OGH 9Ob18/22w

OGH9Ob18/22w19.5.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, die Hofrätinnen und Hofräte des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer, Hon.‑Prof. Dr. Dehn, Dr. Hargassner und Mag. Korn in der Rechtssache Dipl. Ing. P* B*, vertreten durch Breiteneder Rechtsanwalt GmbH in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. Mag. S* K*, vertreten durch Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, und 2. E* GmbH *, vertreten durch DORDA Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 31.497,16 EUR sA, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der zweitbeklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom 31. Jänner 2022, GZ 33 R 103/21s‑20, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0090OB00018.22W.0519.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs der zweitbeklagten Partei wird gemäß § 526 Abs 2 Satz 1 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPOzurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der Kläger begehrt von den Beklagten den Klagsbetrag zur ungeteilten Hand aus dem Titel des Schadenersatzes Zug um Zug gegen die Rückgabe von 500 Stück W*-Aktien. Er habe als Verbraucher im Zeitraum 15. 11. 2017 bis 26. 9. 2020 500 Stück Aktien der W* AG erworben. Durch die fallenden Kurse der Aktien der W* AG und somit dem Erwerb der ungewollten Aktien sei ihm ein Schaden in Höhe des Klagsbetrags entstanden.

[2] Der allgemeine Gerichtsstand des Erstbeklagtenliegt im Sprengel des angerufenen Gerichts.

[3] Der Kläger stützt die internationale Zuständigkeit des Erstgerichts hinsichtlich der Zweitbeklagten auf Art 7 Nr 2 EuGVVO und Art 8 Nr 1 EuGVVO. Hinsichtlich des Gerichtsstandes nach Art 8 Nr 1 EuGVVO brachte der Kläger zusammengefasst vor, dass der Erstbeklagte von 2009 bis 2020 Aufsichtsratsmitglied der W* AG mit Sitz in München gewesen sei. In dieser Funktion habe er die Zweitbeklagte mit der Prüfung des Jahresabschlusses (Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung sowie Anhang) und des Lageberichts der W* AG beauftragt. Zumindest ab 2015 seien wesentliche Teile des Umsatzes der W* AG frei erfunden gewesen. Trotz zahlreicher Hinweise auf Malversationen („Luftbuchungen“) ab 2008 hätte weder der Erstbeklagte seine Kontrollbefugnisse als Aufsichtsrat wahrgenommen, noch die Zweitbeklagte konkrete Nachforschungen angestellt. Die Zweitbeklagte habe seit 2009 uneingeschränkte Bestätigungsvermerke erteilt, und zwar auch noch nach dem Bekanntwerden der Bilanzmanipulationen am 24. 4. 2019. Sowohl die Vorstände der W*AG als auch die Beklagten als Aufsichtsratsmitglied bzw Abschlussprüferin hätten durch bewusstes und gewolltes Täuschen über kapitalmarktrelevante Tatsachen den Kläger dazu verleitet, Aktien zu erwerben, um dadurch sich oder die W* AG zu bereichern. Durch das deliktische Handeln der Organe der W* AG und deren Hilfsorgane sei ihm der klagsgegenständliche Schaden entstanden. Hätten die Beklagten gesetzes- und pflichtgetreu gehandelt, wäre ihm kein Schaden entstanden, weil die Bilanzmanipulationen vor seinem Investment bekannt geworden wären, und er dann nicht in W*-Aktien investiert hätte. Der Kläger habe auf die Vollständigkeit und Richtigkeit der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der W* AG und auf das Funktionieren der Kontrollmechanismen (Aufsichtsrat und Abschlussprüfer) vertraut.

