OGH 8ObS6/22y

OGH8ObS6/22y30.8.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden und die Hofrätinnen Dr. Tarmann‑Prentner und Mag. Korn sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Sibylle Wagner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Veronika Bogojevic (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei H*, vertreten durch Mag. Manuel Dietrich, Rechtsanwalt in Hard, gegen die beklagte Partei IEF‑Service GmbH, Geschäftsstelle Innsbruck, 6020 Innsbruck, Meraner Straße 1, vertreten durch die Finanzprokuratur, Singerstraße 17–19, 1010 Wien, wegen 6.783 EUR netto sA, über die außerordentlichen Revisionen derklagenden Partei (Revisionsinteresse 3.450,48 EUR netto) und der beklagten Partei (Revisionsinteresse 3.332,52 EUR netto) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 27. April 2022, GZ 23 Rs 3/22 w‑29, mit dem der Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 26. November 2021, GZ 35 Cgs 134/20b‑22, teilweise Folge gegeben wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:008OBS00006.22Y.0830.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

1. Der Revision der klagenden Partei wird nicht Folge gegeben.

2. Der Revision der beklagten Partei wird Folge gegeben. Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

3. Die klagende Partei hat die Kosten des Berufungs‑ und Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Klägerin war ab 1. 1. 2019 als Angestellte bei der späteren Schuldnerin, I* GmbH (zuvor R* GmbH), beschäftigt. Vereinbart war ein All‑In‑Gehalt (Fixum) von jährlich 53.000 EUR brutto, daher monatlich 3.785,71 EUR brutto, sowie dass die vom kollektivvertraglichen Mindestentgelt in Folge der Einstufung gegebene Überzahlung der pauschalen Abgeltung aller zuschlagpflichtigen Arbeiten dient. Nach dem Dienstvertrag ist weiters von beiden Vertragsparteien eine Kündigungsfrist von drei Monaten zum Letzten eines Monats einzuhalten.

[2] Das Tätigkeitsfeld der späteren Schuldnerin war das Abfüllen von Arzneimitteln im Lohnauftrag. Die Klägerin arbeitete in der Prozessentwicklung, wobei Absprachen mit den Kunden über die individuellen Produktionsprozesse aufzusetzen waren. In ihrer Abteilung waren weitere fünf Mitarbeiter und ein Vorgesetzter beschäftigt.

[3] Im April 2019 kam es zu einem Wechsel der Geschäftsführung. Zu diesem Zeitpunkt schloss die spätere Schuldnerin mit verschiedenen Mitarbeitern Vereinbarungen über „Bleibeprämien“.

[4] Die Klägerin erfuhr erstmals im August 2019 von unternehmerischen Schwierigkeiten ihrer Dienstgeberin. Zu diesem Zeitpunkt wurden ca 20 der ca 80 Mitarbeiter gekündigt. Bei einer Besprechung mit weiteren Mitarbeitern, darunter der Klägerin, teilte die Geschäftsführung mit, dass alle im Besprechungsraum befindlichen Personen Schlüsselpositionen inne hätten und bleiben könnten, wer nicht im Raum sei, werde auch nicht mehr kommen. Es handle sich um ein Sanierungskonzept, das mit Hilfe einer externen Unternehmensberatung ausgearbeitet worden sei.

[5] Am 13. 8. 2018 wurde der Klägerin ein von der Geschäftsführung und vom Prokuristen der Schuldnerin bereits unterfertigtes Schreiben übergeben, mit dem ihr eine „Bleibeprämie (Stay‑on‑Bonus)“ angeboten wurde. In diesem Schreiben heißt es unter anderem:

Die R* GmbH […] bietet Ihnen eine Bleibeprämie (Stay‑on‑Bonus) an, um Anreize zu schaffen, dass Sie bei R* beschäftigt bleiben. Dieser Brief beinhaltet die Bedingungen unserer Vereinbarung bezüglich dieser Bleibeprämie/Stay‑on‑Bonus.

