OGH 3Ob210/22m

OGH3Ob210/22m15.12.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.‑Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun‑Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in den verbundenen Familienrechtssachen 1. des Antragstellers S*, geboren am * 1991, *, vertreten durch Dr. Michael Steskal, Rechtsanwalt in Reutte, gegen den Antragsgegner Mag. W*, vertreten durch Dr. Christian Pichler, Rechtsanwalt in Reutte, wegen Unterhaltserhöhung, und 2. des Antragstellers Mag. W*, gegen den Antragsgegner S*, wegen Unterhaltsenthebung, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Antragsgegners Mag. W* gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 26. August 2022, GZ 52 R 46/22d‑464, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 4. November 2022, GZ 52 R 46/22d‑471, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0030OB00210.22M.1215.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Unterhaltsrecht inkl. UVG

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1. Soweit der Vater einen Verfahrensmangel des Rekursgerichts darin erblickt, dass dieses die Beweisrüge des Sohnesinhaltlich behandelt habe, obwohl sie nicht gesetzmäßig ausgeführt worden sei, will er im Ergebnis die vom Rekursgericht getroffenen (Ersatz-)Feststellungen bekämpfen. Der Oberste Gerichtshof ist aber auch im Außerstreitverfahren nicht Tatsacheninstanz (vgl RS0006737).

[2] 2. Der behauptete Verstoß des Rekursgerichts gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz liegt nicht vor, weil das Erstgericht die bekämpften und vom Rekursgericht ohne Beweiswiederholung abgeänderten Feststellungen nicht aufgrund unmittelbarer Beweisaufnahmen, sondern bloß auf Basis von Sachverständigengutachten und Urkunden getroffen hat (vgl RS0126460).

[3] 3.1. Selbsterhaltungsfähig ist ein Kind dann, wenn es die zur Deckung seines Unterhalts erforderlichen Mittel selbst erwirbt oder aufgrund zumutbarer Beschäftigung zu erwerben imstande ist (RS0047567 [T4]). Fiktive Selbsterhaltungsfähigkeit liegt vor, wenn das unterhaltsberechtigte Kind nach Ende des Pflichtschulalters weder eine weitere zielstrebige Schulausbildung oder sonstige Berufsausbildung absolviert noch eine mögliche Erwerbstätigkeit ausübt, also arbeits‑ und ausbildungsunwillig ist, ohne dass ihm krankheits‑ oder entwicklungsbedingt die Fähigkeit fehlt, für sich selbst aufzukommen (vgl RS0114658). Voraussetzung der fiktiven Selbsterhaltungsfähigkeit ist, dass das Kind am Scheitern einer angemessenen Ausbildung oder Berufsausübung ein Verschulden trifft (RS0047605). Ist die Selbsterhaltungsfähigkeit wegen einer psychischen Erkrankung des Kindes nicht eingetreten, wäre sein Unterhaltsanspruch nur bei Rechtsmissbrauch zu verneinen (RS0047330). Ob ein derartiger Rechtsmissbrauch anzunehmen ist, hängt in aller Regel von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab und vermag daher – von Fällen krasser Fehlbeurteilung durch die zweite Instanz abgesehen – die Zulässigkeit des Revisionsrekurses nicht zu rechtfertigen (RS0047330 [T4]).

[4] 3.2. Das Rekursgericht hat einen Rechtsmissbrauch des Sohnes auf Basis der von ihm getroffenen Feststellungen vertretbar verneint. Es kann keine Rede davon sein, dass die Rekursentscheidung mit der Entscheidung 5 Ob 85/17m in Widerspruch stünde, weil es nicht auf fehlende Therapieeinsicht des Sohnes ankäme, sondern auf fehlende Krankheitseinsicht. Zu 5 Ob 85/17m stellte nämlich der Oberste Gerichtshof zwar auf das Fehlen von Krankheitseinsicht ab, verwies aber gleichzeitig darauf, dass die Therapieresistenz des dortigen Antragstellers ein Symptom seiner Krankheit sei. Im Ergebnis nichts anderes steht hier fest, legte das Rekursgericht seiner Entscheidung doch zugrunde, der Sohn sei trotz Kenntnis der Empfehlung einer im vorliegenden Verfahren bestellten Sachverständigen nicht einsichtsfähig gewesen, dass für ihn eine stationäre psychotherapeutische/psychosomatische Therapie notwendig und zumutbar sei, wodurch erst das Hindernis für die Inanspruchnahme einer solchen Therapie weggefallen wäre; die mangelnde Einsicht in die Zumutbarkeit einer solchen Therapie sei aber gerade Teil des Krankheitsbildes des Sohnes.

[5] 4. Für eine Anwendung der aus dem Schadenersatzrecht stammenden Schadensminderungspflicht nach § 1304 ABGB auf Unterhaltsansprüche eines Kindes fehlt eine gesetzliche Grundlage. Mangels analogiefähigen Sachverhalts besteht auch kein Anlass für eine solche Anwendung. Die Verneinung eines Unterhaltsanspruchs kommt erst bei Rechtsmissbrauch in Betracht, also bei einem vorsätzlichen Verhalten, das die durch die Unterhaltsleistungen abzudeckenden Bedürfnisse erst schafft oder das Zulangen der vor dem Akutwerden der geltend gemachten Fremdleistungspflicht auszuschöpfenden Mittel beeinträchtigt (vgl RS0047330). Diese ständige Rechtsprechung zeigt, dass eine bloße Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten – etwa bei der Aufnahme eines Beschäftigungsverhältnisses oder Verweigerung einer an sich zumutbaren Therapie – allein noch nicht zum (teilweisen) Verlust eines Unterhaltsanspruchs des Kindes führen kann (5 Ob 85/17m).

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