[4] Die Zweitbeklagte wendete die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts ein. Der Kläger könne sich nicht auf die bezogenen Gerichtsstände berufen. Dem behaupteten Gerichtsstand des Art 8 Nr 2 EuGVVO hielt die Zweitbeklagteentgegen, dass die primäre Funktion des Aufsichtsrats in der laufenden Überwachung des von ihm ausgewählten Vorstands sei. Insoweit habe der Aufsichtsrat zwar insbesondere den Jahresabschluss der Gesellschaft auf Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit zu prüfen. Neben einem bestellten Abschlussprüfer schulde der Aufsichtsrat im Rahmen seiner Rechtmäßigkeitsprüfung aber keine „zweite Abschlussprüfung“, sondern er habe den Jahresabschluss vielmehr auf Widerspruchsfreiheit und Stimmigkeit zu überprüfen. Es seien keine divergierenden Entscheidungen zum selben Lebenssachverhalt im Sinne des Art 8 Z 1 EuGVVO zu befürchten, die einen gemeinsamen Gerichtsstand der beiden Beklagten rechtfertigen würden. Gegen den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft spreche zudem auch der Gesichtspunkt der Vorhersehbarkeit. Für die Zweitbeklagte sei es nämlich nicht vorhersehbar gewesen, dass sie am Wohnsitz eines einzelnen Aufsichtsratsmitglieds der W* AG geklagt werde. Überdies sei die Berufung auf den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft missbräuchlich. Es sei nämlich evident, dass die Klage gegen den Erstbeklagten nur erhoben worden sei, um einen Gerichtsstand in Österreich zu konstruieren. Anders lasse es sich nicht erklären, weshalb der Erstbeklagte ohne nähere Begründung als einziges Aufsichtsratsmitglied geklagt worden sei.

[5] Das Erstgericht erklärte sich für die Behandlung der Klage gegen die Zweitbeklagte international unzuständig und wies die Klage hinsichtlich der Zweitbeklagten zurück. Der Kläger könne sich weder auf den Gerichtsstand nach Art 7 Nr 2 EuGVVO noch auf jenen nach Art 8 Nr 1 EuGVVO berufen. Es lägen verschiedene Rechtslagen und Sachlagen vor, weil der Kläger sich auf unterschiedliche Pflichtverletzungen der Beklagten stütze. Damit existiere keine gemeinsame Vorfrage, welche den erforderlichen Sachzusammenhang im Sinne des Art 8 Nr 1 EuGVVO begründen könnte.

[6] Das Rekursgericht gab dem dagegen erhobenen Rekurs des Klägers Folge. Es verwarf die Einrede der fehlenden internationalen Zuständigkeit der Zweitbeklagten und trug dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund auf. Der Kläger könne sich hinsichtlich der Zweitbeklagten auf den Gerichtsstand nach Art 8 Nr 1 EuGVVO berufen. In seiner Begründung stützte sich das Rekursgericht zunächst auf die in der Entscheidung 8 Ob 126/19s dargelegten Grundsätze. Dadurch, dass die jeweiligen Prüf‑ und Kontrollpflichten der beiden Beklagten jeweils die Geschäftsgebarung der W* AG betroffen hätten, wobei die Zweitbeklagte dem Aufsichtsrat der W* AG das Ergebnis ihrer Prüfung zu berichten und der Aufsichtsrat der W* AG gegenüber der Hauptversammlung zu dem Ergebnis der Prüfung des Jahresabschlusses durch die Zweitbeklagte Stellung zu nehmen gehabt habe, sei ein ausreichender Sachzusammenhang für die Begründung des inländischen Gerichtsstands für die Zweitbeklagte gegeben. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger den Erstbeklagten nur deshalb in Anspruch genommen habe, um einen Gerichtsstand für die Zweitbeklagte in Österreich zu konstruieren, lägen nicht vor. Der ordentliche Revisionsrekurs sei mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage im Sinne des § 528 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

[7] Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Zweitbeklagten mit dem Antrag auf Wiederherstellung des erstgerichtlichen Zurückweisungsbeschlusses.

[8] Gemäß § 528 Abs 1 ZPO ist gegen den Beschluss des Rekursgerichts der Revisionsrekurs nur zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechts abhängt, der zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung erhebliche Bedeutung zukommt, etwa weil das Rekursgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abweicht oder eine solche Rechtsprechung fehlt oder uneinheitlich ist. Eine derartige Rechtsfrage zeigt die Zweitbeklagte in ihrer Zulassungsbegründung nicht auf. Trotz Fehlens einer ausdrücklichen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu einer konkreten Fallgestaltung (hier die Klage eines geschädigten Aktionärs gegen ein Aufsichtsratsmitglied und die Abschlussprüferin) liegt dann keine erhebliche Rechtsfrage vor, wenn die Lösung trotz neuer Sachverhaltselemente bereits mit Hilfe vorhandener Leitlinien höchstgerichtlicher Rechtsprechung erfolgen kann (RS0042656 [T48]; vgl auch Lovrek in Fasching/Konecny³ § 502 ZPO Rz 33, 51). Dies ist hier der Fall. Der Umstand, dass in Österreich weitere gleichartige Klagen zu erwarten sind, kann für sich allein die Revisionszulässigkeit nicht begründen (RS0042816).

