OGH 7Ob61/22d

OGH7Ob61/22d29.6.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Hofrätin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätin und die Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Mag. Pertmayr, und Dr. Weber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M* B*, vertreten durch die Poduschka Partner Anwaltsgesellschaft mbH in Linz, gegen die beklagte Partei U* AG, *, vertreten durch Dr. Andreas A. Lintl, Rechtsanwalt in Wien, wegen Feststellung (Streitwert 7.000 EUR), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 9. Februar 2022, GZ 50 R 149/21z‑20, womit das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 21. Oktober 2021, GZ 16 C 185/21d‑14, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0070OB00061.22D.0629.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Diebeklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 626,52 EUR (darin enthalten 104,42 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Zwischen dem Kläger und der Beklagten besteht ein Rechtsschutzversicherungsvertrag, dem die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutzversicherung (ARB 2005) zugrunde liegen. Diese lauten auszugsweise:

Artikel 2

Was gilt als Versicherungsfall und wann gilt er als eingetreten?

[…]

3. In den übrigen Fällen gilt als Versicherungsfall der tatsächliche oder behauptete Verstoß des Versicherungsnehmers, Gegners oder eines Dritten gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften; der Versicherungsfall gilt in dem Zeitpunkt als eingetreten, in dem eine der genannten Personen begonnen hat oder begonnen haben soll, gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften zu verstoßen. […]

[…]

Artikel 6

Welche Leistungen erbringt der Versicherer?

1. Verlangt der Versicherungsnehmer Versicherungsschutz, übernimmt der Versicherer im Falle seiner Leistungspflicht die ab dem Zeitpunkt der Geltendmachung des Deckungsanspruches entstehenden Kosten gemäß Punkt 6., soweit sie für die Wahrnehmung der rechtlichen Interessen des Versicherungsnehmers notwendig sind.

[...]

3. Notwendig sind die Kosten, wenn die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung zweckentsprechend und nicht mutwillig ist und hinreichende Aussicht auf deren Erfolg besteht. […]

[…]

Artikel 7

Was ist vom Versicherungsschutz ausgeschlossen?

[…]

2. Vom Versicherungsschutz sind ferner ausgeschlossen,

[…]

2.4 die Geltendmachung von Forderungen, die an den Versicherungsnehmer abgetreten wurden, und die Abwehr von Haftungen aus Verbindlichkeiten anderer Personen, die der Versicherungsnehmer übernommen hat, wenn die Abtretung oder Haftungsübernahme erfolgte, nachdem der Versicherungsfall eingetreten ist, oder nach dem vom Versicherungsnehmer, Gegner oder einem Dritten eine den Versicherungsfall auslösende Rechtshandlung oder Willenserklärung vorgenommen wurde;

[…]

Artikel 9

Wann und wie hat der Versicherer zum Deckungsanspruch des Versicherungsnehmers Stellung zu nehmen? [...]

[...]

2. [...]Kommt er nach Prüfung des Sachverhaltes unter Berücksichtigung der Rechts- und Beweislage zum Ergebnis:

[…]

2.2 dass diese Aussicht auf Erfolg nicht hinreichend, d. h. ein Unterliegen in einem Verfahren wahrscheinlicher ist als ein Obsiegen, ist er berechtigt, die Übernahme der an die Gegenseite zu zahlenden Kosten abzulehnen;

2.3. dass erfahrungsgemäß keine Aussicht auf Erfolg besteht, hat er das Recht, die Kostenübernahme zur Gänze abzulehnen;

[...]

[2] Da die Beklagte in ihrer Revision das Vorliegen der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO nicht zu begründen vermag, ist die Revision entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig. Die Zurückweisung eines ordentlichen Rechtsmittels wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 ZPO):

Rechtliche Beurteilung

[3] 1. Der behauptete Mangel des Berufungsverfahrens wurde geprüft, liegt jedoch nicht vor (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO). Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, das Vorbringen der Beklagten in der Berufung, wonach der Versicherungsfall nicht unter einen der Deckungsbausteine der ARB 2005 (Art 17 ff) falle, verstoße gegen das Neuerungsverbot, ist nicht korrekturbedürftig, weil die Beklagte diesen Einwand im Verfahren erster Instanz nicht erhoben hat (vgl zur Kognitionsbefugnis, RS0042136; zur Auslegung von Vorbringen als Frage des Einzelfalls siehe RS0042828).

[4] 2.1. Unbestritten ist hier für den Eintritt des Versicherungsfalls Art 2.3 ARB 2005 maßgeblich. Der Verstoß ist im Fall des serienmäßigen Einbaus eines nicht rechtskonformen Bauteils in eine Sache der Zeitpunkt des Kaufs der mangelhaften Sache durch den Versicherungsnehmer (RS0114001 [T9]). Der Versicherungsfall ist daher der Erwerbdes Fahrzeugs, weil sich erst damit die vom Rechtsschutzversicherer in Bezug auf den Versicherungsnehmer konkret übernommene Gefahr zu verwirklichen beginnt (7 Ob 32/18h).

