OGH 8ObA64/22b

OGH8ObA64/22b30.8.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Tarmann-Prentner und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter (Senat gemäß § 11a Abs 3 Z 1 ASGG) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei P* M*, vertreten durch die burkowski/gallistl Rechtsanwälte GesbR in Linz, gegen die beklagte Partei A* GmbH, *, vertreten durch Mag. Philippe Aigner, Rechtsanwalt in Wels, wegen 1.017 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei (Revisionsinteresse 726,43 EUR sA) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19. Mai 2022, GZ 11 Ra 27/22b‑25, womit das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 2. März 2022, GZ 64 Cga 26/21d‑20, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:008OBA00064.22B.0830.000

 

Spruch:

Das Verfahren wird bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu C-411/22 über den vom Verwaltungsgerichtshof am 24. Mai 2022 zu Ra 2021/03/0098-0100, 0102, 0103 gestellten Antrag auf Vorabentscheidung unterbrochen.

Nach Einlangen der Vorabentscheidung wird das Verfahren von Amts wegen fortgesetzt.

 

Begründung:

[1] Der Kläger war bei der Beklagten, einem österreichischen Arbeitskräfteüberlasser, als Arbeiter beschäftigt und bei der ebenso in Österreich ansässigen R* GmbH (in der Folge: Beschäftiger) eingesetzt. Auf sein Arbeitsverhältnis sind die Bestimmungen des Kollektivvertrags für ArbeiterInnen im Gewerbe der Arbeitskräfteüberlassung (KVAÜ) anzuwenden.

[2] Der Kläger hielt sich unter der Woche in einer Unterkunft in der Nähe des Beschäftigerbetriebs auf. An den Wochenenden war er in seiner Heimat in Tschechien.

[3] Der Kläger wurde am 12. 3. 2021, als er in seiner Heimat war, von seinem Vorgesetzten beim Beschäftigerbetrieb angerufen und gefragt, ob er mit einer bestimmten Arbeitskollegin Kontakt gehabt habe, was er bejahte. Sein Vorgesetzter teilte ihm mit, er solle seine Arbeit nicht antreten, weil seine Arbeitskollegin positiv auf Covid‑19 getestet worden sei. Der Kläger begab sich daraufhin in seiner Heimat in Selbstisolation.

[4] Die örtlich zuständige Bezirkshauptmannschaft wurde vom Beschäftiger über allfällige Kontaktpersonen zu positiven Indexpersonen informiert, zu denen auch der Kläger gehörte. Der Kontaktpersonenmanager des Krisenstabs der Bezirkshauptmannschaft erreichte den Kläger am 17. 3. 2021 per E-Mail in Tschechien und teilte ihm mit, dass die Bezirkshauptmannschaft die tschechischen Behörden verständigt habe und er in Österreich als Hoch-Risiko-Person bis inklusive 26. 3. 2021 in Quarantäne verbleiben müsste. Die Bezirkshauptmannschaft durfte über den Kläger keinen Absonderungsbescheid erlassen, da er sich in Tschechien aufhielt. Sie informierte ihn darüber, dass er von den zuständigen tschechischen Behörden einen Absonderungsbescheid bekommen werde. Der Kläger erhielt in der Folge einen Bescheid der Gesundheitsbehörde von Südböhmen, nach dem er sich bis zum 26. 3. 2021 in Quarantäne begeben musste. Die Beklagte erlangte von der Quarantäne und dem Bescheid Kenntnis.

[5] Der Kläger begehrte von der Beklagten zuletzt 1.017 EUR brutto sA an Entgeltfortzahlung für den Zeitraum 13. bis 26. 3. 2021.

[6] Die Beklagte beantragte die Abweisung dieses Begehrens.

[7] Das Erstgericht verurteilte die Beklagte antragsgemäß. Für Dienstnehmer, die im Ausland von einer ausländischen Behörde unter Quarantäne gestellt werden und daher nicht an ihrem Arbeitsplatz in Österreich erscheinen können, gelte das EpiG nicht. Mangels einer von einer österreichischen Gesundheitsbehörde angeordneten Maßnahme bestünde damit kein Verdienstentgangsentschädigungsanspruch des Klägers nach § 32 EpiG. Ein etwaiger Anspruch auf Entgeltfortzahlung sei nach den allgemeinen arbeits- und sozialrechtlichen Bestimmungen zu beurteilen. Einen solchen habe der Kläger aufgrund von § 1154b Abs 5 ABGB. Seine Eigenschaft als Kontaktperson einer infizierten Person sei ein wichtiger Grund im Sinne dieser Bestimmung. Ebenso sei das Ausmaß der Quarantäne von 14 Tagen noch ein kurzer Zeitraum im Sinne der Bestimmung. Ein kürzerer Zeitraum wäre aufgrund der damals geltenden Quarantänebestimmungen in Österreich auch nicht möglich gewesen.

