OGH 3Ob28/22x

OGH3Ob28/22x24.3.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.‑Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun‑Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj E*, geboren am * 2012, Mutter M*, B.A., *, vertreten durch Mag. Petra Smutny, LL.M., Rechtsanwältin in Wien, Vater Dipl.‑Ing. P*, vertreten durch Held Berdnik Astner & Partner Rechtsanwälte GmbH in Graz, wegen Obsorge und Kontaktrecht, über den Revisionsrekurs des Vaters gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 20. Dezember 2021, GZ 43 R 459/21z‑228, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Leopoldstadt vom 15. September 2021, GZ 42 Ps 52/19g‑214, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0030OB00028.22X.0324.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die angefochtenen Beschlüsse werden aufgehoben und dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

 

Begründung:

[1] Der Minderjährige entstammt der Ehe seiner Eltern. Diese haben sich bereits im Jahr 2017 getrennt; seit dem Jahr 2019 ist ihre Ehe rechtskräftig geschieden. Das Kind lebt(e) durchgehend im Haushalt der Mutter.

[2] Der Vater beantragte bereits im Jahr 2017, kurz nach seinem Auszug aus der bisherigen Ehewohnung, eine gerichtliche Kontaktrechtsregelung, weil sich die Mutter weigere, einen altersadäquaten und dem Wohl des Kindes entsprechenden Kontakt zum Vater und zu den väterlichen Großeltern und Verwandten zuzulassen; es bestehe die Befürchtung, dass die Mutter das Kindeswohl dramatisch gefährde, indem sie versuche, das Kind von anderen Familienangehörigen, insbesondere vom Vater, zu entfremden. Mit Schriftsatz vom 8. März 2018 stellte er den Antrag, ihm die Obsorge für das Kind allein zu übertragen, weil sich die Mutter nach wie vor weigere, einen Kontakt des Kindes zum Vater zuzulassen. Der letzte Kontakt habe im September 2017 stattgefunden. Die Mutter versuche mit allen Mitteln, das Kind von seinem Vater zu entfremden.

[3] Die Mutter sprach sich von Anfang an mit der Behauptung gegen die beantragte Kontaktrechtsregelung aus, dass sie den Kontakt des Kindes zum Vater nicht grundlos verweigere, sondern aufgrund der Ausübung von psychischer, physischer und sexueller Gewalt seitens des Vaters. Der Minderjährige befinde sich in Behandlung einer Psychologin, die die Mutter wegen massiver Verhaltensauffälligkeiten des Kindes aufgesucht habe. Dieses zeige ein auffälliges sexualisiertes Verhalten und reagiere nach Kontakten mit dem Vater mit erhöhter Unruhe. Die Psychologin habe ausdrücklich empfohlen, vorerst keine Kontakte zum Vater zuzulassen. In der Folge teilte die Mutter mit, dass sich der Verdacht gegen den Vater erhärte, es habe ein sexueller Missbrauch stattgefunden. Sie habe sich aufgrund von aktuell auftretenden Verhaltensauffälligkeiten des Kindes an eine Kinder- und Jugendpsychiatrische Ambulanz gewandt. Eine dortige fachliche Stellungnahme besage, dass zur Stabilisierung der emotionalen Befindlichkeit des Kindes derzeit ein Einstellen der Kontakte zum Vater in jeglicher Form erfolgen solle. In weiterer Folge brachte die Mutter bei der Staatsanwaltschaft Klagenfurt eine Sachverhaltsdarstellung gegen den Vater ein. In der Folge beantragte die Mutter, ihr die Obsorge für das Kind allein zu übertragen und den Antrag auf einstweilige Besuchskontakte abzuweisen.

