OGH 10ObS162/20a

OGH10ObS162/20a26.2.2021

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei G*****, Slowenien, vertreten durch Dr. Peter Schaden und Mag. Werner Thurner, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 15. Oktober 2020, GZ 6 Rs 43/20w‑40, mit dem infolge Berufungen der klagenden und der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 25. Mai 2020, GZ 32 Cgs 251/19d‑30, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00162.20A.0226.000

 

Spruch:

Der Rekurs wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rekurses selbst zu tragen.

 

Begründung:

[1] Der 1976 geborene und in Slowenien wohnhafte Kläger hat in Slowenien eine qualifizierte Berufsausbildung als Elektromonteur nach dem dortigen Berufsausbildungsgesetz erworben. Er erwarb in Slowenien 146 Versicherungsmonate. In Österreich erwarb der Kläger im November 1999 einen Versicherungsmonat (Resttagemonat) und von Juni 2011 bis Februar 2015 weitere 45 Beitragsmonate der Pflichtversicherung. Danach war der Kläger von März 2015 bis einschließlich Dezember 2017 in der Schweiz erwerbstätig und erwarb dort 22 Versicherungsmonate. Der Kläger bezieht eine slowenische Invalidenrente und seit 1. 11. 2017 eine Invalidenrente aus der Schweiz.

[2] Aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen kann der Kläger neben weiteren, im Detail festgestellten Einschränkungen nur mehr leichte Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen im Freien sowie in geschlossenen Räumen unter Einhaltung der üblichen Arbeitszeiten und Ruhebedingungen verrichten, wobei auch feinmotorische Arbeiten zumutbar sind. Ortswechsel und Wochenpendeln sind zumutbar. Mit (leidensbedingten) Krankenständen in der Dauer von vier Wochen jährlich ist zu rechnen.

[3] Der Kläger ist nicht mehr in der Lage, allen Anforderungen, die an einen Elektromonteur/ Elektrofacharbeiter gestellt werden, gerecht zu werden, weil er den damit einhergehenden körperlichen Belastungen nicht mehr gewachsen ist.

[4] Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist mit dem Leistungskalkül des Klägers noch die Tätigkeit eines Aufsehers oder Parkgaragenkassiers vereinbar. Für diese Tätigkeiten existiert ein ausreichender Arbeitsmarkt (mehr als 100 im freien Wettbewerb zugängliche Stellen).

[5] Mit Bescheid vom 5. 7. 2019 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers vom 11. 5. 2017 auf Gewährung einer Invaliditätspension ab, weil Invalidität nicht dauerhaft vorliege. Es liege jedoch ab 1. 6. 2017 vorübergehende Invalidität im Ausmaß von voraussichtlich mindestens sechs Monaten vor. Als medizinische Maßnahme der Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Klägers sei der weitere Krankheitsverlauf abzuwarten. Es bestehe weder ein Anspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation noch auf Rehabilitationsgeld aus der österreichischen Krankenversicherung.

[6] Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Zuerkennung einer Invaliditätspension in gesetzlicher Höhe ab dem 1. 6. 2017.

[7] Die Beklagte wandte ein, dass der Kläger nicht dauerhaft invalid sei. Es bestehe kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld, weil Österreich zu dessen Gewährung nicht zuständig sei.

[8] Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf Zuerkennung einer Invaliditätspension in gesetzlicher Höhe ab dem 1. 6. 2017 ab (Pkt 1.). Es stellte fest, dass dauernde Invalidität nicht vorliege (Pkt 2.). Es stellte weiters fest, dass beim Kläger ab 1. 6. 2017 Invalidität zumindest im Ausmaß von sechs Monaten vorliege und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation nicht zweckmäßig erscheinen (Pkt 3.). Schließlich stellte es fest, dass ab 1. 6. 2017 für die weitere Dauer der vorübergehenden Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld im gesetzlichen Ausmaß aus der Krankenversicherung bestehe (Pkt 4.).

[9] Zwar sei der Kläger nicht invalid im Sinne des Gesetzes. Da jedoch die Beklagte dem Kläger im angefochtenen Bescheid vorübergehende Invalidität zuerkannt habe, sei davon gemäß § 71 Abs 2 ASGG auszugehen. Durch die in Österreich erworbenen Versicherungszeiten bestehe eine ausreichende Nahebeziehung des Klägers zum österreichischen System der sozialen Sicherheit, sodass der Anspruch des Klägers auf Rehabilitationsgeld nach Slowenien zu „exportieren“ sei.

[10] Das Berufungsgericht gab den von beiden Parteien erhobenen Berufungen Folge, hob das Urteil des Erstgerichts auf und verwies die Sozialrechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an dieses zurück.

