OGH 4Ob138/21d

OGH4Ob138/21d22.9.2021

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi und Dr. Parzmayr sowie die Hofrätin Mag. Istjan, LL.M., als weitere Richter in der Rechtssache der Klägerin ***** Zahnärztekammer, *****, vertreten durch Dr. Friedrich Schulz, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beklagten Dr. R***** S*****, vertreten durch Dr. Michael Denis Witvoet, Rechtsanwalt in Wien, wegen Unterlassung (Streitwert 41.000 EUR) und Urteilsveröffentlichung (Streitwert 5.000 EUR), aus Anlass der „außerordentlichen Revision“ des Beklagten gegen das Teilurteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 28. Mai 2021, GZ 5 R 61/21h‑42, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0040OB00138.21D.0922.000

 

Spruch:

Der Akt wird dem Erstgericht zurückgestellt.

 

Begründung:

[1] Die klagende Zahnärztekammer macht gegen den beklagten Zahnarzt mittels Unterlassungsklage Lauterkeitsverstöße geltend.

[2] Das Erstgericht gab dem Unterlassungsbegehren zu den Spruchpunkten

1.a) Werbung für die Hersteller und Vertreiber medizinischer Produkte

1.b) Werbeankündigungen

1.c) Bezeichnung als Fachexperte

1.d) Werbung in Fernsehsendern

statt.

[3] Das Berufungsgericht unterbrach das Verfahren zu Punkt 1.d) wegen eines Normprüfungsverfahrens vor dem Verfassungsgerichtshof und gab im Übrigen der Berufung zu den Punkten 1.a) bis 1.c) nicht Folge. Es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands jeweils 5.000 EUR, nicht jedoch 30.000 EUR übersteige und ließ die ordentliche Revision nicht zu. Es führte aus, dass bei der Bewertung des Entscheidungsgegenstands zu berücksichtigen gewesen sei, dass die einzelnen Spruchpunkte in keinem tatsächlichen oder rechtlichen Zusammenhang stünden und daher nicht zusammenzurechnen seien. Die Bewertung habe daher für jeden behaupteten Verstoß selbstständig zu erfolgen und orientiere sich an der wirtschaftlich plausiblen Bewertung der Klägerin.

Rechtliche Beurteilung

[4] Die gegen dieses Urteil erhobene „außerordentliche Revision“ des Beklagten, mit der er beantragt, die Klage hinsichtlich der Spruchpunkte 1.a) bis 1.c) abzuweisen, und anregt, ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zu stellen, legte das Erstgericht unmittelbar dem Obersten Gerichtshof vor. Diese Vorgangsweise widerspricht der geltenden Rechtslage:

1.1. Mehrere in einer Klage geltend gemachte Forderungen bilden nur dann einen einheitlichen Streitgegenstand, wenn die Voraussetzungen des § 55 Abs 1 JN erfüllt sind. Die Regelung des § 55 Abs 1 JN gilt auch für das Rechtsmittelverfahren (§ 55 Abs 4 JN) und damit für den Entscheidungsgegenstand (RIS‑Justiz RS0053096; RS0037838 [T38]). Danach sind mehrere in einer Klage geltend gemachte Forderungen zusammenzurechnen, wenn sie von einer einzelnen Partei gegen eine einzelne Partei erhoben werden und in einem tatsächlichen oder rechtlichen Zusammenhang stehen (§ 55 Abs 1 JN) oder von mehreren Parteien gegen mehrere Parteien geltend gemacht werden, die materielle Streitgenossen nach § 11 Z 1 ZPO sind (§ 55 Abs 1 Z 1 JN).

[5] 1.2. Mehrere Ansprüche stehen in einem tatsächlichen Zusammenhang, wenn sie alle aus demselben Sachverhalt abgeleitet werden können, wenn also das für einen Anspruch erforderliche Sachvorbringen ausreicht, um auch über den anderen geltend gemachten Anspruch entscheiden zu können, ohne dass noch ein ergänzendes Sachvorbringen erforderlich wäre (RS0042766). Ein rechtlicher Zusammenhang liegt vor, wenn die Ansprüche aus demselben Vertrag oder aus derselben Rechtsnorm abgeleitet werden und miteinander in einem unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhang stehen (RS0037648 [T14, T18]).