[4] Der vom vormaligen Erstgericht mit der Erstattung eines familienpsychologischen Gutachtens beauftragte Sachverständige teilte aufgrund seiner Interaktionsbeobachtung von Vater und Kind mit, dass der Minderjährige sich nach einer sehr kurzen Zeit der Unsicherheit dem Vater in positiver Weise nähern habe können. Sukzessive, dh in kleinen Schritten, wie das aufgrund der langen Abwesenheit des Vaters zu erwarten gewesen sei, habe er wieder die Nähe des Vaters gesucht. Er habe im Weiteren ausschließlich positive Emotionen und Affekte gezeigt, sei dem Vater dann schrittweise auch körperlich nähergekommen und habe sich letztlich von ihm in den Arm nehmen lassen und auch in dieser Körperposition Scherze gemacht. Dies zeige dem Sachverständigen mit Sicherheit, dass der Minderjährige nach einer rund zwölfmonatigen Abwesenheit des Vaters ganz offensichtlich an vorangegangene positive Ereignisse und Situationen mit dem Vater in seiner Erlebniswelt anknüpfen habe können. Dies mache es in hohem Maße unwahrscheinlich, dass beim Minderjährigen durch vergangene Handlungen des Vaters ein Trauma entstanden sei. Hätte der Vater tatsächlich, wie von der Mutter behauptet, dem Kind zB durch Wurfgeschoße Verletzungen zugefügt, die einerseits Hämatome und andererseits auch blutende Wunden erzeugt hätten, und hätte er das Kind tatsächlich gegen seinen Willen im Zuge von Schwimmübungen mit dem Kopf unter Wasser getaucht, und hätte er es tatsächlich in Räumen eingesperrt oder als Strafe kopfüber aufgehängt, dann wäre zu erwarten gewesen, dass der Minderjährige dem Vater zumindest mit großer Skepsis begegnet wäre, wenn nicht überhaupt mit großer Unsicherheit und ausgeprägter Angst. Es sei daher unwahrscheinlich, dass solche Gefühlsempfindungen oder auch Schmerzempfindungen tatsächlich in der Erlebniswelt des Minderjährigen in Bezug auf den Vater präsent seien. Die Vermutung der Mutter, dass eine Retraumatisierung des Kindes nicht unmittelbar beim Zusammentreffen mit dem Vater erfolgen müsse, sondern möglicherweise verzögert, etwa erst am Abend eines solchen Tages, widerspreche den Erfahrungen des Sachverständigen und auch einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnissen.

[5] Mit Beschluss vom 25. Oktober 2018, ON 54, räumte das vormalige Erstgericht dem Vater ein vorläufiges begleitetes Kontaktrecht zum Kind, 14‑tägig für die Dauer von drei Stunden, ein.

