OGH 9ObA48/22g

OGH9ObA48/22g31.8.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Mag. Korn sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Manfred Joachimsthaler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Christian Lewol (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei T*, vertreten durch Oberbichler & Kramer, Rechtsanwälte in Feldkirch, gegen die beklagte Partei R* GmbH und Co OG, *, vertreten durch Dr. Bertram Grass/Mag. Christoph Dorner, Rechtsanwälte in Bregenz, wegen 49.393,84 EUR brutto sA, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 23. März 2022, GZ 13 Ra 7/22k‑23, mit dem der Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch, als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 20. Oktober 2021, GZ 33 Cga 44/21h‑15, nicht Folge gegeben wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:009OBA00048.22G.0831.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie nunmehr zu lauten haben:

„Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei 49.393,84 EUR brutto samt 4 % Zinsen aus 42.792,55 EUR brutto vom 10. 11. 2020 bis 30. 9. 2021 und aus 49.393,84 EUR seit 1. 10. 2021 zu zahlen, wird abgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 7.892,90 EUR (darin enthalten 1.232,15 EUR USt und 500 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens erster Instanz sowie die mit 5.390,42 EUR (darin enthalten 517,07 EUR USt und 2.288 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens zweiter Instanz binnen 14 Tagen zu bezahlen.“

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 5.266,26 EUR (darin enthalten 369,21 EUR USt und 3.051 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Der Kläger war ab 24. 7. 2000, zuletzt als stellvertretender Schichtleiter und Prüfer, bei der Beklagten beschäftigt. Auf das Dienstverhältnis findet der Kollektivvertrag für Angestellte in der Nahrungs‑ und Genußmittelindustrie Anwendung.

[2] Aufgrund des konfliktträchtigen Verhältnisses zwischen dem Kläger und * R*, einem anderen Arbeitnehmer, demgegenüber der Kläger als stellvertretender Schichtleiter weisungsbefugt war, wurden deren Schichten getrennt. Am 29. 10. 2020 kam es jedoch ausnahmsweise wieder zur Überschneidung der Schichten. Kurz vor 19 Uhr erteilte der Kläger R* eine Anweisung, die dieser unter Hinweis darauf, dass die dafür benötigte Anlage gerade gereinigt werde, ablehnte. Der Kläger ging davon aus, dass es sich um eine Ausrede handelt, weshalb sich ein Wortgefecht zwischen den beiden entwickelte. Im Zuge dessen verlor der Kläger die Nerven, ergriff R* im Bereich des Halses und würgte ihn. Aufgrund des Lärms wurde der Schichtleiter auf die Auseinandersetzung aufmerksam. Als er auf die beiden zuging, ließ der Kläger von R* ab. Dieser erlitt durch das Würgen Schluckbeschwerden und eine Quetschung des Kehlkopfs. Ob der Kläger im Zuge dieser Auseinandersetzung auch einen Schlag gegen R* setzte, konnte nicht festgestellt werden, ebenso wenig wodurch die Kratzer am Thorax des R* entstanden.

[3] Der Schichtleiter war nicht befugt, Entlassungen oder Freistellungen auszusprechen, er informierte daher * F*, den stellvertretenden Abteilungsleiter, telefonisch, der daraufhin in den Betrieb fuhr. F* durfte ebenfalls eigenständig keine Entlassungen aussprechen, dies war der Geschäftsführung, dem Chef der Personalabteilung und dem Werksleiter vorbehalten. Ihm war jedoch gestattet, Mitarbeiter aufgrund derartiger Vorfälle vorläufig freizustellen. Der Kläger gab F* gegenüber zu, dass er die Nerven verloren und R* wortwörtlich an die „Gurgel“ gegangen sei. F* ermahnte den Kläger und verdeutlichte, dass tätliche Übergriffe nicht akzeptiert werden. Dennoch forderte er ihn auf, seine Schicht, die noch bis fünf Uhr morgens dauerte, zu beenden. Weitere Konsequenzen drohte er ihm nicht an. Er wies ihn auch nicht darauf hin, dass Entscheidungspersonen im Unternehmen noch weitere Konsequenzen aussprechen könnten.

