OGH 9Nc8/22h

OGH9Nc8/22h3.6.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Fichtenau als Vorsitzende, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Hon.‑Prof. Dr. Dehn als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei P*, vertreten durch Skribe Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei E*, Großbritannien, wegen 250 EUR sA, über den Ordinationsantrag der klagenden Partei den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0090NC00008.22H.0603.000

 

Spruch:

Als örtlich zuständiges Gericht wird das Bezirksgericht Schwechat bestimmt.

 

Begründung:

[1] Die in Österreich wohnhafteKlägerin erhob gegen das beklagte Luftfahrtunternehmen mit Sitz in Großbritannien Klage auf Zahlung von 250 EUR sA aufgrund der Verordnung (EG) Nr 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs‑ und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen (EU‑FluggastVO). Ihr Flug von London nach Wien habe sich um mehr als drei Stunden verspätet, weshalb sie gegenüber der Beklagten den Ausgleichsanspruch nach Art 7 Abs 1 lit a EU‑FluggastVO geltend mache. Das von der Klägerin angerufene Bezirksgericht Schwechat sprach rechtskräftig seine (internationale) Unzuständigkeit aus.

[2] Die Klägerin beantragt eine Ordination nach § 28 JN. Eine Rechtsverfolgung in Großbritannien stelle für sie als Verbraucherin eine übermäßige Erschwernis dar. Zur effektiven Durchsetzung ihrer Ansprüche nach der EU‑FluggastVO sei eine Ordination geboten. Eine Vollstreckung britischer Entscheidungen in Österreich sei mangels Gegenseitigkeit gar nicht möglich.

Rechtliche Beurteilung

[3] Der Ordinationsantrag ist berechtigt.

[4] 1. An die rechtskräftige Verneinung der internationalen Zuständigkeit des von der Klägerin angerufenen Bezirksgerichts Schwechat ist der Oberste Gerichtshof gebunden (RS0046568).

[5] 2. Für den Fall, dass für eine bürgerliche Rechtssache die Voraussetzungen für die örtliche Zuständigkeit eines inländischen Gerichts nicht gegeben oder nicht zu ermitteln sind, bestimmt § 28 Abs 1 Z 2 JN, dass der Oberste Gerichtshof aus den sachlich zuständigen Gerichten eines zu bestimmen hat, welches für die fragliche Rechtssache als örtlich zuständig zu gelten hat, wenn der Kläger österreichischer Staatsbürger ist oder seinen Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder Sitz im Inland hat und im Einzelfall die Rechtsverfolgung im Ausland nicht möglich oder unzumutbar wäre.

[6] 3.1 Die Klägerin begehrt eine Ordination nach dieser Bestimmung, die Fälle abdecken soll, in denen trotz Fehlens eines inländischen Gerichtsstands ein Bedürfnis nach Gewährung von inländischem Rechtsschutz besteht, weil die Sache ein Naheverhältnis zum Inland aufweist und im Einzelfall eine effektive Klagemöglichkeit im Ausland fehlt (RS0057221 [T4]). Letzteres wird insbesondere dann angenommen, wenn eine Exekution im Inland angestrebt wird, eine am Sitz des Beklagten ergangene Entscheidung hier aber nicht vollstreckt würde (RS0046148 [T17]). Dem Vorbringen der Klägerin lässt sich gerade noch ausreichend deutlich entnehmen, dass sie die Vollstreckung in Österreich anstrebt.

[7] 3.2 Die Fluggast‑VO gilt grundsätzlich nicht für aus einem Drittstaat (wie nunmehr Großbritannien) in Österreich ankommende Flüge eines nicht der Gemeinschaft angehörigen Luftfahrtunternehmens (s Art 3 Abs 1 Fluggast‑VO; BeckOK, Fluggastrechte‑Verordnung [1. 4. 2022] Schmid Art 3 Rn 1–3; die von der Klägerin genannten Entscheidungen betrafen Flüge mit Abflug aus Österreich). Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Austrittsabkommen (Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, ABl 2019/C 384 I/01; idF: Austrittsabkommen). Gemäß Art 127 Abs 1 Austrittsabkommen galt das Unionsrecht, sofern in diesem Abkommen nichts anderes bestimmt war, zwar während des Übergangszeitraums für das Vereinigte Königreich sowie im Vereinigten Königreich. Gemäß Art 127 Abs 3 Austrittsabkommen entfaltete das nach Art 127 Abs 1 für das Vereinigte Königreich und im Vereinigten Königreich geltende Unionsrecht während des Übergangszeitraums die gleichen Rechtswirkungen wie innerhalb der Union und ihrer Mitgliedstaaten und war nach denselben Methoden und allgemeinen Grundsätzen auszulegen und anzuwenden, die auch innerhalb der Union gelten. Dieser Übergangszeitraum endete jedoch mit 31. 12. 2020 (Art 126 Austrittsabkommen). Eine Fortgeltung von Rechten aus der Fluggastrechte‑VO geht daraus nicht hervor. Die Klägerin legt auch keine andere Rechtsgrundlage dafür dar.