[6] Die vom damaligen Erstgericht letztlich mit der Besuchsbegleitung betraute Organisation vereinbarte mit den Eltern einen ersten Besuchskontakt für den 12. Dezember 2018; nach diesem Termin teilte sie dem Gericht mit, dass sie keine weiteren begleiteten Kontakte anbieten könne, weil sich beim vereinbarten Erstkontakt offene und unbearbeitete Konfliktthemen zwischen den Eltern gezeigt hätten, aufgrund derer derzeit eine Durchführung begleiteter Kontakte nicht dem Kindeswohl förderlich sei (ON 91). Nach dem Bericht der Besuchsbegleiterin sollte an diesem Tag die Übergabe des Kindes von der Mutter an den Vater auf einem Parkplatz am Ort des Treffens erfolgen. Die Besuchsbegleiterin wurde damals von der Mutter telefonisch darüber informiert, dass sie am Parkplatz stehe, zuvor den Minderjährigen ins Auto „zwingen“ habe müssen, um den Kontakt wahrzunehmen, und das Kind nun nicht aus dem Auto steigen wolle, um den Vater zu sehen; die Besuchsbegleiterin solle mit dem Minderjährigen reden. Diese vereinbarte daraufhin mit dem bereits anwesenden Vater, dass er einen fixen Abstand zum Auto einhalten, aber im Sichtfeld des Kindes bleiben solle. Anschließend besprach sie mit dem Minderjährigen den bevorstehenden Kontakt bzw dessen Anbahnung. Sie zeigte ihm, wo der Vater steht, und motivierte das Kind, den Vater zu sehen bzw den Kontakt wahrzunehmen. Der Minderjährige erklärte daraufhin, dass er den Vater schon gesehen habe und nicht mit ihm mitgehen wolle. Parallel dazu erklärte die Mutter der Besuchsbegleiterin, dass der Minderjährige den Vater nicht sehen wolle, „weil er ihm so weh getan habe“. In der Zwischenzeit näherte sich der Vater entgegen der Vereinbarung mit der Besuchsbegleiterin dem Auto, ging auf die Mutter zu und begrüßte sie, drehte sich anschließend, nah beim Auto stehend, zu seinem Sohn und fragte ihn, ob er mit ihm zum Spielen kommen wolle. Dieser verneinte das. Der Vater bemühte sich mit insistierendem Ton, seinen Sohn zum Kontakt zu bewegen, der jedoch mehrfach erklärte, nicht mitkommen zu wollen. Letztlich lehnte sich der Vater mit einem Großteil seines Oberkörpers sehr weit ins Innere des Autos und redete weiter auf das Kind ein. Die Mutter schob ihn daraufhin mit aller Kraft zu Seite, um ihn aus dem Fenster zu bekommen. Trotz Aufforderung der Mutter und der Besuchsbegleiterin, vom Auto zurückzutreten, erklärte der Vater, es sei sein Kind und er wolle sein Kind nun sehen, öffnete die unverschlossene Fahrertür und setzte sich ins Auto, um weiter mit dem Kind zu sprechen. Auf die Aufforderung der Besuchsbegleiterin, aus dem Auto auszusteigen, reagierte er nicht. Letztlich stieg der Vater wieder aus; die Eltern machten einander daraufhin gegenseitig lautstark und emotional Vorwürfe. Erst als die Besuchsbegleiterin sie darauf hinwies, dass ein solches Verhalten vor dem Kind nicht stattfinden solle und für die Situation in keinster Weise förderlich sei, beendeten die beiden das Gespräch. Die Besuchsbegleiterin brach im Anschluss den Kontakt ab (ON 93).

[7] Mit Beschluss vom 7. Februar 2019 hob das seinerzeitige Rekursgericht infolge Rekurses der Mutter den Beschluss ON 54 auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Nach der Entscheidung des Erstgerichts hätten sich weitere Umstände ergeben, die im weiteren Verfahren unter dem Aspekt der anzustellenden Zukunftsprognose zu berücksichtigen seien. So werde sich das Erstgericht insbesondere mit dem von der Mutter behaupteten massiv irritierten und irregulären Verhalten des Kindes nach der Interaktionsbeobachtung vom 9. Oktober 2018 samt nachfolgendem stationären Aufenthalt in einer Spezialabteilung eines Klinikums auseinanderzusetzen und auch die Umstände zu eruieren haben, die zur Aussetzung der Besuchsbegleitung geführt hätten, um die für eine Kontaktrechtsregelung unverzichtbare Paktfähigkeit des Vaters einschätzen zu können.

[8] Mit Urteil vom 10. Mai 2019 wurde der Vater von dem gegen ihn erhobenen Strafantrag, er habe im Zeitraum 26. November 2015 bis 19. Juli 2017 gegen seinen Sohn fortgesetzt Gewalt ausgeübt, mangels Schuldbeweises rechtskräftig freigesprochen.

[9] Nach Übertragung der Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache an das nunmehrige Erstgericht betraute dieses mit Beschluss vom 14. November 2019 ein näher bezeichnetes Besuchscafe mit der im Beschluss ON 54 vorläufig angeordneten Besuchsbegleitung und trug den Eltern auf, sich unverzüglich mit der Leiterin dieses Besuchscafes zwecks Führung von Erstgesprächen in Verbindung zu setzen.

[10] Diese Erstgespräche fanden zwar statt, die Mutter legte dem Erstgericht dabei allerdings aktuelle Befunde und Empfehlungen vor, aufgrund derer sich das Besuchscafe nicht in der Lage sehe, die Kontakte zu begleiten. Das Erstgericht entband daraufhin mit Beschluss vom 22. Jänner 2020 das Besuchscafe von der Besuchsbegleitung und bestellte an seiner Stelle eine – zuvor vom Vater namhaft gemachte – andere Besuchsbegleiterin.