[4] R* beendete ebenfalls seine Schicht planmäßig um 21 Uhr, obwohl ihn F* darauf hinwies, dass er auch ins Krankenhaus und zur Polizei gehen könne. F* forderte die Beteiligten auf, sich die restliche Zeit, in denen sich ihre Schicht überschnitt, zu meiden. Weitere Maßnahmen erfolgten nicht. F* sah keinen Grund, den Kläger nach Hause zu schicken. Er wollte auch den reibungslosen Ablauf der Schicht nicht gefährden, indem er den als Prüfer tätigen Kläger der Schicht entzog. In der Folge suchte R* das Landeskrankenhaus Feldkirch und die Polizei auf. Er wurde bis 1. 11. 2020 krank geschrieben.

[5] Am nächsten Morgen informierte F* im Laufe des Vormittags den Leiter der Personalabteilung, sowie seinen unmittelbaren Vorgesetzten, den Werksleiter. Es kam zu einer Besprechung. In der Folge wurde die Geschäftsführung informiert und die Beteiligten zu einem weiteren Gespräch eingeladen. Der Kläger traf gegen 13 Uhr ein. Nachdem mit ihm, R* und dem Schichtleiter nochmals Gespräche geführt wurden, sprach der Leiter der Personalabteilung zwischen 15 Uhr und 15:30 Uhr gegenüber dem Kläger die Entlassung aus.

[6] Der Kläger begehrt seine Abfertigung in Höhe des Klagsbetrags. Er habe R* nicht tätlich angegriffen. Dieser habe sich geweigert, den Weisungen des Klägers zu folgen und seine Arbeit ordentlich auszuführen. Er habe den Kläger mehrfach beleidigt und sich vor ihm aufgebaut, woraufhin der Kläger verbal reagiert und ihn von sich weggestoßen habe. Obwohl sich der Vorfall bereits am Beginn der Schicht ereignet habe und seinem unmittelbaren Vorgesetzten bekannt geworden sei, habe man ihn aufgefordert, seine Schicht zu beenden. Erst am darauffolgenden Tag sei die Entlassung ausgesprochen worden. Diese sei daher auch verspätet.

[7] Die Beklagte bestritt, der Kläger habe R* gewürgt und zwei Mal geschlagen. Als Folge sei dieser für vier Tage krank geschrieben worden. Der Nachtschichtleiter habe nicht die Kompetenz gehabt, eine Entlassung auszusprechen. Der Vorfall habe daher in den zuständigen Gremien der Beklagten besprochen werden müssen. Der Ausspruch der Entlassung am Folgetag vor Antritt der Nachtschicht des Klägers sei rechtzeitig.

[8] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Zwar habe der Kläger einen Entlassungsgrund gesetzt. Dadurch, dass er aber nicht sofort suspendiert worden sei, habe man gezeigt, dass man sein Verhalten zwar als abmahnungsbedürftig angesehen habe, jedoch eine weitere Beschäftigung zumutbar, sogar gewünscht sei.

[9] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten gegen diese Entscheidung nicht Folge. Auch das Berufungsgericht bejahte das Vorliegen eines Entlassungsgrundes. Unter Berücksichtigung der innerbetrieblichen Organisation der Beklagten sei die Entlassung auch nicht schuldhaft verspätet erfolgt. Allerdings habe der stellvertretende Abteilungsleiter den Sachverhalt bloß zum Anlass für eine Ermahnung genommen, dies könne nur so verstanden werden, dass er auf das Recht, den Kläger wegen dieses Sachverhalts zu entlassen, unwiderruflich verzichtet habe. Er habe dem Kläger auch keine weiteren Konsequenzen angedroht oder auf durch andere Entscheidungspersonen angedrohte Konsequenzen verwiesen, sondern weiter arbeiten lassen. Durch dieses Verhalten habe die Beklagte zum Ausdruck gebracht, dass ihr eine Weiterbeschäftigung nicht unzumutbar sei.

[10] Die Revision wurde vom Berufungsgericht nicht zugelassen, da es sich bei der Beurteilung des Verzichts auf das Entlassungsrecht um eine Frage des Einzelfalls handle.

[11] Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen dahingehend abzuändern, dass die Klage abgewiesen wird. In eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[12] Der Kläger beantragt in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[13] Die Revision ist zur Klarstellung zulässig und auch berechtigt.