Rechtliche Beurteilung

[9] 1. Nach Art 8 Nr 1 EuGVVO kann eine von mehreren beklagten Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, auch vor dem Gericht des Orts verklagt werden, an dem einer der anderen Beklagten seinen Wohnsitz hat, sofern zwischen den Klagen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.

[10] 2. Der Oberste Gerichtshof hat sich in der Entscheidung 8 Ob 126/19s ausführlich sowohl mit den unionsrechtlichen, den in‑ und ausländischen oberstgerichtlichen Erkenntnissen sowie dem Schrifttum zum Gerichtsstand nach Art 8 Nr 1 EuGVVO auseinandergesetzt. Insbesondere folgende Grundsätze wurden darin aufgestellt:

[11] 2.1. Die Zuständigkeitsvorschriften sollen in hohem Maß vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten. Besondere Zuständigkeitsvorschriften sind, weil von der aufgestellten Grundregel des Gerichtsstands des Wohnsitzes des Beklagten abgewichen wird, eng auszulegen. Zur Anwendung des Art 8 Nr 1 EuGVVO muss zwischen den verschiedenen Klagen eines Klägers gegen verschiedene Beklagte ein Zusammenhang bestehen, der vom Gericht in den Mitgliedstaaten zu beurteilen ist (Pkt 2.).

[12] 2.2. Der Zusammenhang ist nach dem anwendbaren Recht (der lex causae) zu beurteilen, weil die Gefahr, dass in getrennten Verfahren einander widersprechende Entscheidungen ergehen, nur aufgrund des auf die einzelnen Ansprüche anwendbaren Rechts beurteilt werden kann. Ein ausreichender Sachzusammenhang ist in der Regel zu bejahen, wenn die Entscheidung über den einen Anspruch vom anderen abhängt oder beide Ansprüche von der Lösung einer gemeinsamen Vorfrage abhängen (Pkt 3.).

[13] 2.3. Der bloße Umstand, dass sich das Ergebnis eines Verfahrens auf das des anderen auswirken kann, reicht noch nicht aus, um die im Rahmen der beiden Verfahren zu treffenden Entscheidungen als „widersprechend“ im Sinne der Verordnung zu qualifizieren. Die Auswirkung der Begründetheit einer der Klagen auf den Umfang des Interesses der anderen Klage genügt demnach nicht (Pkt 5.).

[14] 2.4. Die Klagen müssen im Wesentlichen tatsächlich oder rechtlich gleichgelagert sein. Der erforderliche Sachzusammenhang wird in der Regel immer dann vorliegen, wenn die Entscheidung über den einen Anspruch von dem anderen abhängt oder wenn beide Ansprüche von der Lösung einer gemeinsamen Vorfrage abhängen (Pkt 9.).

[15] 2.5. Unvereinbare Entscheidungen liegen immer dann vor, wenn beide Verfahren dieselben anspruchsbegründenden Tatsachen zum Gegenstand haben. Die Gefahr widersprechender Entscheidungen besteht, wenn sich die im Verfahren zwischen denselben Parteien ergehenden Entscheidungen entweder im Spruch oder in den ihn tragenden Feststellungen widersprechen können. Entscheidungen sind also nicht schon deswegen einander „widersprechend“, weil es zu einer „abweichenden“ Entscheidung kommen kann. Vermieden werden soll eine Abweichung bei derselben Sach- und Rechtslage (Pkt 11.).

[16] 2.6. Bei der Beurteilung, ob in getrennten Verfahren die Gefahr widersprechender Entscheidungen bestünde, ist der Umstand, dass die erhobenen Klagen auf derselben Rechtsgrundlage beruhen, nur einer von mehreren erheblichen Faktoren. Er ist keine unabdingbare Voraussetzung. Der Anwendung des Art 8 Nr 1 EuGVVO steht es nach der jüngeren Rechtsprechung des EuGH für sich genommen nicht entgegen, dass gegen mehrere Beklagte erhobene Klagen auf je nach Mitgliedstaat unterschiedlichen nationalen Rechtsgrundlagen beruhen. Die Einheitlichkeit der auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen begehrten Ansprüche kann sich auch daraus ergeben, dass die Ansprüche auf das selbe Interesse gerichtet sind (Pkt 12.).