[8] Allerdings ist die materiell‑rechtliche Schlüssigkeit der beabsichtigten oder mit dem Ordinationsantrag verbundenen Klage nicht Gegenstand der Prüfung der Ordinationsvoraussetzungen (s Garber in Fasching/Konecny 3 § 28 JN Rz 163 mwN), sodass darauf hier nicht weiter einzugehen ist.

[9] 4.1 Der Oberste Gerichtshof hat Ordinationsanträgen bereits in einer Vielzahl von Entscheidungen stattgegeben, wenn der Kläger Ansprüche nach der EU‑FluggastVO sonst in einem Drittstaat einklagen müsste und zwischen diesem Drittstaat und Österreich kein Vollstreckungsübereinkommen besteht (zB 6 Nc 1/19b, 8 Nc 18/20v; 4 Nc 20/20h).

[10] 4.2 Auch im Verhältnis zum seit 1. 1. 2021 als Drittstaat anzusehenden Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland liegt eine vergleichbare Situation vor:

[11] 4.3 Entscheidungen eines britischen Gerichts, die in einem nach dem Ablauf des 31. 12. 2020 eingeleiteten gerichtlichen Verfahren ergehen, können nicht mehr nach den Regeln der EuGVVO vollstreckt werden (Art 67 Abs 2 lit a Austrittsabkommen e contrario). Auch eine Vollstreckung britischer Entscheidungen in Österreich nach dem EuGVÜ oder dem LGVÜ kommt nicht in Betracht (Exenberger/Karl, Anerkennung und Vollstreckung zivilgerichtlicher Entscheidungen Post‑Brexit, ecolex 2021/227, 320; vgl auch Cap, BREXIT – Die justizielle Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich in Zivilrechtssachen nach 31. 12. 2020, RZ 2021, 124 [127 f]). Es bleibt damit – jedenfalls im hier zu beurteilenden Fall (vgl zum Anwendungsbereich des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen in Zivil‑ und Handelssachen: Tretthahn‑Wolski/Förstel‑Cherng, Nein zu Lugano – zu den Auswirkungen des harten Brexits auf Cross‑Border‑Streitigkeiten, ÖJZ 2021/92, 708) – nur ein (allfälliger: Cap, RZ 2021, 124 [128]) Rückgriff auf den bilateralen Vollstreckungsvertrag.

[12] 4.4 Nach dem Vertrag zwischen der Republik Österreich und dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen, BGBl 1962/224, werden grundsätzlich nur Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen eines „oberen Gerichts“ (Art II Abs 1 iVm Art I Z 2) nach einem (auch Fragen der Zuständigkeit umfassenden) Exequaturverfahren (Art III) anerkannt und vollstreckt. Trotz der in Art II Abs 2 vorgesehenen grundsätzlichen Möglichkeit zur Vollstreckung auch von Entscheidungen „unterer“ Gerichte („Dieser Vertrag schließt nicht aus…“) kommt eine Vollstreckung der Entscheidung eines britischen „unteren“ Gerichts in Österreich mangels qualifizierter Gegenseitigkeit (§ 406 EO) nicht in Betracht (1 Nd 502/85 SZ 58/109; RS0002320).

[13] 4.5 Da der Klägerin im Hinblick auf die geringe Höhe ihrer Forderung die Erlangung einer Entscheidung eines britischen „oberen Gerichts“ kaum möglich sein wird, ist von einer faktischen Unmöglichkeit der Exekutionsführung in Österreich auf Grund eines in Großbritannien erlangten Titels auszugehen (siehe 1 Nd 502/85).

[14] 5. Insgesamt sind damit die Voraussetzungen für eine Ordination nach § 28 Abs 1 Z 2 JN als erfüllt anzusehen (im Ergebnis ebenso bereits 6 Nc 1/22g [Sitz der Airline in Großbritannien]).

[15] 6. Bei der Auswahl des zu bestimmenden Gerichts ist auf die Kriterien der Sach‑ und Parteinähe sowie der Zweckmäßigkeit Bedacht zu nehmen (RS0106680 [T13]). Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben hat eine Zuweisung an das Bezirksgericht Schwechat zu erfolgen, lag doch zum einen der Ankunftsort in dessen Sprengel und wurde zum anderen die Klage bereits bei diesem Gericht behandelt (6 Nc 31/20s mwN ua).

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