gegen diese Bescheide erhobenen und vom Erstgericht verbundenen Klagen begehrt der Kläger, ihm Pflegegeld zumindest in Höhe der Stufe 3 über den Ablauf des Monats August 2019 hinaus (AZ 17 Cgs 77/19s des Erstgerichts) und eine Berufsunfähigkeitspension über den Ablauf des Monats Juli 2019 hinaus zuzuerkennen (AZ 17 Cgs 78/19p).

[6] Die Beklagte wandte ein, dass der Kläger ohne triftigen Grund die für die medizinische Beurteilung des Weiterbezugs von Pflegegeld und der Berufsunfähigkeitspension erforderliche Nachuntersuchung am 20. 5. 2019 nicht wahrgenommen habe. Er sei auf die Folgen der Versäumung hingewiesen worden. Da der Kläger eine für die Entscheidungsfindung unerlässliche Untersuchung verweigert habe, sei das Pflegegeld zu entziehen gewesen. Dasselbe gelte für die Berufsunfähigkeitspension; der Kläger habe seine Mitwirkungspflicht gemäß § 366 ASVG verletzt.

[7] Im ersten Rechtsgang wies das Erstgericht die Klage ab.

[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge.

[9] Zu dem von den Parteien im ersten Rechtsgang erstatteten Vorbringen, den getroffenen Feststellungen und den Begründungen der Entscheidungen des Erstgerichts und des Berufungsgerichts wird auf die Darstellung im Beschluss 10 ObS 21/21t des Obersten Gerichtshofs verwiesen.

[10] DerOberste Gerichtshof gab der Revision des Klägers mit Beschluss vom 22. 6. 2021, AZ 10 ObS 21/21t (DRdA 2022/12, 235 [Auer‑Mayer] = DRdA‑infas 2021/227, 473 [Krammer]), Folge, hob die Urteile der Vorinstanzen auf und verwies die Sozialrechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück.

[11] Rechtlich legte er dar, dass dann, wenn die gänzliche oder teilweise Entziehung oder Minderung einer Leistung (hier: Berufsunfähigkeitspension bzw Pflegegeld) von der behaupteten Verletzung einer Obliegenheit des Anspruchsberechtigten zur Teilnahme an einer vom Versicherungsträger angeordneten ärztlichen Untersuchung abhängt (§ 99 Abs 2 ASVG; § 26 Abs 1 Z 1 und 2 sowie Abs 2 BPGG) und der Anspruchsberechtigte die Entziehungs-entscheidung in zulässiger Weise mit Klage vor dem Arbeits- und Sozialgericht bekämpft, die (Vor‑)Frage, ob der Versicherungsträger bei der Anordnung dieser ärztlichen Untersuchung sein Ermessen pflichtgemäß ausgeübt hat, der gerichtlichen Kontrolle im Rahmen der sukzessiven Kompetenz der Arbeits- und Sozialgerichte unterworfen ist. Dafür ist zu prüfen, ob die angeordnete ärztliche Untersuchung verhältnismäßig, also geeignet, erforderlich und adäquat ist.

[12] Im zweiten Rechtsgang trug das Erstgericht der Beklagten auf, Vorbringen zu den für den 20. 5. 2019 geplanten Untersuchungen des Klägers, den Untersuchungsmethoden und den zu überprüfenden gesundheitlichen Parametern zu erstatten sowie weiters bekannt zu geben, aus welchen Gründen eine weitere Nachuntersuchung angeordnet worden sei und nicht auf die bereits vorhandenen Untersuchungsergebnisse zurückgegriffen worden sei.

[13] Die Beklagte brachte in der Folge vor, sie habe den Kläger aufgrund einer anonymen Anzeige zu Nachuntersuchungen geladen, und zwar für den 7. 1. 2019 zur Überprüfung der Berufsunfähigkeit. Die Nachuntersuchung sei von einem Facharzt für Psychiatrie durchgeführt worden, weil die Berufsunfähigkeitspension aufgrund psychischer Leiden zuerkannt worden sei. Sie habe ergeben, dass die Pension weiter zu gewähren sei, allerdings sei eine Kontrolle in zwölf Monaten empfohlen worden.

[14] Hinsichtlich des Pflegegeldes sei eine Nachuntersuchung für den 25. 2. 2019 angesetzt worden, die ebenfalls von einer Fachärztin für Psychiatrie durchgeführt worden sei, weil auch das Pflegegeld der Stufe 3 aufgrund psychischer Leiden zuerkannt worden sei. In der Zwischenzeit sei am 29. 1. 2019 ein Antrag auf Erhöhung des Pflegegeldes eingelangt, dem zahlreiche Befundberichte über eine Verschlechterung des psychischen Zustands des Klägers angeschlossen gewesen seien. Die Ärztin der Beklagten habe aufgrund der Untersuchung vom 25. 2. 2019 nur mehr einen Pflegebedarf im Ausmaß der Pflegegeldstufe 1 festgestellt. Auf dieser Grundlage habe der chefärztliche Dienst der Beklagten am 12. 3. 2019 eine – im Einzelnen dargestellte – wesentliche Besserung im Vergleich zum Gewährungsgutachten vom 13. 6. 2018 festgestellt. Gleichzeitig habe er Nachuntersuchungen aus den Fachgebieten der Psychiatrie, Inneren Medizin und Orthopädie nach drei Monaten angeordnet, weil das Ergebnis der Nachuntersuchung zu einer Herabsetzung des Pflegegeldes von der Stufe 3 auf die Stufe 1 geführt hätte, in der Zwischenzeit aber der Erhöhungsantrag vom 29. 1. 2019 eingelangt sei und in einer solchen Konstellation zu Gunsten des Versicherten eine Herabsetzung nicht sofort, sondern erst nach nochmaliger Wiederbegutachtung durchgeführt werde. Auch aus diesen Gründen sei die Ladung vom 9. 4. 2019 zur Nachuntersuchung am 20. 5. 2019 ergangen. Darüber hinaus seien die vorgelegten Befunde im Widerspruch zu den Anstaltsgutachten zum Pflegegeld gestanden, woraus sich der Verdacht der Simulation ergeben habe. Daher sei es „nahe gelegen“, den Kläger auch hinsichtlich der Berufsunfähigkeit neuerlich zu untersuchen, zumal laut dem Gutachten vom 7. 1. 2019 die Möglichkeit einer Besserung bestanden habe.

