OGH 14Os135/21s

OGH14Os135/21s24.1.2022

Der Oberste Gerichtshof hat am 24. Jänner 2022 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Nordmeyer, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann und Dr. Setz-Hummel LL.M. sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in der Übergabesache der Dr. * D*, AZ 319 HR 3/21i (vormals: AZ 315 HR 200/20d) des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag der Betroffenen auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur nichtöffentlich (§ 62 Abs 1 zweiter Satz OGH‑Geo 2019) den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0140OS00135.21S.0124.000

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

 

Gründe:

[1] Mit Beschluss vom 19. Mai 2021, GZ 315 HR 200/20d‑49, bewilligte das Landesgericht für Strafsachen Wien die Übergabe (vgl § 21 EU‑JZG) der Betroffenen Dr. * D* zur Vollstreckung einer von einem slowakischen Gericht verhängten Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten.

[2] Der dagegen gerichteten Beschwerde der Betroffenen gab das Oberlandesgericht Wien als Beschwerdegericht mit Beschluss vom 28. September 2021, AZ 22 Bs 179/21s, nicht Folge.

[3] Mit fristgerecht erhobenem Antrag auf Erneuerung dieses Verfahrens (§ 363a StPO) macht die Betroffene eine Verletzung von Art 6 und 8 MRK geltend.

[4] Auf die behauptete Verletzung verschiedener Garantien des Art 6 MRK (insbesondere der Begründungspflicht [vgl allerdings zum – restriktiven – Maßstab RIS-Justiz RS0129981] und des Rechtes auf Beiziehung eines Verteidigers zur ersten Vernehmung) im österreichischen Übergabeverfahren war aus folgenden Gründen nicht näher einzugehen:

Rechtliche Beurteilung

[5] Verfahren über die Auslieferung (oder – wie hier – Übergabe [nach EU-JZG]) zur Strafvollstreckung fallen als solche nicht in den Schutzbereich des Art 6 MRK, weil in ihnen nicht über die „Stichhaltigkeit“ einer „strafrechtlichen Anklage“, mithin über Schuld oder Nichtschuld eines Angeklagten (in der autonomen Auslegung des EGMR), entschieden wird (vgl RIS-Justiz RS0123200 [insbesondere T3], RS0132638; [zum Europäischen Haftbefehl] EGMR 7. 10. 2008, 41138/05, Monedero Angora/Spanien; Grabenwarter/Pabel, EMRK7 § 24 Rz 27; Vogler, Intkomm EMRK Art 6 Rz 202, 218 f und 247 ff). Eine in diesem Zusammenhang in der Literatur (erneut Grabenwarter/Pabel, EMRK7 § 24 Rz 27; Esser in Löwe-Rosenberg, Großkommentar26 EMRK Art 6 Rz 87; Mayer in SK-StPO5 EMRK Art 6 Rz 62) bisweilen zitierte (scheinbare) Ausnahme macht die Rechtsprechung des EGMR für (hier nicht vorliegende) Sonderkonstellationen, die durchwegs die Umwandlung einer in einem inländischen Strafverfahren über einen ausländischen Angeklagten verhängten – nach Einschätzung des EGMR demnach gerade nicht endgültig bestimmten („not defintively fixed“) – (Freiheits-)Strafe, sei es im Zuge dessen Überstellung zur Strafvollstreckung in seinem Heimatstaat (EGMR 1. 4. 2010, 27804/05, Buijen/Deutschland; 1. 4. 2010, 27801/05, Smith/Deutschland [wobei jeweils ein besonderer Zusammenhang zwischen Straf- und Überstellungsverfahren infolge einer prozessualen „Absprache“ zwischen Staatsanwalt und Angeklagtem vorlag]), sei es im Zuge dessen Ausweisung (EGMR 15. 12. 2009, 16012/06, Gurguchiani/Spanien [wobei nach spanischem Recht schon die Ausweisung die zuvor verhängte Freiheitsstrafe ersetzte]; vgl auch 11 Os 28/19f, 29/19b, 30/19z, 31/19x, 55/19a = JBl 2020, 273 [Schallmoser]) betrafen.

[6] Hingegen können fundamentale Verletzungen der Verfahrensgarantien des Art 6 MRK im Verfahren des ersuchenden Staates erfolgreich auch (mit Erneuerungsantrag) im (Auslieferungs- oder) Übergabeverfahren releviert werden (RIS-Justiz RS0123200; insbesondere [zur Strafvollstreckung] 15 Os 117/07f; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König in Meyer‑Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK4 Art 6 Rz 166; Esser in Löwe-Rosenberg, Großkommentar26 EMRK Art 6 Rz 88; Mayer in SK-StPO5 EMRK Art 6 Rz 63). Ein dahingehendes Vorbringen zu Defiziten im gegen die Betroffene geführten slowakischen Strafverfahren wurden jedoch erstmals – im Übrigen auch unsubstantiiert – im Erneuerungsantrag erstattet, weshalb dieser insoweit an der horizontalen Rechtswegerschöpfung, also dem Erfordernis, die behauptete Grundrechtsverletzung zumindest der Sache nach und in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften im Instanzenzug geltend zu machen, scheitert (RIS‑Justiz RS0122737 [T13]; Rebisant, WK‑StPO §§ 363a–363c Rz 88).