[14] 1. Nach § 27 Z 6 AngG ist als ein wichtiger Grund, der den Dienstgeber zur vorzeitigen Entlassung berechtigt, anzusehen, wenn der Angestellte sich (ua) Tätlichkeiten gegen Mitbedienstete zu schulden kommen lässt. Eine Tätlichkeit in diesem Sinn ist jede schuldhafte, objektiv gegen den Körper gerichtete Handlung, wobei es auf die mit der Handlung verbundene Absicht grundsätzlich nicht ankommt (RS0029863).

[15] Der Kläger hat einen Kollegen im Rahmen einer verbalen Auseinandersetzung angegriffen und gewürgt und damit verletzt. Dass dieses Verhalten den genannten Entlassungsgrund verwirklicht, wird auch vom Kläger nicht mehr in Zweifel gezogen.

[16] 2. Die Gründe für die vorzeitige Auflösung eines Dienstverhältnisses sind bei sonstiger Verwirkung des Entlassungsrechts unverzüglich, das heißt, ohne schuldhaftes Zögern, geltend zu machen. Der Dienstgeber darf mit der Ausübung seines Entlassungsrechts nicht wider Treu und Glauben so lange warten, dass der Angestellte aus diesem Zögern auf einen Verzicht auf die Geltendmachung der Entlassungsgründe schließen muss. Der Dienstnehmer, dem ein pflichtwidriges Verhalten vorgeworfen wird, soll darüber hinaus nicht ungebührlich lange über sein weiteres dienstrechtliches Schicksal im Unklaren gelassen werden (RS0031799).

[17] Der Grundsatz, dass die Entlassung unverzüglich auszusprechen ist, beruht auf dem Gedanken, dass ein Arbeitgeber, der die Verfehlung seines Arbeitnehmers nicht sofort mit der Entlassung beantwortet, dessen Weiterbeschäftigung nicht als unzumutbar ansieht und auf die Ausübung des Entlassungsrechts im konkreten Fall verzichtet. Andererseits kann nicht aus jeder Verzögerung auf einen Verzicht des Arbeitgebers geschlossen werden. Es ist daher Sache des Arbeitnehmers, einen derartigen Verzicht des Arbeitgebers auf das Entlassungsrecht zumindest implicite zu behaupten (RS0029249). Dabei darf der Grundsatz, dass Entlassungsgründe unverzüglich geltend zu machen sind, nicht überspannt werden (RS0031587).

[18] Zu Recht ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass vom zeitlichen Ablauf her die Entlassung noch rechtzeitig erfolgte. Am Abend des Geschehens war kein zur Entlassung Befugter anwesend, diese wurden aber bereits am nächsten Tag in der Früh informiert und wurde noch am selben Tag die Entlassung ausgesprochen. Dass zuvor den Beteiligten die Möglichkeit gegeben wurde, ihre Sichtweise darzulegen, stellt keine Verzögerung dar, die geeignet war den Eindruck zu erwecken, dass die Angelegenheit nicht weiterverfolgt wird. Auch wenn der Sachverhalt nicht besonders komplex war und der Kläger die Tätlichkeit auch sofort zugab, kann der Beklagten nicht vorgeworfen werden, dass die Personalverantwortlichen sich ein eigenes Bild vom Vorfall verschaffen wollten. Von einer zeitlichen Verspätung des Entlassungsausspruchs ist daher nicht auszugehen.

[19] 3. Das Berufungsgericht hat daraus, dass der stellvertretende Abteilungsleiter den Kläger keine Konsequenzen androhte, ihn nicht dienstfrei stellte, sondern nur ermahnte und ihn bis zum Ende der Schicht weiter arbeiten ließ, einen Verzicht der Beklagten auf das Entlassungsrecht abgeleitet.

[20] Richtig ist, dass dann, wenn der Dienstgeber ihm zur Kenntnis gelangte Vorfälle bloß zum Anlass für eine Ermahnung genommen hat, eine derartige Erklärung nach herrschender Lehre und ständiger Rechtsprechung nur dahin verstanden werden kann, dass der Dienstgeber auf das Recht, den Dienstnehmer wegen dieses Verhaltens zu entlassen, verzichtet hat (RS0029023 [T4]).