[15] Die für den 20. 5. 2019 vorgesehene psychiatrische Nachuntersuchung habe die endgültige Klärung des Pflegebedarfs und des rechtmäßigen Bezugs der Invaliditätspension angestrebt. Dabei sollte gegebenenfalls nach einer psychologischen Testung überprüft werden, ob die behaupteten neurologischen und psychischen Leiden objektivierbar seien. Zusätzlich hätten Gutachten aus den Fachgebieten der Inneren Medizin und Orthopädie erstellt werden sollen, die noch nicht Gegenstand der Wiederbegutachtung gewesen seien. Bei den üblichen standardisierten Untersuchungen sei es nicht immer möglich, multiple Beschwerden wie die vom Kläger angegebenen psychischen oder psychogenen Leiden sofort abschließend zu objektivieren. Jedenfalls hätten die nach der zweiten Untersuchung vorliegenden Daten dazu nicht ausgereicht. Die für den 20. 5. 2019 angeordnete Untersuchung sei zur Aufklärung von Widersprüchen und Beseitigung von Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Leistungsbezugs sowie zur Prüfung des Pflegegelderhöhungsantrags geeignet und das gelindeste Mittel gewesen. Sie hätte einem legitimen öffentlichen Interesse gedient und sei dem Kläger zumutbar gewesen. Auch ex post betrachtet habe sich in dem beim Erstgericht geführten Verfahren wegen Pflegegeldes (AZ *) eine Besserung des Gesundheits-zustands des Klägers gegenüber dem Gewährungszeitpunkt ergeben. Die Beklagte habe das ihr eingeräumte Ermessen daher rechtmäßig ausgeübt.

[16] Ergänzend brachte sie vor, der Kläger habe am 20. 2. 2019 beim Bundesverwaltungsgericht eine als Leistungsantrag zu wertende „Beschwerde“ über das Gutachten vom 7. 1. 2019 erhoben und die „Gewährung der Berufsunfähigkeitspension auf Dauer“ beantragt. Dieses Schreiben habe bei der Untersuchung am 25. 2. 2019 nicht berücksichtigt werden können. Die Beklagte sei aber angesichts dieses „Antrags“ verpflichtet gewesen, eine weitere Untersuchung hinsichtlich der Berufsunfähigkeit durchzuführen und bei dieser Gelegenheit vor der Herabsetzung des Pflegegeldes von Stufe 3 auf Stufe 1 den Pflegebedarf noch einmal zu prüfen. Die dritte Nachuntersuchung sei zudem deshalb erforderlich gewesen, weil der Kläger mit Schreiben vom 25. 3. 2019 eine Amtshaftungsklage gegen die Beklagte in Aussicht gestellt und ein weiteres Privatgutachten vom 19. 3. 2019 vorgelegt habe.

[17] Richtig sei, dass die Beklagte dem Kläger am 16. 1. 2019 eine Mitteilung übermittelt habe, wonach die Wiederbegutachtung das weitere Vorliegen der Berufsunfähigkeit ergeben habe. Das Nachuntersuchungsverfahren sei zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht abgeschlossen gewesen.

[18] Der Kläger replizierte, die Anordnung der Nachuntersuchung für den 20. 5. 2019 sei nicht verhältnismäßig gewesen, weil die erforderlichen Entscheidungsgrundlagen bereits aufgrund der Nachuntersuchungen vom 7. 1. 2019 und vom 25. 2. 2019 vorgelegen seien. Aufgrund der bereits durchgeführten Nachuntersuchung aus dem Fachgebiet der Neurologie und Psychiatrie hätte die Beklagte dem Kläger zumindest Pflegegeld der Stufe 1 sowie die Berufsunfähigkeitspension weitergewähren müssen. Es habe keiner neuerlichen Untersuchung durch einen Facharzt für Psychiatrie, psychologischen Testung oder psychologischer Messungen bedurft, sodass die Anordnung der Nachuntersuchung am 20. 5. 2019 für den neurologisch-psychiatrischen Fachbereich nicht verhältnismäßig gewesen sei.

[19] Hinsichtlich der Fachgebiete der Orthopädie und der Inneren Medizin seien der Beklagten spätestens am 29. 1. 2019 (Erhöhungsantrag des Klägers) die Gesundheitsbeeinträchtigungen des Klägers aus diesen Fächern bekannt gewesen. Soweit die Beklagte weitere Untersuchungen benötigt hätte, hätte sie diese bereits für den 25. 2. 2019 anordnen müssen. Daher sei die Anordnung der Nachuntersuchung für den 20. 5. 2019 nicht verhältnismäßig gewesen.

Im zweiten Rechtsgang steht folgender Sachverhalt fest:

[20] Ende 2018 langte bei der Beklagten eine anonyme Anzeige ein, wonach der Kläger seine von der Beklagten bezogenen Leistungen zu Unrecht beziehe (Verdacht auf Sozialbetrug). Der Kläger zieht grundsätzlich nicht in Zweifel, dass die Beklagte dies zum Anlass für Nachuntersuchungen nehmen durfte.

[21] Am 7. 1. 2019 unterzog er sich einer Nachuntersuchung durch einen Facharzt für Psychiatrie im Kompetenzzentrum der Beklagten. Dieser erkannte in seinem Gutachten keine wesentliche Besserung gegenüber dem Vorgutachten, hielt jedoch eine Besserung innerhalb von 12 Monaten für möglich. Mit chefärztlicher Stellungnahme vom 9. 1. 2019 wurde innerhalb der Beklagten festgehalten, dass die Berufsunfähigkeit des Klägers auf Dauer bestehe, eine Besserung des Gesundheitszustands ausgeschlossen und berufliche Rehabilitationsmaßnahmen nicht zweckmäßig und zumutbar seien.

