OGH 7Ob12/22y

OGH7Ob12/22y28.4.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Hofrätin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätin und die Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, MMag. Matzka und Dr. Weber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei D* P*, vertreten durch die Haslwanter Rechtsanwälte GmbH in Telfs, gegen die beklagte Partei W* AG *, vertreten durch die MUSEY rechtsanwalt gmbh, wegen 6.069 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgerichtvom 22. Oktober 2021, GZ 4 R 153/21k‑22, womit das Urteil des Bezirksgerichts Silz vom 26. Mai 2021, GZ 2 C 116/21m‑18, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0070OB00012.22Y.0428.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 626,52 EUR (darin enthalten 104,42 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Zwischen den Streitteilen besteht ein Unfallversicherungsvertrag, dem die Versicherungsbedingungen für die Unfallversicherung (UVB, Fassung 08/2017) zugrunde liegen. Diese lauten auszugsweise:

§ 1. Gegenstand der Versicherung

Wir bieten Versicherungsschutz, wenn der versicherten Person ein Unfall zustößt.

[... ]

§ 2. Versicherungsfall

Versicherungsfall ist der Eintritt eines Unfalls (§ 6, Begriff des Unfalls).

§ 3. Örtlicher Geltungsbereich

Die Versicherung gilt auf der ganzen Erde.

[...]

§ 7a. Garantierte Sofortauszahlung

So weit nichts anderes vereinbart ist gilt:

1. Wird Unfallinvalidität versichert, gilt die garantierte Sofortauszahlung für die im Antrag aufgelisteten Verletzungen („Verletzungskatalog“). Tritt eine dieser Verletzungen infolge eines Unfalls ein, wird die vereinbarte Kapitalleistung nach Vorliegen eines ärztlichen Befundberichts sofort ausgezahlt.

[... ]

6. Verlegt die versicherte Person ihren Wohnsitz außerhalb Österreichs, besteht kein Anspruch auf garantierte Sofortauszahlung.

[…]

§ 31. Anwendbares Recht

Für diesen Vertrag gilt österreichisches Recht.

[...]“

[2] Die Klägerin verlor im Frühjahr 2020 durch den COVID-19 bedingten „Lockdown“ ihre Arbeitsstelle und geriet in eine finanzielle Notlage. Sie wollte ihre finanziellen Verpflichtungen minimieren und kündigte die gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten in Österreich bewohnte Mietwohnung. Die Klägerin beschloss, bis zum Ende der Coronakrise bzw bis zur Besserung der Arbeitsmöglichkeiten in Österreich zu ihrer Schwester nach Großbritannien zu ziehen. Sie wollte wieder nach Österreich zurückkehren, wenn und sobald sie eine Arbeitsstelle in Österreich finden würde. Am 26. Mai 2020 unterfertigte die Klägerin in einer Sparkassenfiliale eine „Veränderungsanzeige“ zu ihrem Unfallversicherungsvertrag, in der sie ihre neue Adresse in Großbritannien angab.

[3] Die Klägerin und ihr Lebensgefährte meldeten ihren bisherigen Wohnsitz ab und zogen aus der gemeinsamen Mietwohnung aus. Am 30. Mai 2020 begab sich die Klägerin mit ihrer Katze und einem Teil ihrer Kleidung zu ihrer Schwester nach Großbritannien. Der Lebensgefährte der Klägerin, der ganzjährig bei einem Seilbahnunternehmen beschäftigt war, begleitete die Klägerin auf ihrer Reise nach Großbritannien, kehrte aber gemäß dem gemeinsamen Plan eine Woche später nach Österreich zurück. Er hatte bereits Ende Mai 2020 vor der Abreise nach Großbritannien ein Personalzimmer in den Räumlichkeiten seines Arbeitgebers bezogen, in welchem aber die Aufnahme einer Lebensgefährtin nicht erlaubt war. Einen Teil der Kleidung, der Möbel und der Kücheneinrichtung hatte die Klägerin jedoch im Personalzimmer ihres Lebensgefährten deponieren können.

[4] Am 13. Juni 2020 zog sich die Klägerin beim Hinabsteigen der Treppe im Haus ihrer Schwester eine Fraktur des Sprunggelenks zu. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Klägerin bereits vereinbart, eine Tätigkeit in einer Vermittlungsagentur für Pflegekräfte in Großbritannien anzutreten, wobei sich der Arbeitsbeginn durch den Unfall verzögerte.

[5] Am 17. Juni 2020 meldete die Klägerin den Unfall an die Beklagte, wobei sie in der Unfall-Schadenanzeige unter der Rubrik „Beschäftigung zum Unfallszeitpunkt“ anführte: „Zuhause, ich hab auf die Treppe gefallen“, als Wohnort wurde „T*“ (Großbritannien) angeführt. Unter der Rubrik „Allgemeine Angaben zum Unfall“ führte die Klägerin unter dem Punkt „Ort des Unfalls“ „Zuhause, auf die Treppe“ an.