[8] Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Es ließ die ordentliche Revision mangels höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Frage der Entgeltfortzahlung nach § 1154b Abs 5 ABGB und insbesondere zu deren Dauer zu.

[9] Hinsichtlich eines Zuspruchs von 290,57 EUR sA erwuchs das Berufungsurteil unangefochten in Rechtskraft.

[10] Die Beklagte beantragt in ihrer wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Revision die Abänderung der Urteile der Vorinstanzen dahin, dass die Klage in Hinsicht auf den noch strittigen – den Zeitraum 17. 3. 2021 bis 26. 3. 2021 betreffenden – Betrag von 726,43 EUR sA (= 1.017 : 14 [Quarantänetage] x 10 [Arbeitstage]) abgewiesen wird.

Rechtliche Beurteilung

[11] Das Verfahren ist zu unterbrechen.

[12] Die Vorinstanzen sowie auch die Parteien gehen davon aus, dass das EpiG mangels Vorliegens eines Quanrantänebescheids einer österreichischen Behörde unanwendbar und aus diesem Grund § 1154b ABGB anwendbar sei.

[13] Der Kläger ist ein sogenannter Grenzgänger im Sinne der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl EU Nr L 166 vom 30. 4. 2004, S 1 Art 1 lit f). Anders als bei Arbeitnehmern, die von einer österreichischen Gesundheitsbehörde unter Quarantäne gestellt werden und für die § 32 EpiG eine Vergütung für den Verdienstentgang vorsieht, besteht nach der Systematik des EpiG ein solcher Anspruch im Falle, dass die Quarantäne von einer ausländischen Gesundheitsbehörde verfügt wurde, nicht. Aufgrund der sich damit stellenden Frage einer möglicherweise unzulässigen Diskriminierung von Grenzgängern hat der VwGH mit Beschluss vom 24. Mai 2022 zu Ra 2021/03/0098-0100, 0102, 0103 den EuGH um Vorabentscheidung zu folgenden Fragen ersucht.

„1. Handelt es sich bei einem Vergütungsbetrag, der Arbeitnehmern während ihrer Absonderung als an COVID‑19 erkrankte, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Personen für die durch die Behinderung ihres Erwerbs entstandenen Vermögensnachteile gebührt, und der zunächst vom Arbeitgeber den Arbeitnehmern auszuzahlen ist, wobei der Anspruch auf Vergütung gegenüber dem Bund mit dem Zeitpunkt der Auszahlung auf den Arbeitgeber übergeht, um eine Leistung bei Krankheit im Sinne des Art 3 Abs 1 lit a der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit?

Im Fall der Verneinung der ersten Frage:

2. Sind Art 45 AEUV und Art 7 der Verordnung (EU) Nr 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. 4. 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer der Union dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der die Gewährung einer Vergütung für den Verdienstentgang, der Arbeitnehmern aufgrund einer gesundheitsbehördlich verfügten Absonderung wegen eines positiven COVID-19-Testergebnisses entsteht (wobei die Vergütung zunächst vom Arbeitgeber den Arbeitnehmern auszuzahlen ist und insoweit ein Ersatzanspruch gegen den Bund auf den Arbeitgeber übergeht), davon abhängig ist, dass die Absonderung durch eine inländische Behörde aufgrund nationaler epidemierechtlicher Vorschriften verfügt wird, sodass eine derartige Vergütung für Arbeitnehmer, die als Grenzgänger ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat haben und deren Absonderung (Quarantäne) durch die Gesundheitsbehörde ihres Wohnsitzstaats verfügt wird, nicht geleistet wird?“

[14] Die Beantwortung der vom VwGH an den EuGH herangetragenen Vorlagefragen ist im vorliegenden Fall für die Beurteilung der Frage, nach welcher Vorschrift sich ein allfälliger Entgeltfortzahlungsanspruch des Klägers richtet, relevant. Der Oberste Gerichtshof hat von einer allgemeinen Wirkung der Vorabentscheidung des EuGH auszugehen und diese daher auch in Rechtssachen, in denen er nicht unmittelbar Anlassfallgericht ist, zur Anwendung zu bringen. Das Verfahren ist daher zu unterbrechen (vgl RS0110583).

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