[22] Mit Schreiben vom 11. 1. 2019 lud die Beklagte den Kläger zu einer Untersuchung für den 25. 2. 2019 im Kompetenzzentrum Begutachtung ein. Nach dem insofern unstrittigen Inhalt der Beilage ./28 hatte diese Einladung auszugsweise folgenden Wortlaut: „Nachuntersuchung Berufsunfähigkeitspension: Sie haben unseren Einladungen zur ärztlichen Untersuchung bisher leider nicht Folge geleistet. Ohne diese ärztliche Untersuchung müssten wir unsere Entscheidung aufgrund der derzeit vorliegenden Unterlagen treffen, die für eine Zuerkennung nicht ausreichen.“ Weiters wird mitgeteilt, dass Begutachtungen durch Fachärzte für Psychiatrie und Neurologie, Innere Medizin, Orthopädie sowie durch einen Psychologen/eine Psychologin vorgesehen seien.

[23] Mit Schreiben vom 18. 1. 2019 wurde der Kläger für denselben Untersuchungstermin am 25. 2. 2019 in das Kompetenzzentrum der Beklagten zur Begutachtung, „ob Pflegebedürftigkeit im seinerzeitigen Ausmaß vorliegt“, geladen.

[24] Am 29. 1. 2019 langte bei der Beklagten ein Antrag des Klägers auf Erhöhung des Pflegegeldes ein. Diesem waren zahlreiche weitere Befunde angeschlossen, in denen vorwiegend psychiatrische, aber auch internistische und orthopädische Diagnosen angeführt waren.

[25] Mit Eingabe vom 20. 2. 2019 wandte sich der Kläger an das Bundesverwaltungsgericht, um sich über das ärztliche Gutachten vom 7. 1. 2019 zu beschweren und unter einem „die Berufsunfähigkeit auf Dauer“ zu beantragen. Diese E-Mail langte am selben Tag auch bei der Beklagten ein.

[26] Am 25. 2. 2019 wurde der Kläger im Kompetenzzentrum Begutachtung der Beklagten von einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie untersucht. Obwohl in der Einladung auch Untersuchungen durch Fachärzte für Innere Medizin und Orthopädie angekündigt waren, fanden diese Untersuchungen am 25. 2. 2019 nicht statt, weil sie vom Chefarzt der Beklagten storniert wurden. Die begutachtende Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie erachtete aber zwecks schlüssiger Einschätzung des Pflegebedarfs die Begutachtung durch einen Facharzt für Innere Medizin und einen Facharzt für Orthopädie für erforderlich und hielt dies auch in ihrem kurz danach erstatteten Gutachten fest. Aus dem eigenen Vorbringen der Beklagten und dem inhaltlich nicht bestrittenen und daher vom Obersten Gerichtshof verwertbaren (vgl RS0121557 [T3]) ärztlichen Gutachten vom 12. 3. 2019 (./4) ergibt sich, dass die begutachtende Ärztin allerdings bereits rein aus psychiatrisch-neurologischer Sicht einen Pflegebedarf entsprechend der Pflegegeldstufe 1 ermittelte.

[27] Nach dem weiteren unbestrittenen Vorbringen der Beklagten erstellte der chefärztliche Dienst der Beklagten auf Basis dieses Gutachtens eine Stellungnahme vom 12. 3. 2019, die eine wesentliche Besserung im Vergleich zum Gewährungsgutachten vom 13. 6. 2018 festhielt (./9). Darin wurde festgehalten: „Sollte die jetzige Pflegegeldstufe dennoch vorübergehend aufrecht erhalten bleiben, wären bei Nachuntersuchung in drei Monaten folgende Gutachter […] zu beauftragen: FA für Psychiatrie […], FA für Innere Medizin […], FA für Orthopädie […], FA für Augenheilkunde […]“.

[28] Am 25. 3. 2019 langte bei der Beklagten ein Schreiben einer den Kläger vertretenden Rechtsanwältin ein, die Schmerzengeldansprüche gegen die Beklagte geltend machte. Diesem Schreiben war ein Privatgutachten eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie vom 19. 3. 2019 angeschlossen, in dem ein sehr schlechter psychischer Zustand des Klägers beschrieben war.

[29] Daraufhin lud die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 29. 3. 2019 zu einer ärztlichen Untersuchung in das Kompetenzzentrum Begutachtung für den 20. 5. 2019 ein und leitete dieses Schreiben mit den Worten ein: „Sie haben unseren Einladungen zur ärztlichen Untersuchung bisher leider nicht Folge geleistet. Ohne diese ärztliche Untersuchung müssten wir unsere Entscheidung aufgrund der derzeit vorliegenden Unterlagen treffen, die für eine Zuerkennung nicht ausreichen.“

[30] Mit Schreiben vom 9. 4. 2019 korrigierte die Beklagte dieses Schreiben wie folgt: „Korrektur unseres Schreibens vom 29. 3. 2019: Nachuntersuchung Berufsunfähigkeitspension und Pflegegeld: Sehr geehrter Herr [Kläger]! Zwecks Erstellung eines medizinischen Gutachtens ersuchen wir Sie dringend – in Ihrem eigenen Interesse – zur ärztlichen Untersuchung am 20.05.2019, um 08:15 Uhr, in das Kompetenzzentrum Begutachtung … zu kommen. […] Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass (gemäß § 99 ASVG und § 29 [sic] BPGG) Ihre Leistung ganz oder teilweise aberkannt werden kann, wenn Sie sich einer Nachuntersuchung entziehen.“

[31] Der Kläger war am 20. 5. 2019 sowohl körperlich als auch psychisch in der Lage, mittels eines Krankentransports im Kompetenzzentrum der Beklagten zu einer Nachuntersuchung zu erscheinen. Dies wäre auch mit keiner Gesundheitsgefährdung einhergegangen. Dies konnte er am 20. 5. 2019 auch erkennen; nachdem er aber nicht einsehen konnte, warum er innerhalb von fünf Monaten eine weitere Vorladung zwecks dritter Nachuntersuchung erhalten hatte, wollte er den Termin am 20. 5. 2019 nicht wahrnehmen.

