OGH 4Ob146/21f

OGH4Ob146/21f28.9.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher und Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi sowie die Hofrätinnen Dr. Faber und Mag. Istjan, LL.M., als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen 1. M* E*, geboren am * 2013, 2. A* E*, geboren am * 2016, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter N* E*, vertreten durch Anwaltssocietät Sattlegger, Dorninger, Steiner & Partner in Linz, gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom 1. Juli 2021, GZ 15 R 228/21m‑50, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E133198

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die Eltern der Minderjährigen führten von Oktober 2007 bis Februar 2020 eine Lebensgemeinschaft. Sie vereinbarten die gemeinsame Obsorge für die Kinder sowie die hauptsächliche Betreuung im Haushalt der Mutter, und zwar im Juli 2013 hinsichtlich M* und im November 2016 hinsichtlich A*. Die Mutter zog Anfang Februar 2020 mit den Kindern aus dem gemeinsamen Haus aus.

[2] Der Vater beantragte die Festlegung der Betreuung der Minderjährigen im Sinne eines Doppelresidenzmodells mit einem wöchentlichen Betreuungswechsel; die Meldeadresse sollte beim Vater sein.

[3] Die Mutter sprach sich dagegen aus und beantragte die Festlegung eines zweitägigen Kontaktrechts des Vaters alle 14 Tage.

[4] Das Erstgericht hielt die gemeinsame Obsorge der Eltern für die Minderjährigen aufrecht, gab dem Antrag des Vaters auf Festlegung der Doppelresidenz (bei wöchentlichem Betreuungswechsel) statt und legte fest, dass die hauptsächliche Betreuung der Kinder im Sinn der primären Wahrnehmung jener Aufgaben, deren Grundlage ein bestimmter Aufenthaltsort ist, der Mutter zukommt. Den Antrag der Mutter auf Festsetzung eines Kontaktrechts sowie auf Einholung eines kinderpsychologischen Sachverständigengutachtens wies es ab.

[5] Das Rekursgerichtgab dem Rekurs der Mutter keine Folge. Es sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfragen nicht zulässig sei.

[6] In ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs macht die Mutterals erhebliche Rechtsfrage geltend, ob bereits die Haushaltstrennung der Eltern ein gewichtiger Grund für die Neuregelung der tatsächlichen Betreuung der Kinder sei. Weiters liege eine erhebliche Rechtsfrage auch zum Verzicht einer förmlichen Anhörung der Eltern vor.

[7] Die aufgeworfenen Rechtsfragen können die Zulässigkeit des Rechtsmittels nicht begründen.

Rechtliche Beurteilung

[8] 1. Zur neuen Obsorgeentscheidung wegen Umstandsänderung nach § 180 Abs 3 ABGB:

[9] 1.1 Ist die Obsorge endgültig geregelt, so kann nach § 180 Abs 3 ABGB jeder Elternteil, sofern sich die Verhältnisse maßgeblich geändert haben, bei Gericht eine Neuregelung der Obsorge beantragen. § 180 Abs 3 ABGB gilt sowohl für Fälle, in denen die bisherige Regelung der Obsorge durch Gerichtsbeschluss als auch für solche, in denen sie mit einer Vereinbarung durch die Eltern erfolgte (RS0128809 [T3]). Wenngleich nicht ausdrücklich angeführt, gilt nach ständiger Rechtsprechung die Bestimmung des § 180 Abs 3 ABGB auch für den Fall, dass zwar die vereinbarte Obsorge beider Elternteile aufrecht erhalten werden soll, aber über den Antrag eines Elternteils zu entscheiden ist, der eine hauptsächliche Betreuung anstrebt (5 Ob 118/17i; 7 Ob 77/19b; 4 Ob 68/20h).

[10] 1.2 Der Vater strebt zwar nicht ein Ende der bisherigen gemeinsamen Obsorge an, will aber die bisher vereinbarte hauptsächliche Betreuung der Kinder im Haushalt der Mutter durch ein Doppelresidenzmodell mit einer Betreuung im zeitlich gleichen Ausmaß ersetzen, wobei die Meldeadresse der Kinder in Bezug auf alle behördlichen Angelegenheiten beim ihm sein soll. Wenn die Vorinstanzen hier von einem Antrag auf „Neuregelung der Obsorge“ ausgingen und daher die Anwendung des § 180 Abs 3 ABGB prüften, steht das im Einklang mit der referierten Rechtsprechung.