Nach den Bestimmungen dieser Vereinbarung haben Sie die Möglichkeit, eine Bleibeprämie (Stay‑on‑Bonus) in Höhe von 30 % Ihres jährlichen Bruttogehalts in Höhe von maximal EUR 9.300,-- zu erhalten (Bleibeprämie/Stay‑on‑Bonus). Voraussetzung ist, dass R* die uneingeschränkte Betriebsbewilligung durch die österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit GmbH (AGES) erteilt bekommen hat und Sie durchgehend und aktiv bei R* bis zum 31. März 2020 beschäftigt bleiben (sogenannte ‚Wartezeit‘). Die Zahlung erfolgt 30 Tage nach Ablauf der Wartezeit mit den laufenden Gehaltszahlungen. [...]

1. Klargestellt und vereinbart ist, dass diese Bleibeprämie als einmalige freiwillige Leistung unter der ausdrücklichen Bedingung erfolgt, dass diese Bleibeprämie darüber hinaus für die Zukunft keinen wie auch immer gearteten Rechtsanspruch begründet und daher auch bei wiederholter oder vieljähriger Gewährung jederzeit wieder grundlos eingestellt werden kann.

2. Bei langen Abwesenheiten vom Dienst, aus welchem Grund auch immer (ausgenommen eines Urlaubs oder Krankheit) und zwar zwischen Abschluss dieses Vertrags und Ablauf der Wartezeit für mehr als 60 Tage, und falls Sie entweder 1. nach Ablauf der Wartezeit weiterbeschäftigt sind oder 2. vor Ablauf der Wartezeit von R* ohne Grund (siehe Z 3) gekündigt werden, steht Ihnen die Bleibeprämie aliquot zu, und zwar wird diese im Ausmaß Ihrer Abwesenheit aliquot gekürzt (sollten Sie beispielsweise nach Ablauf der Wartezeit noch beschäftigt sein, aber seit Abschluss dieses Vertrages 30 % aus anderen Gründen als Urlaub/Krankheit nicht gearbeitet haben, wird die Bleibeprämie um 30 % gekürzt). Bei Krankheit gilt Z 3.

3. Bei Krankheit wird für die Dauer eines halben Anspruchs auf Entgeltfortzahlung die Bleibeprämie anteilig reduziert und bei Auslaufen des gesetzlichen Anspruchs auf Entgeltfortzahlung steht für diese Dauer der nicht bestehenden Entgeltfortzahlungspflicht kein Anspruch auf Bleibeprämie zu.“

[6] Der Klägerin wurde dazu gesagt, dass die Kündigungswelle für Verunsicherung gesorgt habe. Die Klägerin solle in einer Schlüsselposition gehalten werden und werde auch, da Kollegen gekündigt worden seien, mehr Arbeit auf sie zukommen. Man wolle die Wertschätzung ihr gegenüber ausdrücken. Die Klägerin unterfertigte das Angebot und übergab es der Schuldnerin. Auch anderen Mitarbeitern wurde eine Bleibeprämie angeboten, ob allen Mitarbeitern des Unternehmens, kann nicht festgestellt werden.

[7] Zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt nach dem 14. 8. 2019 erhielt die Schuldnerin die uneingeschränkte Betriebsbewilligung durch die österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit.

[8] Während die Klägerin vor August 2019 gelegentlich mehr als 40 Stunden pro Woche arbeitete, kam dies danach regelmäßig vor. Sie hatte die gleiche Position inne, musste aber mehr Kunden betreuen. Die von der Klägerin als Überstunden geltend gemachten Leistungen wurden von der Beklagten anerkannt und auch abgegolten.

[9] Die Klägerin stand direkt mit Kunden der Schuldnerin in Kontakt und war in die fachliche Materie miteingebunden. Bei einer vorzeitigen Beendigung des Dienstverhältnisses hätte dies insofern Probleme verursacht, als nur sie die Korrespondenz und den aktuellen Stand kannte. Für die Schuldnerin war es vorteilhaft, dass das zwischen der Klägerin und den Kunden aufgebaute Vertrauensverhältnis aufrecht blieb und es nicht zu einem Wechsel in der Ansprechperson kam. Die am 8. 8. 2019 gekündigten Mitarbeiter standen nicht in direktem Kundenkontakt.