[11] Die Mutter erhob gegen diesen Beschluss Rekurs und teilte in der Folge mit, dass sie die Besuchsbegleiterin im Rahmen des angeordneten Erstgesprächs auch auf ihren Rekurs hingewiesen habe. Diese sei darüber bereits informiert gewesen, und zwar nicht durch das Erstgericht, sondern durch den Vater; ein Naheverhältnis zur Familie des Vaters habe sie gar nicht in Abrede gestellt.

[12] In weiterer Folge teilte die Besuchsbegleiterin dem Erstgericht mit, dass nach dem Ergebnis des Erstgesprächs (offenbar gemeint: mit der Mutter) aus ihrer Sicht ein Vertrauensverhältnis, wie es für die Besuchsbegleitung erforderlich sei, nicht aufgebaut werden könne, weshalb sie die Besuchsbegleitung doch nicht übernehmen könne. Sie wurde daraufhin vom Erstgericht enthoben.

[13] In der vom Erstgericht zur Erörterung der weiteren Vorgangsweise anberaumten Tagsatzung vom 15. Juni 2020 erklärte die Mutter, dass sie Kontakte des Vaters zum Kind nur dann befürworten und fördern würde, wenn er auch dem Kind gegenüber zugebe, dass er ihm gegenüber Gewalt angewendet habe. Außerdem müsse der Kindeswille Beachtung finden, zumal der Minderjährige im bisherigen Verfahren nie dazu gefragt worden sei. Aus ihrer Sicht sei es der klare Wille des Kindes, keinen Kontakt zum Vater zu haben. Eine Einigung über begleitete Kontakte oder auch über Kontakte über Videotelefonie zwischen Vater und Kind konnte nicht erzielt werden.

[14] Nach erfolgloser Ablehnung des Erstrichters durch die Mutter betraute das Erstgericht mit Beschluss vom 9. März 2021 den Familienbund mit der Durchführung der Besuchsbegleitung und trug der Mutter auf, sich unverzüglich mit diesem zwecks Führung des Erstgesprächs in Verbindung zu setzen.

[15] Mit Schriftsatz vom 12. April 2021 beantragte die Mutter (neuerlich), das vorläufige Kontaktrecht des Vaters auszusetzen. Der Minderjährige lehne Kontakte zum Vater so rigoros ab, dass eine „zwangsweise“ Kontaktanbahnung eine massive Schädigung des Kindeswohls befürchten lasse.

[16] Das Erstgericht setzte daraufhin mit Beschluss vom 11. Mai 2021 das vorläufige begleitete Kontaktrecht des Vaters zum Kind gemäß § 107 Abs 2 AußStrG aus.

[17] Der bereits zuvor mit der Erstattung eines ergänzenden Gutachtens beauftragte Sachverständige teilte in der Folge mit, er sehe keine Chance, eine Befundaufnahme mit dem Kind durchführen zu können. Die Mutter sei am 25. Mai 2021 wie vereinbart zu seiner psychologischen Praxis gekommen, habe aber unmittelbar vor dem Termin telefonisch mitgeteilt, dass das Kind sich weigere, aus dem Auto auszusteigen; sie sei machtlos und wisse nicht, was zu tun sei. Eine Mitarbeiterin des Sachverständigen sei daraufhin zum Auto gegangen, es sei ihr allerdings nicht gelungen, das Kind zu einer Untersuchung zu motivieren.