[32] Für den 20. 5. 2019 waren aus dem neurologisch/psychiatrischen Fachgebiet eine psychologische Testung, eine (wiederholte) Beobachtung des Klägers und gegebenenfalls die Vornahme psychologischer Messungen, wie der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses und des Gesichtssinns, geplant. Aus dem internistischen Fachgebiet waren eine Anamnese, eine Erhebung des Gesamteindrucks (des Allgemeinzustands) und des Status (durch Inspektion, Abhören, Abtasten, Abklopfen des Klägers), die Durchführung eines Elektrokardiogramms und einer Herzultraschallmessung geplant. Aus dem orthopädischen Fachgebiet waren eine Anamnese, eine Erhebung des Gesamteindrucks und Untersuchung des Hautbilds (Formveränderungen), der Wirbelsäule (Haltung und Form), der unteren und oberen Extremitäten (Muskeln, Sehnen, Nerven) und der Gelenke des Klägers durch Inspektion, Abklopfen, Abtasten und Druck samt Beobachtung des Gangbildes der Beweglichkeit des Klägers vorgesehen.

[33] Bei den geplanten Untersuchungen aus allen drei Fachgebieten handelt es sich um geeignete Methoden, um das Vorliegen und den Grad der gesundheitlichen Schädigungen des Kläger, seiner Arbeitsfähigkeit und seiner Pflegebedürftigkeit zu erheben. Es handelt sich um dafür „konkret erforderliche Mittel und notwendige Maßnahmen“, die für den Kläger mit keinen Gefahren, Schmerzen oder sonstigen Beeinträchtigungen verbunden sind. Lediglich die genaue orthopädische körperliche Untersuchung kann in seltenen Fällen – vor allem bei mangelnder Kooperation und dadurch hervorgerufenen Abwehrspannungen – zu vorübergehenden kurzfristigen Schmerzen oder Beeinträchtigungen führen. Untersuchungen der genannten Art ergeben die Grundlage für eine klinisch fundierte Diagnose und solide Einschätzung der Arbeitsfähigkeit oder Pflegebedürftigkeit.

[34] Zur Notwendigkeit der geplanten Untersuchungen aus den einzelnen Fachgebieten traf das Erstgericht folgende weitere Feststellungen: Die neuerliche Begutachtung aus dem Fachgebiet der Neurologie/Psychiatrie war erforderlich, weil im Privatgutachten vom 19. 3. 2019, das dem Schreiben der rechtsfreundlichen Vertretung des Klägers vom 25. 3. 2019 beigefügt war, zahlreiche Diagnosen angeführt waren, die durch Zusatzuntersuchungen hätten verifiziert werden müssen. Ohne die geplanten internistischen Untersuchungen hätte die Beklagte nicht über den Antrag auf Erhöhung des Pflegegeldes vom 29. 1. 2019 entscheiden können; sie waren auch nötig, um einen aufgrund der anonymen Anzeige entstandenen Verdacht auf Simulation auszuschließen. Ohne die geplanten orthopädischen Untersuchungen hätte die Beklagte nicht über den Erhöhungsantrag des Klägers vom 29. 1. 2019 absprechen können.

[35] Mit rechtskräftigem Urteil vom 18. 11. 2021 zu AZ * des Erstgerichts verpflichtete das Erstgericht – auf Grund einer vom Kläger gegen den Bescheid der Beklagten vom 4. 11. 2020, mit dem ihm mit Ablauf des Monats Dezember 2020 das Pflegegeld entzogen wurde, erhobenen Klage – die Beklagte, dem Kläger ab 1. 1. 2021 Pflegegeld der Stufe 1 zu zahlen. Das Mehrbegehren auf Gewährung von Pflegegeld der Stufe 3 über den 31. 12. 2020 hinaus wurde abgewiesen wurde (Berichtigungsbeschluss vom 26. 1. 2022). Diese Entscheidungen wurden den Parteien am 24. 1. 2022 und am 28. 1. 2022 zugestellt und erwuchsen unangefochten in Rechtskraft.

[36] Das Erstgericht wies die Klage auch im zweiten Rechtsgang ab.

[37] Begründend führte es aus, die für den 20. 5. 2019 vorgesehenen Untersuchungen aus den Fachgebieten der Neurologie/Psychiatrie, Inneren Medizin und Orthopädie seien geeignet gewesen, das Vorliegen und den Grad der Gesundheitsbeeinträchtigungen des Klägers, die Einschränkungen seiner Arbeitsfähigkeit und seine Pflegebedürftigkeit festzustellen. Sie seien dazu konkret erforderlich, das gelindeste Mittel und mit keinen Gefahren für den Kläger verbunden gewesen. Im Hinblick auf den Verdacht des Sozialbetrugs, den Erhöhungsantrag betreffend das Pflegegeld, den „Antrag auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension auf Dauer“ vom 20. 2. 2019 und die Vielzahl der aus dem Frühjahr 2019 stammenden vorgelegten Befunde, die im Widerspruch zu den Gutachten der Beklagten vom Jänner und Februar 2019 gestanden seien, sei eine gründliche Nachuntersuchung des Klägers aus mehreren Fachgebieten am 20. 5. 2019 geboten gewesen. Die Beklagte habe das ihr eingeräumte Ermessen pflichtgemäß ausgeübt. Nachdem der Kläger den Ladungen bewusst nicht Folge geleistet habe, liege eine leistungsschädliche Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit vor, die zur Klageabweisung führe.

[38] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge und ließ die Revision nicht zu, weil eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zu beurteilen sei.