[10] Im November 2019 wurden Mängel in der Produktion festgestellt, die Prozessabläufe betrafen, woraufhin es zu einem Stopp in der Produktion und in der Auslieferung kam. Bis dahin produzierte Produkte wurden zurückgerufen. In der Folge wurde ein Insolvenzantrag gestellt und mit Beschluss des Landesgerichts Feldkirch vom 3. 12. 2019 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin eröffnet. Am 3. 12. 2019 wurde auch die Schließung des Unternehmens angeordnet.

[11] Am 4. 12. 2019 erklärte die Klägerin gegenüber dem Insolvenzverwalter den begründeten vorzeitigen Austritt nach § 25 IO und machte gleichzeitig offene Entgeltforderungen geltend. Weiters meldete sie im Insolvenzverfahren eine Forderung von 9.300 EUR brutto bzw 6.783 EUR netto als „Bleibeprämie“ an. Davon wurde von der Insolvenzverwalterin ein Betrag von 4.502 EUR brutto als zu Recht bestehend anerkannt, der darüber hinausgehende Betrag bestritten.

[12] Die Klägerin machte gegenüber der Beklagten offenes Entgelt, sowie aus dem Titel „Bleibeprämie“ 6.783 EUR netto bzw 9.300 EUR brutto geltend. Der als „Bleibeprämie“ bezeichnete Anspruch wurde abgelehnt. Die übrigen Entgeltforderungen wurden von der Beklagten anerkannt.

[13] Mit der fristgerecht erhobenen Klage begehrt die Klägerin die Zuerkennung von Insolvenzentgelt im Umfang von 6.783 EUR netto. Der Bleibeprämienvereinbarung komme Entgeltcharakter zu. Sie habe den Sinn, Mitarbeiterschwund entgegenzuwirken und Eigenkündigungen zu verhindern. Es bestehe ein synallagmatisches Verhältnis zwischen der Zurverfügungstellung der Arbeitskraft und der Bleibeprämie. Die Prämie sei auch nach den Kriterien des § 1 Abs 3 Z 2 lit b IESG sachlich gerechtfertigt. Es habe eine Kündigungswelle gegeben, die Klägerin habe in der Folge nicht nur eigene Arbeit verrichtet, sondern auch die von Kollegen übernehmen müssen. Eine Sittenwidrigkeit der Vereinbarung liege nicht vor. Der Klägerin sei weder eine Krise des Unternehmens bewusst gewesen, noch habe sie von einer solchen Situation ausgehen müssen. Sie sei nicht aus eigenen Stücken ausgetreten. Wäre sie nicht ausgetreten, wäre die Kündigung vom Insolvenzverwalter aufgrund der Betriebsschließung vorgenommen worden. Die Voraussetzung der Erfüllung der Wartezeit sei daher nicht von ihr vereitelt worden. Nach dem Willen der Vertragsparteien sei daher jedenfalls ein aliquoter Anspruch entstanden. Die Bleibeprämie sei vom Insolvenzverwalter anerkannt worden.

[14] Die Beklagte bestreitet und bringt vor, die Bleibeprämie unterfalle keiner Anspruchskategorie des IESG. Es fehle am Synallagma zwischen Entgeltleistung des Arbeitgebers und tatsächlich erbrachter Arbeitsleistung. Hintergrund der Vereinbarung einer Bleibeprämie sei eine wirtschaftliche Krise des Unternehmens mit der Gefahr der Abwanderung besonders qualifizierter Mitarbeiter. Die Bleibeprämie sei jedoch im vorliegenden Fall zwei Drittel der Belegschaft ohne Rücksicht auf eine bestimmte Qualifikation zuerkannt worden.

[15] Da die Klägerin ausgetreten sei, seien die Bedingungen für das Entstehen der Prämie, Einhaltung der Wartezeit oder Kündigung durch den Arbeitgeber, nicht erfüllt. Eine Fälligkeit sei auch erst Ende April 2020 eingetreten, somit außerhalb des gesicherten Zeitraums. Ein allenfalls früher entstandener Anspruch sei jedenfalls zu aliquotieren und besteht daher nur in Höhe des von der Insolvenzverwalterin anerkannten Betrags von 3.244 EUR netto. Sämtliche Arbeitnehmer des Unternehmens hätten zum Zeitpunkt des Abschlusses der Vereinbarung erkennen müssen, dass sich das Unternehmen in einer Krise befinde. Die Klägerin habe daher damit rechnen müssen, dass die Prämie letztlich vom Fonds übernommen werde. Die Prämie sei auch nicht sachlich gerechtfertigt. Die Vereinbarung sei dreieinhalb Monate vor Einleitung des Insolvenzverfahrens getroffen worden und könne nur als atypisch bezeichnet werden.