[17] 3. Mit dieser Entscheidung, die in der Lehre erst zuletzt anlässlich des gegenständlichen Falls kommentiert wurde (Geroldinger, Konnexität nach Art 8 Nr. 1 Brüssel Ia‑VO: Tradiertes auf dem Prüfstand, JBl 2022, 268), setzt sich der außerordentliche Revisionsrekurs nicht näher auseinander. Vielmehr werden folgende Überlegungen gegen die rekursgerichtliche Entscheidung ins Treffen geführt:

[18] 3.1. Zunächstliegt nach Ansicht der Revisionsrekurswerberin keine idente Sach‑ und Rechtslage vor. Nach Ansicht des Senats entspricht hingegen die vom Rekursgericht vertretene Rechtsauffassung, der nach Art 8 Nr 1 EuGVVO erforderliche Sachzusammenhang zwischen den Klagen gegen die beiden Beklagten sei im konkreten Einzelfall gegeben, den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen. Soweit im außerordentlichen Revisionsrekurs die Argumentation im Wesentlichen auf die rechtlich unterschiedlich zu prüfenden Tatbestandsvoraussetzungen für den geltend gemachten Schadenersatzanspruch zufolge unterschiedlicher Prüf‑ und Sorgfaltspflichten der beiden Beklagten gestützt wird, so wird übersehen, dass die ältere Judikatur des EuGH (vgl Rs C‑51/97 , Réunion européenne SA/Spliethoff's Bevrachtingsskantoor BV), wonach der für die Zuständigkeitsbegründung notwendige Zusammenhang zwischen zwei Klagen fehle, die auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen (vertraglich vs deliktisch) beruhen, mittlerweile aufgrund der jüngeren Judikatur des EuGH (Rs C‑98/06 , Freeport/Arnoldsson) als überholt gilt (10 Ob 79/08b [Pkt 1.3.]; 8 Ob 126/19s [Pkt 7.]). Der Umstand, dass die erhobenen Klagen auf derselben Rechtsgrundlage beruhen, ist nur einer von mehreren erheblichen Faktoren bei der Beurteilung, ob zwischen verschiedenen Klagen ein Zusammenhang gegeben ist, ob also in getrennten Verfahren die Gefahr widersprechender Entscheidungen bestünde. Er ist keine unabdingbare Voraussetzung für eine Anwendung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft (EuGH C‑145/10 , Painer Rn 80 zu Art 6 Nr 1 VO 44/2001 ). Einer Auseinandersetzung mit den im außerordentlichen Revisionsrekurs dargestellten unterschiedlichen materiellen Haftungsgrundlagen der Beklagten bedarf es im vorliegenden Zuständigkeitsstreit daher nicht.

[19] Beide Klagen haben nicht nur ihren Ursprung im Fall „W*“, sondern der Kläger behauptet, dass ihm deshalb ein Schaden entstanden sei, weil unterbliebene Auskünfte über die für die Kaufentscheidung relevanten Tatsachen eine mangelfreie Entscheidung seinerseits verhindert haben. Bei zutreffenden Kenntnissen über die Wirklichkeit hätte er nicht in W*-Aktien investiert, sondern in Aktien der V* AG. Hätten die Beklagten pflichtgetreu gehandelt, wären die Bilanzmanipulationen vor seinem Investment bekannt geworden, sodass ihm kein Schaden entstanden wäre. Der Kläger brachte überdies vor, dass er durch die Beklagten (und andere der W*-AG zuzurechnenden Personen), durch bewusstes und gewolltes Täuschen über kapitalmarktrelevante Tatsachen, dazu verleitet worden sei, W*-Aktien zu erwerben, um dadurch sich oder die W*-AG zu bereichern. Damit spricht der Kläger aber an, dass beide Beklagten gemeinsam durch ihre jeweils – wenn auch aus rechtlichen Gründen heraus unterschiedlichen – Pflichtverletzungen (Unterlassungen von Kontroll‑ bzw Prüfpflichten) seinen Schaden herbeigeführt hätten (kumulative Kausalität) und ihm dafür solidarisch haften. Die der Klage zugrunde liegenden Ansprüche gegen die Beklagten, mögen sie auch auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen beruhen, sind letztlich auf dasselbe Interesse, nämlich Ersatz des Schadens Zug um Zug gegen Rückgabe der erworbenen Aktien, gerichtet (vgl EuGH C‑145/10 , Painer/Standard VerlagsGmbH, Rn 79). Die Behauptung der Zweitbeklagten, der Aufsichtsrat habe zwar insbesondere den ihm vorgelegten Jahresabschluss der Gesellschaft auf Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit zu prüfen, er schulde aber im Rahmen seiner Rechtmäßigkeitsprüfung neben einem bestellten Abschlussprüfer keine „zweite Abschlussprüfung“, sondern habe den Jahresabschluss vielmehr auf Widerspruchsfreiheit und Stimmigkeit zu überprüfen, ist daher nicht geeignet, den nach Art 8 Nr 1 EuGVVO erforderlichen Sachzusammenhang zu verneinen. Zudem stellt sich gegenüber beiden Parteien die (Vor‑)Frage, ob die Jahresabschlüsse des Zweitbeklagten tatsächlich unrichtig waren und nicht zuletzt, welches Investment der Kläger bei Kenntnis aller Umstände getätigt hätte. In Bezug auf die diesbezüglichen Tat‑ und Rechtsfragen besteht daher sehr wohl die Gefahr von sich einander widersprechenden Entscheidungen. Der Umstand, dass dennoch das Ergebnis des Verfahrens für die beiden Beklagten unterschiedlich sein kann, schadet nicht (RS0115274 [T16]).