[6] Am 24. Juni 2020 übersandte die Beklagte der Klägerin an deren Adresse in Großbritannien eine „Vertragsänderung“, worin erklärt wurde, dass gemäß dem Änderungsantrag der Klägerin die Versicherung ihren Wünschen entsprechend angepasst worden sei. Als Versicherungsleistungen wurde Unfallinvalidität mit der Leistungsvariante „Vollschutz“ und unter anderem Unfalltod angeführt. Die Versicherungsleistung „Garantierte Sofortauszahlung“ war in der geänderten Versicherungspolizze nicht mehr enthalten.

[7] Mit Schreiben vom 9. Juli 2020 teilte der Klagsvertreter der Beklagten mit, dass die Klägerin am 13. Juni 2020 in Großbritannien, wo sie sich aktuell auf Besuch bei ihrer Schwester befinde, über eine Treppe gestürzt sei und sich dabei das rechte Sprunggelenk gebrochen habe. Eine operative Versorgung sei bereits vor Ort erfolgt. Gefordert werde die Sofortauszahlung in Höhe von 6.069 EUR wegen eines Bruchs des Innen‑/Außenknöchels.

[8] Mit Schreiben vom 11. August 2020 lehnte die Beklagte unter Verweis auf § 7a.6. UVB die Zahlung der Sofortleistung ab.

[9] Die Klägerin nahm noch im Juli 2020 eine Arbeitstätigkeit in Großbritannien auf, zu einer behördlichen Anmeldung im Melderegister kam es in Großbritannien nicht. Im Februar 2021 kehrte die Klägerin nach Österreich zurück. Sie war im Zeitraum vom 29. Mai 2020 bis 21. Februar 2021 in Österreich nicht im Zentralen Melderegister registriert, seit 22. Februar 2021 ist sie wieder mit einem Hauptwohnsitz in Österreich gemeldet.

[10] Die Klägerinbegehrt Zahlung von 6.069 EUR gemäß § 7a. UVB. Sie sei zum Unfallszeitpunkt nur zu Besuch bei ihrer Schwester in Großbritannien gewesen, eine Wohnsitzverlegung habe damals nicht stattgefunden. Da die Klägerin zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Streitverhandlung erster Instanz wieder in Österreich lebe, stünde ihr die garantierte Sofortauszahlung aber ohnehin jedenfalls zu.

[11] Die Beklagte bestritt, beantragte Klagsabweisung und wandte ein, die Klägerin habe keinen Anspruch auf die garantierte Sofortauszahlung, weil zum Unfallszeitpunkt kein Wohnsitz in Österreich, sondern in Großbritannien bestanden habe.

[12] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Vertragsbedingungen seien unzweifelhaft dahingehend auszulegen, dass das Wohnsitzerfordernis in Österreich zum Zeitpunkt des Unfallereignisses vorliegen müsse. Die Klägerin habe zu diesem Zeitpunkt nach der Legaldefiniton des § 66 Abs 1 JN keinen Wohnsitz in Österreich gehabt.

[13] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ die ordentliche Revision zu. Der Wohnsitz des Versicherungsnehmers müsse bei verständiger Betrachtung des § 7a.6. UVB im Zeitpunkt der Realisierung des Versicherungsfalls in Österreich liegen. Sowohl bei einer Auslegung des Wohnsitzbegriffs nach § 66 Abs 1 JN als auch nach § 1 Abs 6 MeldeG habe die Klägerin beim Eintritt des Versicherungsfalls ihren Wohnsitz in Großbritannien gehabt.

[14] Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Abänderungsantrag, dem Klagebegehren stattzugeben; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[15] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[16] Die Revision ist zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur im Revisionsverfahren allein strittigen Frage der Auslegung des Wohnsitzbegriffs in Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen fehlt, sie ist jedoch nicht berechtigt.

[17] 1. Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) sind nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 914 f ABGB) auszulegen, und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung (RS0050063 [T71]; RS0112256 [T10]; RS0017960). Die Klauseln sind, wenn sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen; dabei ist der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung zu berücksichtigen (RS0008901 [insb T5, T7, T87]). Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RS0050063 [T3]). Als Ausnahmetatbestände, die die vom Versicherer übernommenen Gefahren einschränken oder ausschließen, dürfen Ausschlüsse nicht weiter ausgelegt werden, als es ihr Sinn unter Betrachtung ihres wirtschaftlichen Zwecks und der gewählten Ausdrucksweise sowie des Regelungszusammenhangs erfordert (RS0107031).

[18] 2. Gemäß § 7a.1. UVB zahlt der Versicherer eine vereinbarte Kapitalleistung nach Vorliegen eines ärztlichen Befundberichts sofort aus, wenn eine im Versicherungsantrag aufgelistete Verletzung („Verletzungskatalog“) infolge eines Unfalls eintritt. Wenn jedoch die versicherte Person ihren Wohnsitz außerhalb Österreichs verlegt, besteht kein Anspruch auf garantierte Sofortauszahlung (§ 7a.6. UVB). Nach § 31 UVB gilt für den Versicherungsvertrag österreichisches Recht.