[16] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Prämie sei innerhalb der letzten sechs Monate vor der Insolvenzeröffnung vereinbart worden. Sie sei sachlich nicht gerechtfertigt, weshalb der Ausschluss des § 1 Abs 3 Z 2 IESG zum Tragen kommen. Der Abschluss einer solchen Prämienvereinbarung im Zusammenhang mit dem Arbeitnehmer bekannten wirtschaftlichen Schwierigkeiten im zeitlichen Nahebereich zur tatsächlich eingetretenen Insolvenz stelle ein Verhalten dar, das geeignet sei, das Risiko missbräuchlich auf die Beklagte zu überwälzen.

[17] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin teilweise Folge und verpflichtete die Beklagte zur Zahlung von 3.332,52 EUR netto. Das Mehrbegehren wies es ab. Eine Bleibeprämie stelle keinen für ein Arbeitsverhältnis völlig atypischen Anspruch dar. Der Ausschlusstatbestand des § 1 Abs 3 Z 2 IESG sei nicht zu bejahen, da von einer sachlichen Rechtfertigung der Vereinbarung auszugehen sei. Es wäre für das Unternehmen nachteilig gewesen, hätte es auf die Fachkenntnisse und das zu den Kunden aufgebaute Vertrauensverhältnis der Klägerin verzichten müssen. Durch die Kündigungswelle sei es zu einer grundlegenden Änderung in der Arbeitsstruktur und der Arbeitsbelastung gekommen. Durch die Prämie sollte die Unternehmenstreue und der Arbeitseinsatz der Klägerin honoriert werden. Bei einer Gesamtwürdigung der Umstände sei daher von der sachlichen Rechtfertigung auszugehen.

[18] Die Vereinbarung der Prämie sei bedingt gewesen. Dies verpflichte aber die Vertragsparteien alles vorzukehren, was notwendig und möglich sei, um die Bedingungseintritte herbeizuführen. Durch die Unternehmensschließung sei es der Klägerin unmöglich gemacht worden, die Vereinbarung einzuhalten und die Wartepflicht zu erfüllen. Es sei ihr daher nicht zum Vorwurf zu machen, den vorzeitigen Austritt erklärt zu haben. Vielmehr sei sie so zu stellen, als ob das Arbeitsverhältnis durch den Arbeitgeber ordnungsgemäß beendet worden wäre. Damit habe die Klägerin Anspruch auf die vereinbarte Prämie und deren Sicherstellung durch die Beklagte. Allerdings stehe nach der Vereinbarung bei längerer Abwesenheit vom Dienst aus welchem Grund auch immer nur ein aliquoter Teil der Prämie zu. Der Zeitraum der Prämie habe 230 Tage umfasst. Die Klägerin habe davon 113 Tage ihre Arbeit verrichtet, davon ausgehend stünden ihr 3.332,52 EUR zu. Dieser Betrag sei zuzusprechen, das Mehrbegehren abzuweisen.

[19] Die ordentliche Revision wurde vom Berufungsgericht nicht zugelassen, da der Oberste Gerichtshof zur Frage der Sicherung von Bleibeprämien bereits Stellung genommen habe.

[20] Gegen den abweisenden Teil des Berufungsurteils wendet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag, dem Klagebegehren zur Gänze stattzugeben, in eventu dem Klagebegehren im Umfang von 5.373,49 EUR netto stattzugeben, in eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[21] Gegen den klagsstattgebenden Teil des Berufungsurteils richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag das Urteil dahingehend abzuändern, dass das Klagebegehren zur Gänze abgewiesen wird. In eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[22] Die Parteien beantragen in den ihnen freigestellten Revisionsbeantwortungen jeweils, die Revision der Gegenseite zurückzuweisen, in eventu dieser nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[23] Die Revisionen sind entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts zur Klarstellung zulässig. Die Revision der Beklagten ist auch berechtigt, die Revision der Klägerin ist nicht berechtigt.