[20] 3.2. Nach Ansicht der Zweitbeklagtensei die Entscheidung des Rekursgerichts auch deshalb verfehlt, weil sie entgegen dem Erwägungsgrund 15 der EuGVVO zu einem für die Zweitbeklagte unvorhersehbaren Gerichtsstand führen würde. Ein Abschlussprüfer müsse nicht damit rechnen, dass er in allen EU-Mitgliedstaaten geklagt werden könne, nur weil dort ein (ehemaliges) Aufsichtsratsmitglied seinen Wohnsitz habe.

Dazu ist auszuführen:

[21] Richtig ist, dass nach dem – für die Anwendung des Art 8 Nr 1 EuGVVO zu berücksichtigenden – Erwägungsgrund 15 der EuGVVO die Zuständigkeitsvorschriften in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten sollten. Diese Zuständigkeit sollte stets gegeben sein außer in einigen genau festgelegten Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist. Die Verordnung verfolgt mithin einen Zweck der Rechtssicherheit, der darin besteht, den Rechtsschutz der in der Europäischen Union ansässigen Personen in der Weise zu verbessern, dass ein Kläger ohne Schwierigkeiten festzustellen vermag, welches Gericht er anrufen kann, und ein Beklagter bei verständiger Würdigung vorhersehen kann, vor welchem Gericht er verklagt werden kann (EuGH C‑800/19 , Mittelbayerischer Verlag KG Rz 25).

[22] Die Vorhersehbarkeit stellt kein eigenes Kriterium neben dem Sachzusammenhang der Klagen dar, sondern, es füllt diesen lediglich aus (Musielak/Voit, ZPO18 [2021] Art 8 EuGVVO Rn 3). Geroldinger (Konnexität nach Art 8 Nr. 1 Brüssel Ia‑VO: Tradiertes auf dem Prüfstand, in JBl 2022, 268[269]) bezeichnet die Vorhersehbarkeit als einen dem Tatbestand des Art 8 Nr 1 EuGVVO immanenten Wertmaßstab. Soweit im Schrifttum zum (erkennbar) aktuellen Fall (Pimmer, Der europäische Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nach Art 8 Nr 1 EuGVVO in Anlegerprozessen am Beispiel von Klagen gegen Aufsichtsratsmitglied und Abschlussprüfer, Zak 2022, 28 [31]) behauptet wird, dass ein Abschlussprüfer nicht damit rechnen müsse, dass er von Aktionären in anderen EU-Mitgliedstaaten geklagt werde, weil ein Aufsichtsratsmitglied der von ihm geprüften AG seinen Wohnsitz im Wohnsitzstaat des Anlegers habe, bleibt schon die Besonderheit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft unberücksichtigt. Immer wenn ein Geschädigter zwei oder mehrere Schädiger in einer Klage wegen kumulativer Herbeiführung des Schadens in Anspruch nimmt, ist es für den oder die Mitbeklagten nie gänzlich vorhersehbar, welche Schädiger der Kläger mit seiner Klage belangt und in welchem Staat der (Haupt‑)Beklagte zum Zeitpunkt der Klagseinbringung seinen Wohnsitz hat. Es ist vielmehr objektiv (vgl EuGH C‑800/19 , Mittelbayerischer Verlag KG Rz 42) für einen Schädiger vorhersehbar, dass die Zuständigkeitsvorschrift des Art 8 Nr 1 EuGVVO es einem Geschädigten ermöglicht, bei Vorliegen des erforderlichen Sachzusammenhanges zwischen den Klagen gegen mehrere Schädiger am jeweiligen Gerichtsstand jedes einzelnen Schädigers die Klage gegen alle Schädiger einbringen kann. Dass der Anspruch gegen den Abschlussprüfer als auch gegen den Aufsichtsrat nach unterschiedlichen nationalen Bestimmungen zu beurteilen sein könnte, spricht, wie bereits unter Punkt 3.1. erwähnt, ebenfalls nicht gegen die Anwendung des Art 8 Nr 1 EuGVVO im konkreten Fall.