Zur behaupteten Verletzung des Art 8 MRK:

[7] Unter bestimmten Umständen kann der Schutz des Familienlebens einer Auslieferung (Übergabe) entgegenstehen, wenn die betroffene Person im Aufenthaltsstaat persönliche oder familiäre Bindungen hat, die ausreichend stark sind und durch die Auslieferung beeinträchtigt würden. Ein Eingriff begründet dann eine Verletzung von Art 8 MRK, wenn er nicht gesetzlich vorgesehen ist, kein legitimes Ziel verfolgt oder nicht als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft angesehen werden kann. Bei der zufolge Art 8 Abs 2 MRK erforderlichen Notwendigkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung ist hier zu berücksichtigen, dass den Interessen der betroffenen Person – anders als etwa in Fällen der Ausweisung und Abschiebung zur Durchsetzung der Einwanderungspolitik – insbesondere das Interesse des ersuchenden Staates an der Verfolgung bereits begangener Straftaten gegenüber steht (RIS-Justiz RS0123230 [insbesondere T4]; vgl Meyer-Ladewig/Schuster in Meyer‑Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK4 Anhang Art 8 Rz 11, 14 und 17).

[8] Zwar können auch familiäre Beziehungen zwischen Erwachsenen (hier: der Antragstellerin zu ihrem volljährigen Sohn) vom Schutzbereich des Grundrechts erfasst sein (EGMR 23. 9. 2010, 25672/07, Bousarra/Frankreich [Z 38 f]). Davon ausgehend können sie im Rahmen der gemäß Art 8 Abs 2 MRK durchzuführenden Verhältnismäßigkeitsprüfung eine Auslieferung (Übergabe) zur Strafvollstreckung jedoch nur dann hindern, wenn über die sonst üblichen (emotionalen) Bindungen hinaus Merkmale einer Abhängigkeit bestehen (erneut RIS-Justiz RS0123230 [insbesondere T5]; EGMR 12. 1. 2010, 47486/06, A. W. Khan/Vereinigtes Königreich; 15. 7. 2003, 52206/99, Mokrani/Frankreich; Meyer‑Ladewig/ Netteseheim in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK4 Art 8 Rz 61; Wildhaber, IntKomm EMRK Art 8 Rz 434 f).

[9] Nach den – von der Antragstellerin nicht nach den (sinngemäß anzuwendenden) Kriterien der Z 5 oder 5a des § 281 Abs 1 StPO bekämpften (vgl RIS-Justiz RS0125393 [T1]; Rebisant, WK-StPO §§ 363a–363c Rz 84) – Tatsachenannahmen des Beschwerdegerichts war der Sohn der Antragstellerin „zu Studienzwecken alleine in Großbritannien aufhältig“ und wohnte erst wieder „wegen der COVID‑19‑Pandemie“ bei ihr in Österreich. Ein Grund, weshalb „es dem Sohn der Betroffenen nicht zumutbar sein soll, seine Mutter in slowakischer Haft zu besuchen“, sei nicht ersichtlich (S 7 und 9 der Beschwerdeentscheidung). Die von der Antragstellerin ins Treffen geführte „Abhängigkeit“ ihres Sohnes ist im Wesentlichen finanzieller Natur, dergestalt, dass sie sein Studium (an der britischen Universität) finanziert und für seinen Lebensunterhalt aufkommt. Inwieweit diese Form der Unterstützung durch eine Vollstreckung der Freiheitsstrafe gerade in der Slowakei (in größerem Ausmaß als durch eine Vollstreckung im Aufenthaltsstaat) beeinträchtigt wäre, legt der Antrag nicht dar.

[10] Auf Basis der Tatsachenannahmen des Beschwerdegerichts verletzt somit die Bewilligung der Übergabe (mangels einer dieser relevant entgegenstehenden Abhängigkeit des Sohnes der Antragstellerin) nicht Art 8 MRK.

[11] Soweit sich der Antrag – inhaltlich über weite Strecken – auch gegen den erstinstanzlichen Beschluss richtet, war er schon wegen des Unterbleibens der Rechtswegausschöpfung unzulässig (erneut RIS‑Justiz RS0122737).

[12] Der Erneuerungsantrag war daher bei der nichtöffentlichen Beratung zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 StPO).

[13] Für eine Hemmung des Vollzugs der Übergabe (vgl RIS‑Justiz RS0125705) bestand (wegen offenbarer Aussichtslosigkeit des Antrags) kein Anlass.

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