[24] Aus Zweckmäßigkeitsgründen ist zunächst auf die Revision der Beklagten einzugehen.

[25] 1. Der erkennende Senat hat zu einer (ebenfalls von der Schuldnerin mit einer anderen Arbeitnehmerin vereinbarten) Bleibeprämie und deren Sicherung nach dem IESG in der Entscheidung 8 ObS 1/21m ausführlich Stellung genommen. In dieser Entscheidung wurde unter anderem ausgeführt:

Sogenannte Bleibe- oder auch Halteprämien sind Zusagen an bestimmte Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen, die der Mitarbeiterbindung dienen sollen. Sie kommen besonders – wenn auch nicht ausschließlich – in einer Krise des Unternehmens sowie im Zuge von Übernahmen, wenn das Szenario einer Abwanderung von verunsicherten Arbeitnehmern im Raum steht, als Mittel der Sanierung und Werterhaltung in Frage. Ziel ist es, jene Arbeitnehmer, deren Weiterbeschäftigung in der gegebenen Situation von besonderer Bedeutung ist, zur Sicherung des Unternehmenserfolgs für einen bestimmten Zeitraum zu halten. Bei den Bleibeprämien handelt es sich in der Regel um – in Voraussetzungen und Zweck einer Treueprämie ähnliche – Sonderzahlungen. Sie können sowohl als reine Entgeltzusagen ausgestaltet sein, als auch ausschließlich die Betriebstreue belohnen, oder einen Mischcharakter aufweisen

...

Eine Bleibeprämie unterscheidet sich von einer freiwilligen Abfertigung oder Abgangsentschädigung aber insofern wesentlich, als sie nicht aufgrund der Beendigung des Dienstverhältnisses, sondern – im Gegenteil – unter der Voraussetzung und zur Sicherung seines aufrechten Bestehens gewährt wird. An diesem Charakter ändert sich nichts, wenn die Bleibedauer durch eine Dienstgeberkündigung vor dem Stichtag verkürzt wird. Mit einer Vereinbarung, dass die Bleibeprämie auch bei Dienstgeberkündigung aliquot zu zahlen ist, wird vielmehr § 16 Abs 1 AngG Rechnung getragen, wonach ein Anspruch auf eine besondere Entlohnung auch dann verhältnismäßig gebührt, wenn das Dienstverhältnis vor Fälligkeit des Anspruchs gelöst wird.

...

Nach Ansicht des Senats fällt die hier zu beurteilende Bleibeprämie, die von einer tatsächlichen Arbeitsleistung abhängig sowie auf etwa ein Jahr bezogen war und durch die Dienstgeberkündigung fällig wurde, wie eine Sonderzahlung unter den Begriff des Entgelts aus dem Arbeitsverhältnis im Sinn des § 1 Abs 2 Z 1 IESG. Der Anspruch hat nicht nur seine Wurzel im Arbeitsverhältnis und ist ohne die Arbeitsleistung selbst nicht denkbar, sondern entspringt hier auch einer unmittelbaren Wechselbeziehung von Leistung und Gegenleistung.

[26] 2. Gegen die in dieser Entscheidung dargelegten Grundsätze für die Sicherung von Bleibeprämien nach dem IESG wendet sich auch die Revision der Beklagten nicht. Sie verweist vor allem darauf, dass sich der vorliegende Fall von dem bereits entschiedenen dadurch unterscheidet, dass die Klägerin nicht gekündigt wurde, sondern selbst ausgetreten sei, weshalb die Bedingung der Bleibeprämie nicht erfüllt sei und der Ausschlusstatbestand des § 1 Abs 3 Z 2 IESG vorliege.