[23] 3.3. Auch wenn die Zweitbeklagte in der Zulassungsbegründung ihres außerordentlichen Revisionsrekurses die Frage der missbräuchlichen Heranziehung des Gerichtsstands nach Art 8 Nr 1 EuGVVO durch den Kläger nicht als erhebliche Rechtsfrage geltend macht, sondern sich dazu nur Überlegungen in der Ausführung der Revision finden, wird der Vollständigkeitshalber dazu kurz Stellung genommen:

[24] Nach der jüngeren Rechtsprechung des EuGH zur VO 44/2001 , die insofern auch auf die nachfolgende VO 1215/2012 (EuGVVO 2012) übertragen werden kann, kann diese Zuständigkeitsregel zwar nicht so ausgelegt werden, dass es danach einem Kläger erlaubt wäre, eine Klage gegen mehrere Beklagte allein zu dem Zweck zu erheben, einen von diesen der Zuständigkeit der Gerichte seines Wohnsitzstaats zu entziehen. Der Gerichtshof hat jedoch klargestellt, dass in Fällen, in denen die Klagen gegen die verschiedenen Beklagten bei ihrer Erhebung im Sinne von Art 6 Nr 1 der VO 44/2001 im Zusammenhang stehen, die Zuständigkeitsregel dieser Bestimmung anwendbar ist, ohne dass überdies gesondert festgestellt werden müsste, dass die Klagen nicht nur erhoben worden sind, um einen der Beklagten den Gerichten seines Wohnsitzstaats zu entziehen. Folglich kann das Gericht, das mit Klagen befasst wird, die bei ihrer Erhebung im Sinne von Art 6 Nr 1 VO 44/2001 im Zusammenhang stehen, eine etwaige Zweckentfremdung der darin vorgesehenen Zuständigkeitsregel nur dann feststellen, wenn beweiskräftige Indizien vorliegen, die den Schluss zulassen, dass der Kläger die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung künstlich herbeigeführt oder aufrechterhalten hat. Um die Anwendbarkeit der Zuständigkeitsregel von Art 6 Nr 1 VO 44/2001 ausschließen zu können, müssen für eine solche Behauptung jedoch beweiskräftige Indizien für das Bestehen eines kollusiven Zusammenwirkens der betreffenden Parteien zu dem Zweck, die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung im Zeitpunkt der Klageerhebung künstlich herbeizuführen oder aufrechtzuerhalten, dargelegt werden (EuGH C‑352/13 , Cartel Damage Claims (CDC) Hydrogen Peroxide SA Rz 27 ff).

[25] Derartige beweiskräftige Indizien wurden aber mit der bloßen Behauptung der Zweitbeklagten, „es sei evident“, dass die Klage gegen den Erstbeklagten nur erhoben worden sei, um einen Gerichtsstand in Österreich zu konstruieren, nicht dargelegt. Vielmehr hat der Kläger nachvollziehbar begründet, weshalb er mit der Klage auch den Erstbeklagten als Aufsichtsratsmitglied in Anspruch nimmt. Aus welchen Erwägungen der Kläger kein anderes Mitglied des Aufsichtsrats der W* AG zur Haftung heranzieht, ist insofern nicht ausschlaggebend.

[26] 3.4. Von der im außerordentlichen Revisionsrekurs angeregten Vorabentscheidung konnte Abstand genommen werden, weil die unionsrechtlichen Grundlagen zum Gerichtsstand nach Art 8 Nr 1 EuGVVO hinreichend geklärt sind und deren Anwendung auf den konkreten Fall den nationalen Gerichten obliegt.

[27] Mangels Geltendmachung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 528 Abs 1 ZPO ist der außerordentliche Revisionsrekurs der Zweitbeklagten zurückzuweisen (§ 528a iVm § 510 Abs 3 ZPO).

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