OGH 8Ob64/22b

OGH8Ob64/22b25.5.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Tarmann‑Prentner, Mag. Korn, Dr. Stefula und Dr. Thunhart als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. E*, gegen die beklagte Partei Ing. G*, vertreten durch Mag. Franz Kellner, Rechtsanwalt in Wien, wegen 85,56 EUR sA, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 22. März 2022, GZ 34 R 22/22w‑55, mit dem die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 19. April 2021, GZ 52 C 638/20i‑24, zurückgewiesen wurde den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0080OB00064.22B.0525.000

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben, der angefochtene Beschluss aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rekursverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Das Urteil des Erstgerichts wurde dem unvertretenen Beklagten am 5. 5. 2021 zugestellt. Am 2. 6. 2021, also innerhalb der vierwöchigen Berufungsfrist des § 464 Abs 1 ZPO, stellte der Beklagte einen Verfahrenshilfeantrag, mit dem er unter anderem die vorläufig unentgeltliche Beigebung eines Rechtsanwalts zur Erhebung einer Berufung begehrte. Dieser Antrag wurde mit Beschluss vom 14. 6. 2021 abgewiesen. Der Beschluss wurde dem Beklagten am 21. 6. 2021 durch Hinterlegung zugestellt.

[2] Am 27. 10. 2021 erhob der Beklagte Berufung gegen das Urteil bzw Rekurs gegen den Beschluss, mit dem der Antrag auf Verfahrenshilfe abgewiesen wurde. Zur Rechtzeitigkeit führte er aus, er habe sich vom 1. 6. bis 30. 6. 2021 nicht an der Abgabestelle aufgehalten, was er der Post auch bekanntgegeben habe. Damit sei die Zustellung am 21. 6. 2021 nicht wirksam gewesen.

[3] Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Berufungsgericht die Berufung und den Rekurs als verspätet zurück. Könne ein Dokument an der Abgabestelle nicht zugestellt werden und habe der Zusteller Grund zur Annahme, dass sich der Empfänger regelmäßig an der Abgabestelle aufhalte, so sei das Dokument zu hinterlegen und mindestens zwei Wochen zur Abholung bereitzuhalten. Zwar gelte es als nicht zugestellt, wenn sich ergebe, dass der Empfänger wegen Abwesenheit von der Abgabestelle nicht rechtzeitig vom Zustellvorgang Kenntnis erlangen konnte. Allerdings werde die Zustellung an dem der Rückkehr an die Abgabestelle folgenden Tag innerhalb der Abholfrist wirksam, an dem das hinterlegte Dokument behoben werden könne. Da der Beklagte vom 1. 6. bis 30. 6. 2021 nicht an der Abgabestelle aufhältig gewesen sei, sei die Zustellung des Beschlusses, mit dem der Verfahrenshilfeantrag abgewiesen worden sei, (erst) am darauf folgenden Tag, dem 2. 7. 2021, wirksam geworden. Dieser nach § 517 Abs 1 ZPO unanfechtbare Beschluss sei mit seiner Zustellung in Rechtskraft erwachsen. Die vierwöchige Frist zur Erhebung der Berufung habe daher mit Ablauf des 2. 9. 2021 geendet. Die erst am 27. 10. 2021 erhobene Berufung sei daher verspätet.

[4] Gegen diesen Beschluss, soweit damit die Berufung des Beklagten zurückgewiesen wird, richtet sich der Rekurs des Beklagten mit dem Antrag, den Beschluss ersatzlos zu beheben und dem Berufungsgericht die Entscheidung unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufzutragen.

[5] Der Kläger beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen.

[6] Der Rekurs ist zulässig und auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[7] 1. Ein Beschluss des Berufungsgerichts, mit welchem es die Berufung ohne Sachentscheidung aus formellen Gründen zurückgewiesen hat, ist zufolge § 519 Abs 1 Z 1 ZPO immer mit Rekurs (Vollrekurs) anfechtbar (RIS‑Justiz RS0098745 [T3]). Eine meritorische Erledigung des Rechtsmittels setzt somit nicht voraus, dass die Entscheidung von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage abhängt (RS0098745 [T16]). Auch der Wert des Entscheidungsgegenstands ist ohne Bedeutung (RS0098745 [T17]). Der Rekurs ist daher zulässig.