[18] Der Sachverständige erstattete daraufhin ein familienpsychologisches Gutachten bloß aufgrund der Exploration der Eltern, also ohne mit dem Kind selbst gesprochen zu haben. Er kam darin zum Schluss, dass der eindeutige Wille des Kindes, keine Untersuchung durch den Sachverständigen zu wollen, vor dem Hintergrund der gesamten Historie naheliegenderweise impliziere, dass das Kind auch Kontakten zum Vater, die im Rahmen der Befunderhebung vorgesehen gewesen seien, nicht Folge geleistet hätte. In diesem Sinn zeige sich eine Dynamik wie im Dezember 2018 beim bislang letzten Versuch, durch eine Besuchsbegleitung einen Kontakt zwischen Vater und Kind herzustellen. Auch damals habe sich das Kind geweigert, aus dem Auto auszusteigen. Damals sei das Kind ganz offensichtlich Zeuge einer zumindest offensiv, wenn nicht aggressiv geführten Auseinandersetzung der Eltern geworden. Gleichzeitig habe sich die Mutter damals vor dem Kind dahin geäußert, dass der Vater ihm gegenüber gewalttätig gewesen sei. Die Mutter sei ganz offensichtlich schon seit mehreren Jahren absolut überzeugt davon, dass der Vater sich gegenüber dem Kind gewalttätig und auch sexuell übergriffig verhalten habe. Sie habe dies auch gegenüber dem Sachverständigen mehrmals geäußert. Nunmehr fänden sich auch Hinweise darauf, dass die Mutter in Gesprächen mit dem Kind ganz offensichtlich ihre tiefe Überzeugung nicht verbergen könne bzw wolle, und dies bedeute gleichzeitig, dass der Minderjährige ganz offensichtlich in den letzten Jahren die Meinung seiner Mutter gehört habe; möglicherweise habe sie mit dem Kind auch vor dem jetzigen Untersuchungsprozess darüber gesprochen. Für eine tatsächliche Traumatisierung des Kindes gebe es allerdings keine schlüssigen Befundergebnisse und Expertisen, die den Mindestanforderungen bezüglich ausgewogener und umfangreicher Befunderhebungen genügten. Es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Mutter ihre Meinung über den Vater nicht vom Kind fernhalte, sondern ganz im Gegenteil auch immer wieder vor dem Kind ihre Meinung äußere. Das bedeute, dass ein hoher Grad an Suggestivwirkung von der Mutter ausgehe und dadurch bedingt das Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit schon länger nicht mehr unterscheiden könne, was tatsächlich mit dem Vater passiert sei und was ein Ergebnis eines Suggestivprozesses sei. Es sei aus der Familienpsychologie bekannt, dass Kinder im Alter des Minderjährigen, die jahrelang in einem Suggestivfeld gelebt hätten bzw jahrelang suggestiven Prozessen ausgesetzt gewesen seien, solche suggerierten Inhalte oft als tatsächlich erlebt interpretierten, auch wenn die entsprechenden Vorgänge tatsächlich nicht stattgefunden hätten. Ausschlaggebend sei in diesem Zusammenhang einzig und allein die subjektive Erlebniswelt des Kindes, und hier zeige sich eindeutig, dass der Minderjährige ganz offensichtlich davon ausgehe, dass sein Vater ihm gegenüber gewalttätig gewesen sei und ihm Schaden zugefügt habe. Dementsprechend verhalte sich das Kind nicht erst jetzt anlässlich des Befundprozesses, sondern auch schon zu verschiedenen Zeitpunkten in den Jahren zuvor, nicht allerdings beim letzten längeren Zusammentreffen mit dem Vater anlässlich der Untersuchung durch den Sachverständigen im Jahr 2018. Die aktuellen Wünsche und Willenskundgebungen des Kindes seien infolgedessen derzeit eindeutig. Der Minderjährige wünsche keine Kontakte zum Vater. Dieser Wunsch des Kindes zeige sich, unabhängig davon, wie es zu dieser Willensäußerung gekommen sei, derzeit eindeutig. Die familienpsychologische Wissenschaft empfehle in solchen Fällen, den Willensäußerungen des Kindes Folge zu leisten, weil alle Alternativen das Kindeswohl beeinträchtigen oder gefährden würden. Der Minderjährige wäre derzeit wohl nur unter Zwang zu Kontakten zum Vater zu bringen. Kinder, die es nicht einmal schafften, in eine psychologische Praxis gehen zu wollen, um dort untersucht zu werden, würden sich umso mehr dagegen wehren, zu Kontakten zum abgelehnten Elternteil gebracht zu werden. Dies habe sich hier ja auch schon deutlich gezeigt.