[27] Inwieweit der (berechtigte) Austritt der Klägerin im Hinblick auf den Anspruch auf die Bleibeprämie allenfalls einer Kündigung durch den Arbeitgeber gleichzusetzen ist, kann jedoch dahingestellt bleiben. Selbst wenn man davon ausginge, dass die Bedingungen für die Bleibeprämie erfüllt wären, bestünde im konkreten Fall kein Anspruch auf Insolvenzentgelt.

[28] 3. Nach § 1 Abs 3 Z 2 lit b IESG gebührt Insolvenz‑Ausfallgeld nicht für Ansprüche, die auf einer Einzelvereinbarung beruhen, die in den letzten sechs Monaten vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder der Anordnung der Geschäftsaufsicht bzw vor der Kenntnis vom Beschluss nach Abs 1 Z 2 bis 6 IESG abgeschlossen wurde, soweit die Ansprüche über den durch Gesetz, Kollektivvertrag oder Betriebsvereinbarung zustehenden Anspruch oder die betriebsübliche Entlohnung hinausgehen oder auf sonstigen Besserstellungen beruhen, wenn die höhere Entlohnung sachlich nicht gerechtfertigt ist.

[29] In den Materialien zum IRÄG 1994 (1384 BlgNr 18.GP  11) ist als Beispiel zursachlichen Rechtfertigung lediglich das eines Spezialisten zur Unternehmenssanierung angeführt. Negativ wird als Beispiel sachlich nicht gerechtfertigter Vereinbarungen eine Vordienstzeitanrechnung für andere (als Sanierungsspezialisten) Arbeitnehmer oder die Übernahme eines Arbeiters in das Angestelltenverhältnis erwähnt.

[30] In der Rechtsprechung wurde jedoch bereits wiederholt festgehalten, dass als ein entscheidendes Kriterium für die sachliche Rechtfertigung einer höheren, über dem betriebsüblichen Niveau liegenden Entlohnung vor allem die Bedeutung der Arbeit des jeweiligen Arbeitnehmers und auch der damit verbundene Arbeitseinsatz anzusehen ist und daran in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht die sachliche Rechtfertigung einer höheren Entlohnung zu messen ist. Es kann dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden, dass er bei der Schaffung dieser Bestimmung lediglich jene Fälle vor Augen hatte, in denen ein Arbeitsvertrag mit einem Spezialisten zur Abwendung des völligen Niedergangs des Unternehmens abgeschlossen worden ist. Einzubeziehen sind auch jene Fälle, in denen an bereits beschäftigte Arbeitnehmer Gehaltserhöhungen gewährt werden, um ansonsten unvermeidbaren, größeren Schaden vom Unternehmen abzuwenden, soweit dabei in quantitativer Hinsicht auch das Gebot der Verhältnismäßigkeit beachtet wurde. Die sachliche Rechtfertigung ist immer dann zu bejahen, wenn auch ein das Unternehmen fortführender Insolvenzverwalter in einer gleichartigen Situation bei Anwendung der pflichtgemäßen Sorgfalt iSd § 81 IO nicht umhingekommen wäre, eine Gehaltserhöhung in diesem Ausmaß zu gewähren. Das positive Kriterium der „sachlichen Rechtfertigung“ ist durch das negative des Fehlens der Absicht, den Insolvenzausfallsgeldfonds durch Abschluss eines Vertrags zu seinen Lasten zu missbrauchen, zu ergänzen (8 ObS 2346/96z; 8 ObS 195/00k; 8 ObS 200/02y ua).

[31] 4. Ausgehend von dieser Judikatur, bedarf es besonderer Umstände, um die sachliche Rechtfertigung einer solchen Einzelvereinbarung zu begründen. Entgegen der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts lagen solche Gründe bei der Vereinbarung mit der Klägerin nicht vor.