[11] 1.3 Die Vorinstanzen sahen im Ende der Lebensgemeinschaft und im Auszug der Mutter aus dem bisher gemeinsamen Haushalt eine wesentliche Änderung der Verhältnisse, die eine Neuregelung der Obsorge im Sinne des § 180 Abs 3 ABGB rechtfertigt.

[12] 1.3.1 Auch diese Beurteilung wirft keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung auf. Die Änderungen der Lebensverhältnisse der Kinder muss – um eine Neuregelung begründen zu können – bei Beurteilung des Kindeswohls in der Gesamtschau unter Berücksichtigung einer Zukunftsprognose so gewichtig sein, dass das Postulat der Erziehungskontinuität in den Hintergrund tritt (RS0047928). Ob bei einer derartigen Gesamtschau die Änderung der Verhältnisse wesentlich im Sinne des § 180 Abs 3 ABGB ist, ist typischerweise eine nach den Umständen des Einzelfalls zu lösende Frage (5 Ob 106/20d mwN), der in der Regel daher keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 62 Abs 1 AußStrG zukommt, wenn durch die Entscheidung nicht leitende Grundsätze der Rechtsprechung oder das Kindeswohl verletzt wurden (vgl RS0115719).

[13] 1.3.2 Das Rechtsmittel kann nicht erklären, warum wegen der Trennung der Eltern und dem Auszug der Mutter keine maßgeblich geänderten Verhältnisse vorliegen sollen. Allein mit dem Hinweis, dass die Mutter vor dem Auszug und dem Beziehungsende die Kinder bereits faktisch allein betreut haben soll, kann die Mutter eine wesentliche Umstandsänderung nicht nachvollziehbar in Abrede stellen. Die Entscheidung der Vorinstanzen entspricht auch den der Bestimmung des § 179 Abs 2 ABGB zugrundeliegenden Wertungen. Nach dieser Norm müssen im Fall einer Obsorge beider Eltern diese nach Auflösung einer häuslichen Gemeinschaft eine Vereinbarung zur hauptsächlichen Betreuung abschließen.

[14] 1.4 Auch zum Inhalt der Obsorgeentscheidung wirft das Rechtsmittel keine erhebliche Rechtsfrage auf. Die Mutter argumentiert hier nur schlagwortartig und fast wortgleich wie im Rekurs gegen die erstgerichtliche Entscheidung, ohne im Ansatz auf die Argumentation des Rekursgerichts einzugehen.

[15] 2. Zur Mangelhaftigkeit:

[16] 2.1 Die gerügte Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens liegt nicht vor.

[17] 2.2 Das Rekursgericht hat die Notwendigkeit einer förmlichen Parteienvernehmung der Eltern vor dem Erstgericht deshalb verneint, weil diese ohnedies ausreichend Gelegenheit gehabt hätten, ihren jeweiligen Standpunkt vor dem Erstgericht darzulegen. Zudem sei im Rekurs nicht ausgeführt worden, welche Umstände die Mutter im Rahmen einer Parteienvernehmung hätte thematisieren können.

[18] 2.3 Ein vom Rekursgericht verneinter Mangel des außerstreitigen Verfahrens erster Instanz kann grundsätzlich keinen Revisionsrekursgrund bilden (RS0050037), dieser Grundsatz erfährt im Pflegschaftsverfahren nur dann eine Durchbrechung, wenn das die Interessen des Kindeswohls erfordern (RS0050037 [T1, T4]), was insbesondere im Obsorge‑ und Kontaktrechtsverfahren Bedeutung hat (RS0050037 [T8]).

[19] 2.4 Ausreichende Gründe für eine Durchbrechung dieses Grundsatzes im konkreten Obsorgeverfahren, zeigt der Revisionsrekurs nicht auf. Die Mutter bestreitet nicht, dass sie im Verfahren angehört wurde und ihren Standpunkt darlegen konnte. Abgesehen davon, dass das Pflegschaftsgericht in der Wahl der Beweismittel frei ist (RS0006319) und von der Aufnahme einzelner Beweismittel Abstand nehmen kann, wenn auch auf andere Weise eine ausreichend verlässliche Klärung möglich ist (RS0006319 [T10]), wird auch im Revisionsrekurs – wie bereits im Rekurs – nicht ansatzweise die Relevanz einer förmlichen Parteienvernehmung der Eltern aufgezeigt.

[20] 3. Der außerordentliche Revisionsrekurs war daher mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückzuweisen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

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