[39] Es übernahm den vom Erstgericht festgestellten Sachverhalt und billigte die rechtliche Begründung des Erstgerichts. Soweit der Kläger vorbringe, dass die von ihm vorgelegten Befunde nur zu einer Erweiterung der Indikation der Leistungsbegründung führen hätten können, nicht aber zu den verfahrensgegenständlichen Entziehungen, komme es darauf nicht an, weil der Oberste Gerichtshof die Rechtsansicht überbunden habe, dass zunächst die Eignung der Nachuntersuchungen zur Feststellung der Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen sei. Die für den 20. 5. 2019 angeordneten Nachuntersuchungen hätten diesem Zweck gedient und seien dafür auch erforderlich gewesen.

[40] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers, mit der er die Abänderung des Urteils im klagestattgebenden Sinn anstrebt; hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.

[41] Die Beklagte beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[42] Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht aus der im ersten Rechtsgang ergangenen Entscheidung 10 ObS 21/21t des Obersten Gerichtshofs unrichtige rechtliche Schlüsse gezogen hat. Sie ist auch teilweise berechtigt.

[43] 1.1. In der im ersten Rechtsgang ergangenen Entscheidung 10 ObS 21/21t kam der Oberste Gerichtshof zu folgendem Zwischenergebnis: Hängt die gänzliche oder teilweise Entziehung oder Minderung einer Leistung (hier: Berufsunfähigkeitspension bzw Pflegegeld) von der behaupteten Verletzung einer Obliegenheit des Anspruchsberechtigten zur Teilnahme an einer vom Versicherungsträger angeordneten ärztlichen Untersuchung ab (§ 99 Abs 2 ASVG; § 26 Abs 1 Z 1 und 2 sowie Abs 2 BPGG), und bekämpft der Anspruchsberechtigte die Entziehungsentscheidung in zulässiger Weise mit Klage vor dem Arbeits- und Sozialgericht, so ist die (Vor‑)Frage, ob der Versicherungsträger bei der Anordnung dieser ärztlichen Untersuchung sein Ermessen pflichtgemäß ausgeübt hat, der gerichtlichen Kontrolle im Rahmen der sukzessiven Kompetenz der Arbeits- und Sozialgerichte unterworfen (Rz 43).

[44] 1.2. Zur Überprüfung der pflichtgemäßen Ermessensausübung wurde klargestellt, dass eine vom Sozialversicherungsträger nach § 366 Abs 1 ASVG sowie § 26 Abs 1 Z 1 und 2 BPGG angeordnete ärztliche Untersuchung im Sinn des Art 8 EMRK verhältnismäßig, also geeignet, erforderlich und adäquat sein muss. Dazu wurde ausgeführt:

„[52] 5.7 In Bezug auf eine vom Sozialversicherungsträger gemäß § 366 ASVG bzw § 26 Abs 1 Z 1 und 2 und Abs 2 BPGG angeordnete ärztliche Untersuchung ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob diese tatsächlich geeignet ist, das in § 366 Abs 1 ASVG angesprochene Ziel ('… um das Vorliegen und den Grad von gesundheitlichen Schädigungen festzustellen, die Voraussetzung für den Anspruch auf eine Leistung sind') zu erreichen, um auf diese Weise letztlich das durch die Sozialversicherung zu tragende Risiko zu verringern (10 ObS 213/00x SSV‑NF 14/100 ua; Auer-Mayer, Mitverantwortung 171 FN 825 mwH). Dies muss – schon wegen Art 8 EMRK – auch im Anwendungsbereich des § 99 Abs 2 ASVG ebenfalls gelten (Auer-Mayer, Mitverantwortung 402). [...] Wie bereits ausgeführt droht die Sanktion der Entziehung nur so lange, wie der Versicherte einer Untersuchungsobliegenheit nicht nachkommt (Auer-Mayer, Mitverantwortung 404 mwH zu § 99 Abs 2 ASVG; ausdrücklich nach dem Wortlaut des § 26 Abs 1 BPGG).

[53] 5.8 Weiters wird zu beurteilen sein, ob die für den 20. 5. 2019 angeordnete (weitere) Nachuntersuchung im konkreten Fall erforderlich war. Von mehreren geeigneten Maßnahmen zur Feststellung des Gesundheitszustands (und dessen allfälliger Besserung) ist die gelindeste Methode zu wählen.

[54] 5.9 Unter konkreter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls wird schließlich zu prüfen sein, ob die angeordnete Untersuchung im Rahmen einer Abwägung der Interessen des Versicherten und der Versichertengemeinschaft als adäquat anzusehen ist. Dabei geht es letztlich um die Prüfung der Zumutbarkeit der angeordneten Maßnahme für den Versicherten (siehe oben 5.4; 10 ObS 58/11v SSV‑NF 25/57; Auer-Mayer, Mitverantwortung, 173; Kneihs in SV‑Komm § 366 ASVG Rz 9).

[55] 5.10 Im konkreten Fall wird bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit auch zu berücksichtigen sein, dass die Untersuchung vom 20. 5. 2019 die dritte innerhalb eines halben Jahres anberaumte Nachuntersuchung war. Der Kläger hat ihre Erforderlichkeit vor diesem Hintergrund bestritten. Die Beklagte hat allerdings geltend gemacht, dass die Nachuntersuchung vom 20. 5. 2019 auch der Erstellung weiterer Gutachten aus anderen Fachgebieten als der Psychiatrie dienen sollte (vgl etwa die Ladungen Blg ./5 und ./11, in denen auch Untersuchungen aus den Fachgebieten Orthopädie, orthopädische Chirurgie und Innere Medizin genannt sind). Dieses Vorbringen hat der Kläger bestritten. Er weist auch in der Revision darauf hin, dass die Beklagte die Entscheidung aufgrund bereits vorhandener Daten (im Sinn eines nach Art 8 EMRK gebotenen 'gelinderen' Mittels im Verhältnis zur angeordneten Untersuchung; vgl Auer-Mayer, Mitverantwortung 173) treffen hätte können. Feststellungen dazu fehlen.“

[45] 2.1. Der Kläger macht (unter anderem) geltend, die Beklagte hätte aufgrund der bereits vorhandenen Untersuchungsergebnisse vom 7. 1. 2019 und vom 25. 2. 2019 die Berufsunfähigkeitspension und das dem Kläger gewährte Pflegegeld nicht entziehen, sondern „höchstens“ das Pflegegeld auf Stufe 1 herabsetzen dürfen.