[32] Die Klägerin war zum Zeitpunkt der Vereinbarung etwas mehr als ein halbes Jahr bei der Beklagten beschäftigt. Sie hatte dort keine leitende oder für Unternehmensentscheidungen herausragende Position. Sie war in einer Abteilung mit fünf weiteren Mitarbeitern unter einem Vorgesetzten tätig. Richtig ist zwar, wie das Berufungsgericht betont, dass die Klägerin Kundenkontakt hatte und daher den aktuellen Stand in den Beziehungen zu den Kunden kannte, das bedeutet aber nicht, dass bei einem Ausscheiden der Klägerin diese Vertragsbeziehungen nicht fortgeführt hätten werden können. Wie dargelegt war ja auch die Klägerin erst kurz im Unternehmen. Darüber hinaus verweist die Beklagte richtig darauf, dass nach den Feststellungen die Klägerin aufgrund der Kündigungswelle auch Kunden anderer Mitarbeiter übernommen hat, grundsätzlich daher, auch wenn das Aufrechterhalten der Strukturen im Kontakt mit dem Kunden vorteilhaft ist, ein Wechsel von Sachbearbeitern ohne größere Reibungsverluste vorgenommen werden konnte.

[33] Zum Zeitpunkt der Bonusvereinbarung gab es keine Hinweise für die Schuldnerin, dass die Klägerin eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses beabsichtigt. Auch wenn das aufgrund der Verunsicherung im Unternehmen durch die vorangehenden Kündigungen nicht ausgeschlossen werden konnte, hatte die Klägerin eine Kündigungsfrist von drei Monaten zu beachten, eine Kündigung wäre daher frühestens zum 30. 11. möglich gewesen. Demgegenüber verlangt die Bleibeprämie nur einen Fortbestand des Arbeitsverhältnisses bis 31. 3. des Folgejahres, also weitere 4 Monate. Dabei beträgt die Höhe der Prämie, auch wenn 30 % des jährlichen Bruttogehalts nicht erreicht wird, fast drei Monatsgehälter.

[34] Fest steht auch, dass eine solche Prämie nicht nur der Klägerin, sondern auch anderen Mitarbeitern angeboten wurde, wenn auch nicht geklärt werden konnte, ob allen. Besondere Kriterien dafür, nach welchen Überlegungen Mitarbeiter ausgewählt wurden, wurden nicht festgestellt.

[35] Insgesamt stellt sich die Situation so dar, dass die Schuldnerin durch die Zusage von Bleibeprämien unter anderem an die Klägerin der Verunsicherung im Unternehmen entgegenwirken und einen Anreiz schaffen wollte, trotz allfälliger höherer Arbeitsbelastung nicht zu kündigen, wobei die Mehr‑ und Überstunden ohnehin gesondert entsprechend der vertraglichen Vereinbarung bzw den gesetzlichen Verpflichtungen ausgezahlt werden sollten. Es sollte allgemein eine Fluktuation von Mitarbeitern verhindert werden, indem man diesen für die Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses einen „Bonus“ zusagte, ohne dass es dabei auf die Qualifikation des konkreten Mitarbeiters oder die Bedeutung der Tätigkeit für den Fortbestand des Unternehmens ankam.

[36] Eine Kündigung durch die Klägerin hätte allenfalls zur Notwendigkeit der Einschulung eines neuen Mitarbeiters geführt, hätte aber für den Fortbestand des Unternehmens oder den Unternehmenserfolg keinen relevanten Einfluss gehabt. Die Höhe der Prämie steht ebenfalls in keiner Relation zu dem sich für das Unternehmen aus dem Fortbestand dieses konkreten Arbeitsverhältnisses für weitere vier Monate ergebenden Nutzens.

[37] Damit liegt aber sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht keine sachliche Rechtfertigung iSd § 1 Abs 3 Z 2 IESG für die getroffene Vereinbarung vor.

[38] Der Anspruch der Klägerin auf Insolvenzentgelt für die Bleibeprämie besteht daher nicht zur Recht. Der Revision der Beklagten war Folge zu geben und die erstinstanzliche Entscheidung wiederherzustellen.

[39] 5. Die Klägerin ist mit ihrer Revision auf die vorangehenden Ausführungen zu verweisen. Da die Klägerin sich nur gegen die Bemessung der Höhe des Insolvenzentgelts wendet, dieses aber aufgrund des Ausschlusstatbestands des § 1 Abs 3 Z 2 lit b IESG überhaupt nicht zusteht, ist der Revision der Klägerin nicht Folge zu geben.

[40] 6. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenersatz nach Billigkeit wurden nicht vorgebracht (RIS‑Justiz RS0085829).

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