[5] 2.2. Hier hat der Versicherungsnehmer während des versicherten Zeitraums einen gebrauchten Diesel-PKW erworben und begehrt Deckung für gegen die Fahrzeugherstellerin geltend zu machende Ansprüche. Nach Art 7.2.4. ARB 2005 ist die Deckung ausgeschlossen, wenn eine Forderung geltend gemacht wird, die an den Versicherungsnehmer abgetreten wurde, nachdem der Versicherungsfall eingetreten ist. Eine Abtretung nach dem Kauf des Fahrzeugs behauptet die Beklagte aber gar nicht, sodass schon mangels Erfüllung der zeitlichen Voraussetzung dieses Ausschlusstatbestands dessen Heranziehung nicht in Betracht kommt (7 Ob 133/21s).

[6] 2.3. Die von der Revision ins Treffen geführte Entscheidung 1 Ob 269/06z betraf keinen Versicherungsvertrag; für die Frage der Erfüllung des Deckungsausschlusses nach Art 7.2.4 ARB 2005 ist daraus nichts abzuleiten (7 Ob 133/21s).

[7] 3.1. In der Rechtsschutzversicherung ist bei Beurteilung der Erfolgsaussichten kein strenger Maßstab anzulegen (RS0081929). Eine nicht ganz entfernte Möglichkeit des Erfolgs genügt (RS0117144).

[8] 3.1.1. Die vorzunehmende Beurteilung, ob „keine Aussicht auf Erfolg“ im Sinn von Art 9.2.3. ARB 2005 besteht, hat sich am Begriff „nicht als offenbar aussichtslos“ des die Bewilligung der Verfahrenshilfe regelnden § 63 ZPO zu orientieren. „Offenbar aussichtslos“ ist eine Prozessführung, die schon ohne nähere Prüfung derAngriffs‑ oder Verteidigungsmittel als erfolglos erkannt werden kann, insbesondere bei Unschlüssigkeit, aber auch bei unbehebbarem Beweisnotstand (vgl RS0116448; RS0117144). Die Beurteilung der Erfolgsaussichten ist aufgrund einer Prognose nach dem im Zeitpunkt vor Einleitung des Haftpflichtprozesses vorliegenden Erhebungsmaterial vorzunehmen, weil eine Beurteilung der Beweischancen durch antizipierte Beweiswürdigung nicht in Betracht kommt (RS0124256 [T1]). Feststellungen im Deckungsprozess über Tatfragen, die Gegenstand des Haftpflichtprozesses sind, sind für den Haftpflichtprozess nicht bindend, daher überflüssig und, soweit sie getroffen werden, für die Frage der Deckungspflicht unbeachtlich. Eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung und des Ergebnisses des Haftpflichtprozesses kommt im Deckungsprozess bei Beurteilung der Erfolgsaussichten nicht in Betracht (RS0081927), was insbesondere für jene Beweismittel gilt, die in einem hohen Maß der richterlichen Würdigung unterliegen, wie dies bei Zeugen- und Parteiaussagen oder Sachverständigengutachten der Fall ist (RS0081927 [T2]).

[9] 3.1.2. Für den Fall, dass im Sinne des Art 9.2.2. ARB 2005 die Erfolgsaussichten nicht hinreichen, weil ein Unterliegen des Versicherungsnehmers wahrscheinlicher ist als ein Obsiegen, sieht die genannte Bestimmung vor, dass der Versicherer berechtigt ist, (nur) die Übernahme der an die Gegenseite zu zahlenden Kosten abzulehnen (RS0082253 [T2]), wobei auch diesfalls der Grundsatz gilt, dass im Deckungsprozess die Beweisaufnahme und die Feststellungen zu im Haftpflichtprozess relevanten Tatfragen zu unterbleiben haben und daher dem Versicherer eine vorweggenommene Beweiswürdigung verwehrt ist (RS0124256).

[10] 3.1.3. Den Beweis für das Vorliegen eines Risikoausschlusses als Ausnahmetatbestand hat der Versicherer zu führen (RS0107031 [T3]). Die Beurteilung der Erfolgsaussichten in der Rechtsschutzversicherung hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (RS0081929 [T3]).

[11] 3.2. Der Kläger begehrt Rechtsschutzdeckung für die Geltendmachung eines auf § 1295 Abs 2 ABGB sowie § 874 ABGB gestützten Anspruchs auf Ersatz des Minderwerts (30 % des Kaufpreises) gegen die Herstellerin wegen des Kaufs eines Fahrzeugs, dessen Motor mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgeliefert worden sei. Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass dieses Vorbringen nicht unschlüssig sei, eine nicht ganz entfernte Möglichkeit des Erfolgs bestehe und dass der von der Beklagten erhobene Einwand, der Kläger hätte das Fahrzeug auch in Kenntnis der Softwaremanipulation nicht um einen geringeren Preis erworben, als Tatfrage im Haftpflichtprozess zu beurteilen und daher für die Deckungspflicht unbeachtlich sei, ist nicht korrekturbedürftig. Die von der Revision zitierte Entscheidung 1 Ob 198/20d spricht für die Rechtsansicht der Vorinstanzen, begründet der Oberste Gerichtshof doch dort die Zurückweisung der Revision mit dem Hinweis auf die vom Erstgericht getroffene (Negativ-)Feststellung, wonach nicht festgestellt werden konnte, ob die Klägerin das Fahrzeug in Kenntnis der Manipulation überhaupt oder allenfalls um einen geringeren Preis erworben hätte.

[12] 4. Die Revision der Beklagten ist daher mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückzuweisen.

[13] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50, 41 ZPO.

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