[19] 3.1. Rechtsbegriffe haben in der Rechtssprache eine bestimmte Bedeutung und sind daher in diesem Sinn auszulegen. Dieser Grundsatz kann allerdings nur dann zur Anwendung kommen, wenn den zu beurteilenden Rechtsinstituten nach herrschender Ansicht ein unstrittiger Inhalt beigemessen wird und sie deshalb in der Rechtssprache eine einvernehmliche Bedeutung haben. Dementsprechendes hat auch für die in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen verwendeten Rechtsbegriffe zu gelten (RS0123773).

[20] 3.2. § 36 VersVG und §§ 905, 907a ABGB regeln den Erfüllungsort und knüpfen dabei unter anderem an den Wohnsitz des Versicherungsnehmers bzw Schuldners oder Gläubigers an. Die herrschende Lehre verweist zur Bestimmung dieses Begriffs auf § 66 Abs 1 JN sowie § 1 Abs 6 MeldeG (Kietaibl in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.05 § 905 Rz 23; Kolmasch in Schwimann/Kodek 5 § 905 ABGB Rz 25). Nach § 66 Abs 1 JN ist der Wohnsitz einer Person an dem Ort begründet, an welchem sie sich in der erweislichen oder aus den Umständen hervorgehenden Absicht niedergelassen hat, daselbst ihren bleibenden Aufenthalt zu nehmen. Gemäß § 1 Abs 6 MeldeG ist ein Wohnsitz eines Menschen an einer Unterkunft begründet, an der er sich in der erweislichen oder aus den Umständen hervorgehenden Absicht niedergelassen hat, dort bis auf weiteres einen Anknüpfungspunkt von Lebensbeziehungen zu haben. Schon die Unterschiede zwischen diesen beiden Legaldefinitionen zeigen, dass der Begriff „Wohnsitz“ in der Rechtssprache keine einheitliche Bedeutung hat (vgl darüber hinaus den deutlich abweichenden Wortlaut in § 26 Abs 1 BAO).

[21] 4.1. Der Wohnsitzbegriff in § 7a.6. UVB ist daher am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks der Bestimmung auszulegen. Im Sinn dieser Klausel liegt der Wohnsitz einer versicherten Person jedenfalls dort, wo sie sich in der erweislichen oder aus den Umständen hervorgehenden Absicht niedergelassen hat, den bleibenden (nicht notwendig immerwährenden) Schwerpunkt ihrer familiären, beruflichen und sozialen Bindungen zu nehmen, was jeweils anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu beurteilen ist. Die behördliche Meldung bildet weder eine Voraussetzung für die Annahme eines Wohnsitzes, noch kann sie für sich alleine diese Annahme begründen.

[22] 4.2. Im vorliegenden Fall hatte die Klägerin ihren Arbeitsplatz in Österreich pandemiebedingt verloren. Daraufhin gab sie ihre Wohnung in Österreich auf, zog am 30. Mai 2020 zu ihrer Schwester nach Großbritannien und arbeitete dort ab Juli 2020. Im Februar 2021 kehrte sie nach Österreich zurück. Die Klägerin verlegte daher mit Ende Mai 2020 ihren Wohnsitz nach Großbritannien. Dass ihr Lebensgefährte weiterhin in Österreich arbeitete sowie wohnte und sie von Anfang an vorhatte, zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt wieder nach Österreich zurückzukehren, ändert daran nichts, ließ sie sich doch in Großbritannien in der Absicht nieder, dort ihren bleibenden (nicht notwendig immerwährenden) Schwerpunkt ihrer familiären, beruflichen und sozialen Bindungen zu nehmen. Auch die Klägerin selbst ging ganz offensichtlich von diesem Verständnis aus, hat sie doch den Unfallort in der Schadensmeldung als ihr „Zuhause“ und die Adresse in Großbritannien als ihren „Wohnort“ bezeichnet. In Österreich konnte die Klägerin hingegen bis zu ihrer Rückkehr im Februar 2021 mangels tatsächlichem (bleibendem) Aufenthalt keinen Wohnsitz (mehr) haben. Der von der Klägerin zitierte Rechtssatz (RS0046700) betrifft einen nicht vergleichbaren Sachverhalt und ist daher nicht einschlägig.

[23] 4.3. Der von der Klägerin für die Frage des Wohnsitzes ins Treffen geführte Zeitpunkt (Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz) scheidet schon deshalb aus, weil die garantierte Sofortauszahlung gemäß § 7a.1. UVB bei Vorliegen einer unfallkausalen Katalogverletzung und eines ärztlichen Befundberichts sofort fällig ist und der Versicherer daher zu diesem Zeitpunkt entscheiden muss, ob und in welcher Höhe er seine Leistungspflicht anerkennt.

[24] 5. Die Revision ist daher erfolglos.

[25] 6. Der Kostenausspruch beruht auf §§ 41, 50 Abs 1 ZPO.

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