[6] 1.3. Dieser Zusammenhang besteht dann nicht, wenn jeder der mehreren Ansprüche ein verschiedenes rechtliches und tatsächliches Schicksal haben kann; in einem solchen Fall ist jeder Anspruch gesondert zu beurteilen, ohne dass eine Zusammenrechnung stattfindet (RS0037648 [T18]; RS0037899).

[7] 2.1. Im vorliegenden Fall macht die Klägerin drei verschiedene Wettbewerbsverstöße geltend, nämlich a) Werbung für gewisse Hersteller und Vertreiber medizinischer Produkte, b) die Verwendung von marktschreierischer bzw vergleichender Werbung, und c) die Bezeichnung als „Fachexperte“. Dabei stützte sie sich jeweils auf unterschiedliche Sachverhalte (Inserate) und Anspruchsgrundlagen, nämlich zu a) auf Art 3 lit d der Werberichtlinie, zu b) auf Art 3 lit c bzw lit a der Werberichtlinie und zu c) auf Art 1 und 2 der Werberichtlinie, jeweils iVm § 35 ZÄG und §§ 1, 2 UWG.

[8] 2.2. Bereits in der Klage bezog sich die Klägerin auf unterschiedliche Sachverhalte, einerseits auf eine Anzeige in den Bezirksblättern, andererseits auf unterschiedliche Beiträge auf der Website des Beklagten, sowie auf ein Werbevideo.

[9] 2.3. Der von § 55 Abs 1 JN verlangte tatsächliche oder rechtliche Zusammenhang ist daher hier zu verneinen. Der Wert des Entscheidungsgegenstands der jeweiligen Ansprüche liegt daher zwischen 5.000 und 30.000 EUR.

[10] 3.1. Nach § 502 Abs 3 ZPO ist die Revision – außer im Fall des § 508 Abs 3 ZPO – jedenfalls unzulässig, wenn der Entscheidungsgegenstand an Geld oder Geldeswert zwar 5.000 EUR, nicht aber insgesamt 30.000 EUR übersteigt und das Berufungsgericht die ordentliche Revision – wie hier – nach § 500 Abs 2 Z 3 ZPO für nicht zulässig erklärt hat. In diesem Fall kann eine Partei gemäß § 508 Abs 1 ZPO (nur) einen Antrag an das Berufungsgericht stellen, seinen Ausspruch dahin abzuändern, dass die ordentliche Revision doch für zulässig erklärt werde.

[11] 3.2. Erhebt in den in § 508 Abs 1 ZPO angeführten Fällen eine Partei ein Rechtsmittel, so ist dieses gemäß § 507b Abs 2 ZPO dem Gericht zweiter Instanz vorzulegen. Das gilt auch dann, wenn das Rechtsmittel als „außerordentliches“ bezeichnet wird und wenn es an den Obersten Gerichtshof gerichtet ist; dieser darf darüber nur entscheiden, wenn das Gericht zweiter Instanz gemäß § 508 Abs 3 ZPO ausgesprochen hat, dass ein ordentliches Rechtsmittel doch zulässig sei. Solange eine Abänderung des Zulassungsausspruchs durch das Berufungsgericht nicht erfolgt, fehlt dem Obersten Gerichtshof die funktionelle Zuständigkeit (7 Ob 102/20f mwN).

[12] 4. Liegt kein zulässiges Rechtsmittel vor, ist auch die im Rechtsmittel angeregte Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens beim EuGH nicht zulässig (vgl 4 Ob 22/19t).

[13] Entsprechend dem in eventu gestellten Eventualantrag nach § 508 Abs 1 ZPO ist der Akt dem Erstgericht zurückzustellen, das ihn der zweiten Instanz vorzulegen haben wird.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte