OGH 10ObS32/22m

OGH10ObS32/22m29.3.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Arno Sauberer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Veronika Bogojevic (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Heinisch Weber Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 1020 Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22. Februar 2022, GZ 8 Rs 82/21 v‑24, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00032.22M.0329.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der am 23. 1. 1965 geborene Kläger hat den Beruf eines Gas- und Wasserinstallateurs mit Lehrabschlussprüfung erlernt. Seit 1. 10. 1990 ist er bei der Wiener Berufsrettung als Sanitäter/Notfallsanitäter tätig. Seit 12. 6. 2003 übte er die qualifizierte Tätigkeit eines Notfallsanitäters im Sinne des Sanitätergesetzes aus. Als solcher wurde er in einem 2-Jahres-Rhythmus rezertifiziert, wobei jede Rezertifizierung 12,5 Stunden dauerte und der Auffrischung des Wissens diente. Der Kläger hat bei der Wiener Berufsrettung zur Ausbildung als Sanitäter und Notfallsanitäter mit den besonderen Qualifikationen zur Legung von Venenzugängen und zu Intubationen insgesamt (richtig:) 980 Ausbildungsstunden zurückgelegt.

[2] Notfallsanitäter versorgen Kranke und Verletzte, die medizinische Betreuung benötigen, vor und während des Transports. Sie leisten bei Akutsituationen Hilfestellung und sind zB auch berechtigt, Sauerstoff zu verabreichen oder Defibrillations-Maßnahmen zu setzen (dabei werden Elektroden auf den Brustkorb aufgelegt, weil der Strom das Herz zu regelmäßigen Schlägen veranlassen soll). Der Kläger betreute als Notfallsanitäter bis zu seinem Krankenstand eigenverantwortlich Notfallpatienten, auch solche, bei denen im Rahmen einer akuten Erkrankung, einer Vergiftung oder eines Traumas eine lebensbedrohliche Störung der vitalen Funktionen eingetreten war, indem er eigenverantwortlich im Rahmen von Maßnahmen zur unmittelbaren Abwehr von Gefahren für das Leben oder die Gesundheit des Notfallpatienten Venenzugänge legte und, wenn es die Situation erforderte und der Notarzt noch nicht vor Ort war, auch Intubationen vornahm. Gleichzeitig hatte der Kläger aber keine Berechtigung, den Notfallpatienten Narkosemittel zu verabreichen, wenn der Patient aus der Bewusstlosigkeit erwachte, solange der Notarzt nicht vor Ort war.

[3] Der Kläger ist seit dem Stichtag 1. 2. 2020 nur mehr in der Lage, leichte körperliche Arbeiten im Sitzen, Stehen und Gehen auszuüben. Er kann aufgrund seines medizinischen Leistungskalküls nicht mehr als Rettungssanitäter erwerbstätig sein. Er ist jedoch in der Lage, beispielsweise als Tagportier tätig zu sein.

[4] Mit Bescheid vom 8. 6. 2020 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers vom 30. 1. 2020 auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension ab, weil Berufsunfähigkeit nicht vorliege. Weiters sprach sie aus, dass vorübergehende Invalidität im Ausmaß von mindestens sechs Monaten ebenfalls nicht vorliege und kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung bestehe. Es bestehe auch kein Anspruch auf medizinische oder berufliche Maßnahmen der Rehabilitation.

[5] Mit seiner Klage begehrte der Kläger die Gewährung der Berufsunfähigkeitspension ab 1. 2. 2020. Er sei aufgrund seines Gesundheitszustands nicht mehr in der Lage, seinen Beruf als Notfallsanitäter auszuüben, und genieße als solcher Berufsschutz, weil dieser Beruf einem gelernten Arbeiterberuf oder auch einem Angestelltenberuf gleichzuhalten sei.

[6] Das Erstgericht wies die Klage ab. Der Kläger habe ungelernte Arbeitertätigkeiten verrichtet, sodass er auf den gesamten Arbeitsmarkt verweisbar und somit nicht berufsunfähig sei.

[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Der Beruf des Notfallsanitäters sei jedenfalls nicht als höherer, nicht kaufmännischer Dienst iSd § 1 AngG einzustufen. Aufgrund der verhältnismäßig kurzen Ausbildungszeit sei davon auszugehen, dass die Ausbildung zum Notfallsanitäter vom Umfang der vermittelten Kenntnisse und Fähigkeiten her nicht an einen Lehrberuf mit durchschnittlich dreijähriger Lehrzeit heranreiche. Dieser Umstand werde auch durch die Verpflichtung des Sanitäters, alle zwei Jahre Fortbildungen in der Dauer von mindestens 16 Stunden zu besuchen, nicht aufgewogen. Das Erstgericht habe einen Berufsschutz daher zu Recht verneint.

Rechtliche Beurteilung

[8] In seiner außerordentlichen Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO auf:

[9] 1. Angebliche Mängel des Verfahrens erster Instanz, die in der Berufung geltend gemacht, vom Berufungsgericht aber verneint wurden, können nach ständiger Rechtsprechung – auch in Sozialrechtssachen (RS0043061) – nicht mehr mit Erfolg in der Revision geltend gemacht werden (RS0042963). Dies gilt umso mehr, wenn die angeblichen Mängel des Verfahrens erster Instanz nicht einmal Gegenstand des Berufungsverfahrens waren (RS0043111 [T30]). Die erstmalige Geltendmachung des in der Revision gerügten angeblichen Verfahrensmangels (unterlassene Parteienvernehmung) kann daher eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung nicht begründen. Nur der Vollständigkeit halber ist dem Kläger zu erwidern, dass das Berufungsgericht nicht von den in erster Instanz „inkorrekt festgestellten 880“, sondern – wie er selbst erkennt – ohnedies von 980 Ausbildungsstunden ausging. Welche Feststellungen aufgrund einer durchgeführten Parteienvernehmung konkret (anders) getroffen werden hätten können und welchen Einfluss dies auf das Ergebnis des Verfahrens gehabt hätte, wird in der Revision nicht ausgeführt, sodass es auch an der erforderlichen Darlegung der Relevanz des behaupteten Verfahrensfehlers fehlt (RS0116273 [T1]).

[10] 2.1. Der Kläger steht auf dem Standpunkt, dass seine Tätigkeit als Notfallsanitäter als Angestelltentätigkeit in Form der Verrichtung höherer, nicht kaufmännischer Dienste anzusehen sei.

[11] 2.2. Dafür werden nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs eine größere Selbständigkeit und Denkfähigkeit, höhere Intelligenz, Genauigkeit und Verlässlichkeit sowie die Fähigkeit der Beurteilung der Arbeiten anderer, Aufsichtsbefugnis sowie überwiegend nichtmanuelle Arbeiten und gewisse Einsicht in den Produktionsprozess (Arbeitsablauf) gefordert, wobei diese Kriterien Indizien sind und keineswegs zur Gänze im Einzelfall vorliegen müssen (RS0027992). Ob eine konkrete Tätigkeit einen höheren nichtkaufmännischen Dienst darstellt, ist im konkreten Einzelfall zu beurteilen (10 ObS 63/21v; 8 ObA 39/08f). Es begründet daher – entgegen der in der Revision vertretenen Rechtsansicht – keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung, dass der Oberste Gerichtshof zu einer konkreten Berufstätigkeit noch nicht Stellung genommen hat.

[12] 2.3. Die Beurteilung der Vorinstanzen, die die Tätigkeit des Klägers als Notfallsanitäter nicht als höheren nichtkaufmännischen Dienst ansahen, hält sich im Rahmen der höchstgerichtlichen Rechtsprechung. So üben etwa auch ein Pflegehelfer (RS0084962 [T2, T4, T5, T7]), eine Kindergartenhelferin (RS0084962 [T3]), ein OP‑Gehilfe (RS0084962 [T6]) oder ein Prosekturgehilfe (RS0084962 [T15]), auch wenn diese Tätigkeiten ein höheres Maß an Selbständigkeit, Denkfähigkeit, Intelligenz, Genauigkeit und Verlässlichkeit erfordern und die Ausbildung bzw das jeweilige Berufsbild gesetzlich geregelt sein sollten, keine Angestelltentätigkeit aus. Die Ausbildung eines Notfallsanitäters reicht auch nicht an diejenige des – Angestelltentätigkeit verrichtenden (RS0084962 [T7]) – diplomierten Krankenpflegepersonals heran. Beim – in § 10 SanG beschriebenen – Tätigkeitsbereich des Klägers als Notfallsanitäter stehen vielmehr manuelle Arbeiten und den Notarzt unterstützende Tätigkeiten im Vordergrund. Das (wenn auch eigenverantwortliche) Setzen notfallmedizinischer Maßnahmen durch den Notfallsanitäter ist nur eingeschränkt vorgesehen, wenngleich im Fall des Klägers besondere Notfallkompetenzen (§ 11 SanG) hinzukommen, nämlich das Legen von Venenzugängen oder die Intubation (auch hier jedoch nur, wenn ein Notarzt nicht vor Ort ist). Auch wenn es sich bei der Tätigkeit um eine (für das menschliche Leben) verantwortungsvolle und sozial wertvolle Tätigkeit handelt, wie der Kläger in der Revision betont, hält sich die Beurteilung der Vorinstanzen im Rahmen der zitierten Rechtsprechung. Dem steht die vom Kläger zitierte Entscheidung 10 ObS 97/17p nicht entgegen, weil dort der (als Notfallsanitäter und Einsatzfahrer beschäftigte) Kläger inhaltlich eine Angestelltentätigkeit ausübte, was dem Verfahren als nicht mehr strittig zugrunde gelegt wurde.

[13] 3. Die weitere Beurteilung des Berufungsgerichts, das a) den geltend gemachten Pensionsanspruch des Klägers mangels Vorliegens einer Angestelltentätigkeit nach § 255 ASVG prüfte (vgl RS0083723 [T4, T5]; RS0083738 [T2]), b) das Vorliegen von Berufsschutz mangels einer mit einem Lehrberuf vergleichbaren Ausbildungsdauer (hier: 980 Ausbildungsstunden) verneinte (vgl RS0084513 [T3]; RS0084778 [T7, T13]) und c) den Kläger infolge möglicher Verweisung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt nicht als invalid iSd § 255 Abs 3 ASVG ansah, wird in der Revision nicht thematisiert, sodass darauf nicht einzugehen ist.

[14] 4. Die Revision ist daher mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

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