Dazu wird ausgeführt:

[46] 2.2. Die in § 366 Abs 1 ASVG normierte Untersuchungsverpflichtung unterliegt schon nach dem Wortlaut der Bestimmung einer Zweckbindung: Eine Untersuchung darf nur angeordnet werden, um das Vorliegen und den Grad von gesundheitlichen Schädigungen festzustellen, die Voraussetzung für den Anspruch auf eine Leistung sind (Auer-Mayer, Mitverantwortung in der Sozialversicherung [2018] 397). Entspricht der Versicherte der Anordnung nicht, kann der Versicherungsträger nach § 366 Abs 2 ASVG der Entscheidung über den Leistungsanspruch den Sachverhalt, soweit er festgestellt ist, zugrunde legen. Es handelt sich dabei um eine bloße Ermächtigung des Versicherungsträgers. Er darf sich mit dem ohne die strittige Untersuchung festgestellten Sachverhalt begnügen, ohne sich dem Vorwurf mangelnder Ermittlungen auszusetzen. Die Verweigerung der Untersuchung ermöglicht aber nicht, automatisch vom Nichtvorliegen der Anspruchsvoraussetzungen auszugehen (Auer-Mayer, Mitverantwortung 398). Ist daher das weitere Bestehen des Leistungsanspruchs als solches etwa aufgrund vorliegender Befunde auch ohne die Untersuchung feststellbar und nur die Höhe des Leistungsbezugs strittig und dient die Untersuchung etwa nur der Feststellung einer (noch) höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit, dann ist die Leistung auf dieser Basis trotz des Verstoßes gegen die Mitwirkungsobliegenheit (weiterhin) zu gewähren. Ist die Untersuchung allerdings aufgrund der vorliegenden Informationen auch dafür nicht erforderlich, so ist die Anordnung derselben von vornherein unzulässig (Auer‑Mayer, Mitverantwortung 399 FN 1821).

[47] 2.3. Während § 366 ASVG die Verpflichtung zur Untersuchung anordnet und als Konsequenz der Verweigerung nur die Zugrundelegung des Sachverhalts zulässt, ermöglicht § 99 Abs 2 ASVG dem Sozialversicherungsträger, die Leistung auf Zeit ganz oder teilweise zu entziehen (Auer‑Mayer, Mitverantwortung 401). Es handelt sich um ein Beugemittel, das den Versicherten dazu bringen soll, seiner Obliegenheit zur Nachuntersuchung nachzukommen (Auer‑Mayer, Mitverantwortung 401, Schramm in Mosler/Müller/Pfeil, SV-Komm [289. Lfg] § 99 ASVG Rz 13; umfassend Jabornegg, Die Entziehung von Leistungsansprüchen nach § 99 ASVG,DRdA 1983, 1 ff). Die Bestimmung zielt vor allem darauf ab, den weiteren Bezug von nicht mehr in der gewährten Höhe gebührenden und daher unter Umständen nach § 99 Abs 1 ASVG endgültig zu entziehenden Leistungen zu vermeiden (Auer‑Mayer, Mitverantwortung 401).

[48] 2.4. Aus der Zusammenschau des Wortlauts, der systematischen Stellung der Norm und dem Hinweis in den Gesetzesmaterialien (ErläutRV 599 BlgNR 7. GP  44) auf das Ziel der Verhinderung unberechtigter Leistungsbezüge wird abgeleitet, dass die Nichtduldung einer Untersuchung nach § 99 Abs 2 ASVG nur dann als Grundlage einer Entziehung in Betracht kommt, wenn die durch die Untersuchung zu gewinnenden Informationen für die Berechtigung der entzogenen Leistung konkret relevant sind. Eine Sanktionierung nach § 99 Abs 2 ASVG setzt demnach voraus, dass ein Wegfall der Leistungsvoraussetzungen ex ante betrachtet zumindest möglich und die angeordnete Untersuchung zu deren Feststellung (allenfalls in Kombination mit weiteren Untersuchungen) geeignet und erforderlich war (Auer‑Mayer, Mitverantwortung 402 f). Daraus folgt, dass dann, wenn eine Untersuchung nur der Überprüfung der Höhe der Leistungsberechtigung dient, das Weiterbestehen der Leistungsberechtigung in einem bestimmten Mindestausmaß aber unstrittig ist, eine gänzliche Entziehung der Leistung unzulässig ist (Auer‑Mayer, Mitverantwortung 406).

[49] 2.5. Nach dem festgestellten Sachverhalt fand die am 7. 1. 2019 zur Überprüfung des Anspruchs auf Berufsunfähigkeitspension durchgeführte Nachuntersuchung durch einen Facharzt für Neurologie/Psychiatrie als Reaktion auf den gegen den Kläger erhobenen Vorwurf des Sozialbetrugs statt, sodass die Überprüfung der erhobenen Vorwürfe bereits im Fokus dieser Untersuchung lag.

[50] Es steht fest, dass der gutachtende Arzt die Voraussetzungen für den Anspruch auf Berufsunfähigkeitspension bereits aufgrund der Ergebnisse seiner psychiatrischen Untersuchung vom 7. 1. 2019 als weiterhin vorhanden ansah und diese Einschätzung auch vom chefärztlichen Dienst der Beklagten geteilt wurde. Der chefärztliche Dienst erachtete sogar die vom Gutachter für möglich gehaltene Besserung als ausgeschlossen.

[51] Die für den 20. 5. 2019 angesetzte neuerliche Untersuchung aus dem Fachgebiet der Neurologie/Psychiatrie war nach den Feststellungen nur erforderlich, um zusätzliche Diagnosen, die in dem nachträglich (am 19. 3. 2019) vorgelegten Privatgutachten angeführt waren, durch weitere Untersuchungen zu verifizieren.

[52] 2.6. Im Verfahren um eine Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit bildet die vom Sachverständigen erhobene Diagnose nur die Grundlage für das von ihm zu erstellende Leistungskalkül (RS0084399). Auf Basis des Leistungskalküls ist festzustellen, in welchem Umfang der Versicherte im Hinblick auf die bestehenden Einschränkungen in seiner Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist bzw welche Tätigkeiten er ausführen kann (RS0084399 [T6]). Ergibt sich aus den bereits verifizierten Diagnosen daher ein medizinisches Leistungskalkül, aufgrund dessen die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug einer Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit erfüllt sind, so ist die Objektivierung zusätzlicher Diagnosen, die zu einer weiteren Einschränkung dess Leistungskalküls führen könnten, für die Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen nicht mehr erforderlich.

[53] 2.7. Ein solcher Fall liegt hier vor.

[54] Für die verlässliche Objektivierung des am 7. 1. 2019 erhobenen Leistungskalküls des Klägers betreffend seinen Anspruch auf Berufsunfähigkeitspension war die für den 20. 5. 2019 angeordnete Nachuntersuchung, die nur der Verifizierung zusätzlicher Diagnosen gedient hätte, nicht erforderlich.

[55] 2.8. Dies gilt nicht nur für die für den 20. 5. 2019 geplante Nachuntersuchung aus dem Fachgebiet der Neurologie/Psychiatrie. Auch die geplanten Nachuntersuchungen aus den Fachgebieten der Inneren Medizin und der Orthopädie waren für die Erhebung der Entscheidungsgrundlagen des Anspruchs auf Berufsunfähigkeitspension nicht erforderlich und daher nicht im bereits zu 10 ObS 21/21t dargelegten Sinn verhältnismäßig.

[56] Nach den Feststellungen waren diese Untersuchungen zwar „konkret erforderliches Mittel zur Beantwortung der für die Beklagte relevanten Fragen der Arbeits(un)fähigkeit […]“. Es ist aber offenkundig, dass diese Feststellungen nichts darüber aussagen, dass die Beantwortung der „Frage der Arbeits(un)fähigkeit“ aus internistischer und orthopädischer Sicht dann nicht notwendig ist, wenn sich das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen – wie im vorliegenden Fall – bereits aus der Untersuchung aus dem neurologisch-psychiatrischen Fachgebiet ergibt.

[57] 2.9. Soweit das Erstgericht feststellte, dass die für den 20. 5. 2019 angesetzte Untersuchung aus dem Fachgebiet der Inneren Medizin „auch nötig [war], um einen aufgrund der anonymen Anzeige entstandenen Verdacht auf Simulation auszuschließen“, bezieht sich diese auf dem Gutachten des Sachverständigen für Innere Medizin fußende Feststellung offenkundig auf die Notwendigkeit einer solchen Untersuchung, um ein „Simulieren“ im Hinblick auf medizinische Einschränkungen aus diesem Fachgebiet zu verhindern (vgl die Ausführungen im internistischen Sachverständigengutachten vom 16. 2. 2022, ON 94: „Fachbezogen wäre eine Untersuchung durch einen Facharzt für Innere Medizin […] nötig, um einen […] Verdacht auf Simulation durch den Kläger auszuschließen“). Auf den internistischen Befund kommt es aber – wie dargelegt – für den Anspruch des Klägers auf Berufsunfähigkeitspension nicht an.

[58] 2.10. Soweit die Beklagte den Standpunkt vertritt, das an den Verwaltungsgerichtshof gerichtete Schreiben mache die Prüfung des Anspruchs auf unbefristete Berufsunfähigkeitspension erforderlich, ist dieses Argument nicht nachvollziehbar, weil dem Kläger bereits ab 1. 1. 2017 eine unbefristete Berufsunfähigkeitspension zuerkannt worden war und die Nachuntersuchung vom 7. 1. 2019 die Prognose des Weiterbestehens von Berufsunfähigkeit ergab. Dass der Kläger mit seinem an den Verwaltungsgerichtshof gerichteten Schreiben genau dieselbe Beurteilung anstrebte, zu der der chefärztliche Dienst der Beklagten bereits gelangt war, begründet nicht die Notwendigkeit, eine neuerliche Untersuchung anzusetzen.

[59] 2.11. Daraus folgt, dass die Anordnung der Nachuntersuchungen aus den Fachgebieten der Neurologie/Psychiatrie, der Inneren Medizin und der Orthopädie für den 20. 5. 2019 im Hinblick auf die Voraussetzungen des Anspruchs des Klägers auf Berufsunfähigkeitspension als unverhältnismäßig zu qualifizieren ist.

[60] Daher kann auf den Umstand, dass der Kläger sich diesen Untersuchungen nicht unterzog, kein Leistungsentzug („Versagung“) nach § 99 Abs 2 ASVG gegründet werden.

[61] Der Revision ist daher im Hinblick auf den Anspruch auf Berufsunfähigkeitspension Folge zu geben. Der Beklagten ist gemäß § 89 Abs 2 ASGG unter sinngemäßer Anwendung des § 273 Abs 1 ZPO die Erbringung einer vorläufigen Zahlung aufzutragen.

[62] 3.1. Auch für den Anspruch auf Pflegegeld ist im Gerichtsverfahren zu prüfen, ob die Anordnung der weiteren Nachuntersuchung für den 20. 5. 2019 verhältnismäßig im Sinn der in der Entscheidung 10 ObS 21/21t und der oben dargestellten Grundsätze erfolgte.