[8] 2. Kann die Sendung an der Abgabestelle nicht zugestellt werden und hat der Zusteller Grund zur Annahme, dass sich der Empfänger regelmäßig an der Abgabestelle aufhält, so ist das Schriftstück beim zuständigen Postamt zu hinterlegen (§  17 Abs 1 ZustG). Die hinterlegte Sendung ist mindestens zwei Wochen zur Abholung bereitzuhalten. Sie gilt mit dem ersten Tag der Abholfrist als zugestellt (§ 17 Abs 3 ZustG). Sie gilt nicht als zugestellt, wenn sich ergibt, dass der Empfänger oder dessen Vertreter im Sinne des § 13 Abs 3 ZustG wegen Abwesenheit von der Abgabestelle nicht rechtzeitig vom Zustellvorgang Kenntnis erlangen konnte, doch wird die Zustellung an dem der Rückkehr an die Abgabestelle folgenden Tag innerhalb der Abholfrist wirksam, an dem die hinterlegte Sendung behoben werden könnte (§  17 Abs 3 ZustG).

[9] 3. Voraussetzung für eine wirksame Hinterlegung ist daher – wie ausgeführt – unter anderem, dass der Zusteller Grund zur Annahme hatte, dass sich der Empfänger regelmäßig an der Abgabenstelle aufhält. An dieses Erfordernis sind keine allzu strengen Anforderungen zu stellen. Es genügt daher, wenn die Auskunft über die Abwesenheit des Empfängers unbedenklich erscheint oder sonst aus objektiven Tatsachen auf den regelmäßigen Aufenthalt des Empfängers geschlossen werden darf. Muss der Zusteller aber aus den vorgefundenen Umständen ableiten, dass der Empfänger nicht bloß vorübergehend von der Abgabenstelle abwesend ist, oder ist ihm dies sogar bekannt, so ist eine dessen ungeachtet vorgenommene Hinterlegung unwirksam und zieht demnach keine Rechtswirkungen nach sich (so zu den insoweit vergleichbaren Voraussetzungen des § 16 ZustG: 1 Ob 638/86; RS0083901; vgl auch Stummvoll in Fasching/Konecny, Zivilprozessgesetze³ § 17 ZustG Rz 6).

[10] 4. Im konkreten Fall hat der Beklagte in der Berufung vorgebracht, der Post seine Ortsabwesenheit von 1. 6. bis 30. 6. 2021 bekanntgegeben zu haben. Unter einem hat er eine Ortsabwesenheitsmitteilung an die Post vorgelegt. Das Berufungsgericht hat sich, weil es schon nach dem Vorbringen des Beklagten zu seiner Ortsabwesenheit und zur Rückkehr an die Abgabestelle das Rechtsmittel als verspätet angesehen hat, damit nicht auseinandergesetzt und auch nicht dargelegt, von welchem Sachverhalt es diesbezüglich ausgeht.

[11] Sollte der Beklagte tatsächlich seine Ortsabwesenheit der Post bekanntgegeben haben, bestand aber für das Zustellorgan kein Grund zur Annahme, dass sich der Beklagte regelmäßig an der Abgabestelle aufhält. Damit wäre aber eine Hinterlegung mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 17 ZustG unwirksam und könnte auch nicht nach § 17 Abs 3 ZustG durch Rückkehr an die Abgabestelle innerhalb der Abholfrist heilen.

[12] 5. Dem Rekurs des Beklagten war daher Folge zu geben, der Beschluss aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird zu beurteilen haben, ob der Beklagte seine Ortsabwesenheit der Post wie behauptet bekanntgegeben hat und daher eine Hinterlegung unzulässig war oder ob eine solche Bekanntgabe nicht erfolgte und damit eine Heilung nach § 17 Abs 3 ZustG mit Rückkehr an die Abgabestelle eingetreten ist.

[13] 6. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

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