[19] Das Erstgericht wies daraufhin den Kontaktrechtsantrag des Vaters ab und setzte die Kontakte zwischen Vater und Kind aus. Weiters schränkte es die Obsorge des Vaters für den Minderjährigen dahin ein, dass ihm nur noch das Recht auf Einholung von Informationen zum Befinden des Kindes bei der von diesem besuchten Schule und bei den es behandelnden Ärzten zukommt; in allen anderen Angelegenheiten wies es die alleinige Obsorge der Mutter zu. Aufgrund der vehementen Ablehnung von Kontakten durch das Kind widersprächen persönliche Kontakte zum Vater eindeutig dem Wohl des Minderjährigen; sie wären nicht geeignet, ein Naheverhältnis zwischen Vater und Kind herbeizuführen, sondern würden das Verhältnis weiter und nachhaltig verschlechtern. Wegen der gänzlich fehlenden Gesprächsbasis der Eltern und der gegenseitig erhobenen Vorwürfe, die ein Zusammenwirken im Interesse des Kindes ausschlössen, liege eine Gefährdung des Kindeswohls vor, die eine Neuregelung der Obsorge erforderlich mache. Es sei daher unumgänglich, die Obsorge in allen Angelegenheiten, in denen Entscheidungen für das Kind zu treffen seien, der Mutter allein zuzuweisen, in deren Haushalt der Minderjährige lebe. Hingegen bestehe kein Anlass, dem Vater auch die Möglichkeit zu nehmen, Informationen zum Befinden des Kindes einzuholen.

[20] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Vaters nicht Folge und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zu. Oberster Grundsatz jeder Obsorge‑ und Kontaktregelung sei das Kindeswohl. Es liege auf der Hand, dass es grundsätzlich im Interesse des Kindes wäre, wenn seine Eltern in der Lage wären, zu seinem Wohl auf eine respektvolle und wertschätzende Weise zu kommunizieren und ihm zu ermöglichen, eine tragfähige und vertrauensvolle Beziehung zu beiden zu haben. Dies sei hier nicht der Fall, wobei sich ergeben habe, dass die Mutter insoweit in ihrer Erziehungsfähigkeit eingeschränkt sei, als sie Kontakte zum Vater nicht in ausreichendem Maß zu fördern in der Lage sei, sodass diese nicht durchführbar gewesen seien und der Widerstand des Kindes so deutlich geworden sei, dass seitens des Gerichts Bedenken entstanden seien, ob deren Durchführung noch im Wohl des Kindes liege. Dies habe dazu geführt, dass das Kind seinen Vater zuletzt 2018 gesehen habe und inzwischen ein Kontakt nur mehr mit Zwang möglich wäre. Kontakte zum Vater wären für den Minderjährigen zwar sehr wichtig, der sich über Jahre hinziehende verbitterte Konflikt zwischen den Eltern habe allerdings eine massive Belastung für das Kind nach sich gezogen. Es entspräche nicht dem Kindeswohl, Kontakte zum Vater mittels Anwendung von Zwang gegenüber dem Kind durchzusetzen. Dabei sei es nicht von Bedeutung, dass die Mutter aus Sicht des Vaters für ihr Verhalten „belohnt“ werde.

[21] Mit seinem Revisionsrekursstrebt der Vater die Alleinobsorge für den Minderjährigen, hilfsweise die Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge unter gleichzeitiger Einräumung eines näher umschriebenen unbegleiteten Kontaktrechts an; hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.

[22] Die Mutter beantragt in der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[23] Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

[24] 1. Der rechtskräftige Freispruch des Vaters von dem gegen ihn erhobenen Strafantrag entfaltet im vorliegenden Verfahren zwar keine Bindungswirkung (vgl RS0106015); die Mutter hat ihre während des gesamten Verfahrens wiederholt gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe allerdings in keiner Weise belegt. Auszugehen ist daher davon, dass die Anschuldigungen der Mutter, mag sie auch subjektiv von deren Berechtigung überzeugt sein, kein Substrat haben. Die Mutter istdeshalb nicht berechtigt, Kontakte des Kindes zum Vater davon abhängig zu machen, dass dieser die Richtigkeit ihrer Behauptungen – also die Ausübung von physischer und auch sexueller Gewalt gegenüber dem Kind – zugibt.