[63] 3.2. Aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt sich, dass die seitens der Beklagten am 25. 2. 2019 durchgeführte Nachuntersuchung durch eine Fachärztin für Neurologie/Psychiatrie eine verlässliche Entscheidungs-grundlage für den allein aus neurologisch-psychiatrischen Gesundheitsbeeinträchtigungen resultierenden Pflegebedarf schuf. Aufgrund des Ergebnisses dieser Untersuchung ergab sich nach den Feststellungen ein der Pflegestufe 1 entsprechender Pflegeaufwand. Die Anordnung einer neuerlichen Untersuchung aus dem neurologisch/ psychiatrischen Fachgebiet oder aus anderen medizinischen Fachgebieten war für die Gewinnung verlässlicher Entscheidungsgrundlagen betreffend einen der Stufe 1 entsprechenden Pflegebedarf nicht erforderlich, sodass es insofern an der Verhältnismäßigkeit der Anordnung der Nachuntersuchung fehlte.

[64] 3.3. Eine neuerliche Untersuchung aus dem Fachgebiet der Neurologie/Psychiatrie (nach der am 25. 2. 2019 durchgeführten Untersuchung) war allerdings erforderlich, um die in dem vom Kläger vorgelegten Privatgutachten vom 19. 3. 2019 angeführten Diagnosen, aus denen er den Anspruch auf eine höhere Pflegegeldstufe ableitete, zu objektivieren.

[65] 3.4. Aufgrund der getroffenen Feststellungen zu den für den 20. 5. 2019 geplanten Untersuchungen aus dem Fachgebiet der Neurologie/Psychiatrie sind diese als verhältnismäßig, nämlich geeignet, erforderlich und adäquat im Hinblick auf das Ziel, einen über die Pflegestufe 1 hinausgehenden Pflegebedarf zu objektivieren, zu beurteilen.

[66] Dies gilt gleichermaßen für die geplanten Untersuchungen aus den Fachgebieten der Inneren Medizin und der Orthopädie. Auch letztere erweisen sich im Hinblick auf das Ziel der Objektivierung eines über die Pflegestufe 1 hinausgehenden Pflegebedarfs als verhältnismäßig nach den dargestellten Grundsätzen.

[67] 3.5. Die insofern (bezogen auf einen über die Pflegestufe 1 hinausgehenden Pflegebedarf) gegebene Verhältnismäßigkeit der Untersuchungsanordnung für den 20. 5. 2019 wird – entgegen der Rechtsansicht des Klägers – nicht dadurch beseitigt, dass es möglich gewesen wäre, Nachuntersuchungen aus den Fachgebieten der Inneren Medizin und der Orthopädie bereits am 7. 1. 2019 oder am 25. 2. 2019 durchzuführen, also an jenen Tagen, an denen er ohnehin das Kompetenzzentrum der Beklagten zum Zweck von Nachuntersuchungen aufsuchte.

[68] Ausgehend von dem Umstand, dass dem Kläger sowohl die Berufsunfähigkeitspension als auch das Pflegegeld der Stufe 3 aufgrund von psychiatrischen Gesundheitseinschränkungen gewährt worden waren, kann es der Beklagten nicht als Ermessensüberschreitung angelastet werden, in Folge der anonymen Anzeige zunächst nur das (Weiter‑)Bestehen der gesundheitlichen Einschränkungen aus diesem Fachgebiet zu überprüfen. Dass nicht sämtliche in Betracht kommenden Untersuchungen sofort für ein und denselben Untersuchungstermin angesetzt wurden, begründet für sich keine Unverhältnismäßigkeit der für den 20. 5. 2019 angesetzten Nachuntersuchungen.

[69] 3.6. Soweit der Kläger Pflegegeld einer höheren Stufe als der Stufe 1 begehrt, muss er sich daher die schuldhafte Verletzung seiner Mitwirkungsobliegenheit vorwerfen lassen.

[70] Der außerordentlichen Revision gegen die Entziehung des Pflegegeldes war daher nur insofern Folge zu geben, als die Beklagte zur Weitergewährung von Pflegegeld der Stufe 1 zu verpflichten war. Das Mehrbegehren, die Beklagte zur Weitergewährung von Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 zu verpflichten, war hingegen abzuweisen, da die Voraussetzungen des § 26 Abs 1 BPGG („wenn und solange“) hier nach den Verfahrensergebnissen zumindest bis zum Ablauf des 31. 12. 2020 (s dazu sogleich Pkt 4.) vorlagen.

[71] 4. Nach § 230 Abs 3 ZPO ist die Rechtskraft eines die Streitsache betreffenden Urteils jederzeit von Amts wegen zu berücksichtigen. Im vorliegenden Fall liegt über den mit der vorliegenden Klage geltend gemachten Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld zumindest der Stufe 3 hinsichtlich des Zeitraums ab 1. 1. 2021 eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung vor (AZ * des Erstgerichts). Das dadurch für den Anspruch auf Pflegegeld ab 1. 1. 2021 begründete Prozesshindernis der rechtskräftig entschiedenen Sache ist vom Obersten Gerichtshof von Amts wegen wahrzunehmen. Eine den Obersten Gerichtshof bindende Verwerfung dieses Prozesshindernisses gemäß § 42 Abs 3 JN, das der Wahrnehmung entgegen stünde (vgl RS0035572 [insb T16]; 6 Ob 74/01b), liegt nicht vor. Daher war im genannten Umfang die Klage zurückzuweisen sowie die Nichtigkeit des Verfahrens und der ergangenen Entscheidungen auszusprechen (§ 42 Abs 1 JN).

[72] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

[73] Den Klagen und den vor der Verbindung der Verfahren eingebrachten Schriftsätzen ist jeweils nur ein Streitwert von 3.600 EUR zugrunde zu legen. Nach Verfahrensverbindung mit Beschluss vom 29. 8. 2019 war die gesonderte Bekanntgabe des Vollmachtswechsels auch im verbundenen Verfahren nicht zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlich. Kein Kostenersatz gebührt dem Kläger für seinen erfolglosen (vgl Beschluss des Erstgerichts vom 27. 10. 2021) Ablehnungsantrag vom 13. 10. 2021.

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