[21] Daraus ist aber im konkreten Fall für den Kläger nichts zu gewinnen. Zum einen hat der für einen Verzicht behauptungs‑ und beweispflichtige Kläger sich auf eine solche Ermahnung nicht berufen. Zum andern wurde auch nicht vorgebracht und steht auch nicht fest, dass der stellvertretende Abteilungsleiter über eine Personalverantwortlichkeit verfügte, die es ihm erlaubt hätte, den Kläger förmlich zu ermahnen und mit Wirkung für den Arbeitgeber auf das Recht zur Entlassung zu verzichten.

[22] Im Übrigen ergibt sich aus dem Urteil des Erstgerichts auch keine förmliche Ermahnung. Disloziert in der Beweiswürdigung konkretisiert das Erstgericht, dass der stellvertretende Abteilungsleiter den Kläger dahingehend „ermahnte“, dass tätliche Angriffe „gar nicht gehen“. Aufgrund einer solchen Aussage von einem nicht zur Entscheidung über Entlassungen Berechtigten konnte der Kläger aber nicht auf einen schlüssigen Verzicht auf die Geltendmachung eines Entlassungsgrundes schließen. Dass dem seit 20 Jahren bei der Beklagten beschäftigten Kläger die Zuständigkeiten der Vorgesetzten nicht bekannt waren, hat er nicht behauptet.

[23] 4. Vorläufige Maßnahmen, etwa die zur Klärung der tatsächlichen oder rechtlichen Lage vorgenommene Suspendierung eines Arbeitnehmers, können die Annahme eines Verzichts des Arbeitgebers auf die Ausübung des Entlassungsrechts verhindern (RS0028987). Allerdings muss die Dienstfreistellung zu eben diesem Zweck erfolgen und für den Dienstnehmer als vorläufige Maßnahme zur Vorbereitung einer Entlassung erkennbar sein. Eine Suspendierung des Dienstnehmers vom Dienst schließt daher nicht in jedem Fall eine Verwirkung des Entlassungsrechts aus (vgl RS0031587 [T2]).

[24] Eine Suspendierung ist aber keine Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Entlassung, sie kann nur nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls dazu führen, dass der Dienstnehmer sich bewusst sein muss, dass, auch wenn die Entlassung nicht unmittelbar nach Bekanntwerden des Entlassungsgrundes ausgesprochen wird, kein Verzicht des Arbeitgebers auf sein Entlassungsrecht erfolgt. Wenn aber wie im vorliegenden Fall schon von keiner ungebührlichen Verzögerung zwischen dem Vorfall und der Entlassung auszugehen ist, kommt der Frage, ob der Dienstnehmer sofort suspendiert wurde, keine relevante Bedeutung zu.

[25] Allein der Umstand, dass der stellvertretende Abteilungsleiter die Befugnis hatte, den Kläger wegzuschicken, und sich stattdessen dafür entschied, die Schicht zu Ende arbeiten zu lassen, reicht daher für einen Verzicht auf das Entlassungsrecht nicht aus. Dem Kläger musste bewusst sein, dass der stellvertretende Abteilungsleiter, der keine Entlassungsbefugnis hat, auch keine endgültige Entscheidung in dieser Angelegenheit treffen kann und aus der Aufforderung die Schicht zu Ende zu arbeiten nicht auf eine endgültige Bereinigung der Angelegenheit geschlossen werden kann oder darauf, dass eine Beschäftigung für die Dauer der Kündigungsfrist für die Beklagte zumutbar ist.

[26] 5. Auf eine Anscheinsvollmacht des stellvertretenden Abteilungsleiters hat sich der Kläger nicht berufen, eine solche ist daher auch nicht zu prüfen. Im Übrigen wäre dafür ein Verhalten des Vollmachtgebers – und nicht des Bevollmächtigten – erforderlich, das den Anschein zu einer solchen Berechtigung begründet.

[27] 6. Der Ausspruch der Entlassung ist damit rechtzeitig erfolgt, das Recht zur Entlassung war zu diesem Zeitpunkt nicht verwirkt. Daher war der Revision Folge zu geben und die Klage abzuweisen.

[28] 7. Aufgrund der Abänderung in der Hauptsache war auch die Kostenentscheidung neu zu treffen, diese gründet sich in allen Instanzen auf §§ 41, 50 ZPO.

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