[25] 2. Das vom Erstgericht zuletzt eingeholte Gutachten kann die Entscheidungen der Vorinstanzen schon deshalb nicht tragen, weil der Sachverständige zuvor nicht selbst mit dem Kind gesprochen hat und vor allem auch die erforderliche Interaktionsbeobachtung zwischen Vater und Kind nicht vornehmen konnte.

[26] 3.1. Seit dem KindNamRÄG 2013 soll die Obsorge beider Elternteile zwar (eher) der Regelfall sein (vgl RS0128811 [T1]). Eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Elternteile setzt jedoch ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit zwischen ihnen voraus. Um Entscheidungen gemeinsam im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und einen Entschluss zu fassen. Es ist daher vom Gericht zu beurteilen, ob eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden oder in absehbarer Zeit mit einer solchen zu rechnen ist (vgl RS0128812).

[27] 3.2. Das bisherige Verfahren hat ergeben, dass das Verhältnis der Eltern dermaßen konfliktbehaftet ist, dass jedenfalls derzeit und in absehbarer Zeit kein Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit zwischen ihnen besteht. Insofern ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanzen zum Schluss kamen, die Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge der Eltern entspreche nicht dem Kindeswohl. Den Vorinstanzen ist auch dahin zuzustimmen, dass eine sofortige Übertragung der Alleinobsorge an den Vater auf Basis der bisherigen Verfahrensergebnisse wegen der derzeit nicht gesichert auszuschließenden massiven Ablehnung durch das Kind nicht möglich ist.

[28] 4. Der Umstand, dass das Kind sich am Tag der geplanten Befundaufnahme durch den Sachverständigen – wie schon im Dezember 2018 anlässlich des bisher letzten Versuchs der Ausübung eines begleiteten Kontakts durch den Vater – beharrlich weigerte, aus dem Auto der Mutter auszusteigen, lässt sich allerdings nur entweder auf eine massive Beeinflussung (Instrumentalisierung) des Minderjährigen durch die Mutter oder aber darauf zurückführen, dass diese nicht willens oder in der Lage war, ihr neun Jahre altes Kind zur Wahrnehmung des Termins zu bewegen. Beide Alternativen begründen massive Zweifel an der Erziehungsfähigkeit der Mutter, indizieren diese doch ihr Unvermögen, auch nur einen Beitrag dafür leisten zu können/zu wollen, die für das Kind wichtigen Möglichkeiten einer gedeihlichen Beziehung zu seinem Vater objektiv und fachlich fundiert beurteilen zu können.

[29] 5. Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren die Mutter nötigenfalls unter Einsatz von Zwangsmitteln nach § 79 AußStrG dazu zu verhalten haben, das Kind dem Sachverständigen zum Zweck einer brauchbaren Befundaufnahme einschließlich Interaktionsbeobachtung mit dem Vater vorzustellen. Dies setzt nicht bloß voraus, dass die Mutter ihren Sohn zum Termin hinbringt, sondern diesen auch zur Mitwirkung positiv motiviert. Nach einer solcherart ermöglichten Gutachtenserstattung wird dann auf der dadurch verbreiterten Sachverhaltsgrundlage neuerlich über die Anträge der Eltern zu entscheiden sein. Sollte sich im weiteren Verfahren der bislang indizierte Eindruck eines objektiv unkonstruktiven, das Kindeswohl beeinträchtigenden Verhaltens der Mutter verdichten, werden die Voraussetzungen einer Obsorgeübertragung an den Vater oder allenfalls die Möglichkeit einer im Revisionsrekurs konkret in den Raum gestellten Obsorgeübertragung an die mütterlichen oder väterlichen Großeltern zu prüfen sein, um dem Kind dadurch eine Beziehung zu beiden Elternteilen zu ermöglichen.

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