[11] Die Berufung des Klägers sei berechtigt, weil die Frage, ob er unter Berücksichtigung eines erworbenen Berufsschutzes dauerhaft invalid im Sinn des § 255 Abs 1 ASVG sei, nach den bisherigen Feststellungen nicht abschließend beurteilt werden könne. Dafür seien gemäß Art 5 VO (EG) 883/2004 auch die in Slowenien erworbenen Versicherungsmonate zu berücksichtigen und es sei zu prüfen, ob der Kläger in diesen Zeiten einen erlernten oder angelernten Beruf ausgeübt habe. Sollte der Kläger danach in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten im Beobachtungszeitraum eine qualifizierte Tätigkeit ausgeübt haben, werde zu beurteilen sein, ob er unter Berücksichtigung eines solchen Berufsschutzes eine zumutbare Verweisungstätigkeit ausüben könne.

[12] Die Berufung der Beklagten sei ebenfalls berechtigt. Unter Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH C‑135/19, Pensionsversicherungsanstalt (Rehabilitionsleistung) ECLI:EU:C:2020:177, sei eine Nahebeziehung des Klägers zum österreichischen System der sozialen Sicherheit zu verneinen, sodass ihm kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld gebühre. Dem stehe auch § 71 Abs 2 ASGG nicht entgegen, weil ein Anspruch des Klägers auf Rehabilitationsgeld mit dem angefochtenen Bescheid nicht im Sinn dieser Bestimmung „anerkannt“ worden sei.

[13] Den Rekurs an den Obersten Gerichtshof ließ das Berufungsgericht zu. Einerseits fehle Rechtsprechung zur Frage, ob in einem anderen Mitgliedstaat erworbene Versicherungszeiten als qualifizierte Versicherungszeiten im Sinn des § 255 Abs 2 ASVG anzusehen seien, die zur Erfüllung der Anspruchsvoraussetzung von zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten einer qualifizierten Tätigkeit herangezogen werden können. Andererseits sei die Frage zu klären, ob eine kurzzeitige Beschäftigung in Österreich, die nicht längere Zeit zurückliege, bei einem Überwiegen von im Ausland erworbenen Versicherungszeiten und einem Wohnsitz im Ausland den Export von Rehabilitationsgeld ausschließe.

[14] Gegen diesen Beschluss richtet sich der von der Beklagten beantwortete Rekurs des Klägers, mit dem er für den Fall, dass er keinen Anspruch auf Invaliditätspension habe, die Bejahung seines Anspruchs auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung anstrebt.

Rechtliche Beurteilung

[15] Der Rekurs ist nicht zulässig.

[16] Der Kläger führt zusammengefasst aus, dass er entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts Anspruch auf Rehabilitationsgeld habe. Der vorliegende Sachverhalt unterscheide sich wesentlich von den Konstellationen, die dem EuGH vorgelegt worden seien. Die Nichtgewährung des Rehabilitationsgeldes würde den Kläger in seiner Freizügigkeit beschränken und wäre daher unionsrechtswidrig.

[17] 1.  Auf den nach dem 1. 1. 1964 geborenen Kläger ist § 367 Abs 4 ASVG idF SVÄG 2016, BGBl I 2017/29, anzuwenden (§ 669 Abs 5, § 700 Abs 1 ASVG). Diese Bestimmung lautet:

„(4) Wird eine beantragte Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit abgelehnt, weil dauernde Invalidität (§ 254) oder dauernde Berufsunfähigkeit (§ 271) auf Grund des körperlichen oder geistigen Zustandes nicht anzunehmen ist, so hat der Versicherungsträger von Amts wegen festzustellen,

1. ob und seit wann Invalidität (Berufsunfähigkeit) im Sinne des § 255 Abs. 1 und 2 (§ 273 Abs. 1) oder im Sinne des § 255 Abs. 3 (§ 273 Abs. 2) vorliegt und ob ein Rechtsanspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation nach § 253e (§ 270a, § 276e) besteht und für welches Berufsfeld die versicherte Person durch diese Maßnahmen qualifiziert werden kann;

2. ob die Invalidität (Berufsunfähigkeit) voraussichtlich mindestens sechs Monate andauern wird;

3. (aufgehoben)

4. ob Anspruch auf Rehabilitationsgeld (§ 255b, § 273b, § 280b) besteht oder nicht.

Die unter den Z 1 und 2 genannten Feststellungen hat der Versicherungsträger von Amts wegen zu treffen, wenn nach § 255a (§ 273a, § 280a) festgestellt wird, dass die Invalidität (Berufsunfähigkeit) voraussichtlich nicht dauerhaft vorliegt. Bei Anspruch auf Rehabilitationsgeld können die Feststellungen nach Z 1 auch erst im Bescheid zur Entziehung des Rehabilitationsgeldes (§ 99 Abs. 3 Z 1 lit. b) erfolgen.“

[18] 2.  Daraus ergibt sich, dass Gegenstand des Verfahrens primär der Anspruch des Klägers auf Zuerkennung einer Invaliditätspension ist (§ 222 Abs 1 Z 2 lit b, § 254 ASVG). Denn die Feststellungen gemäß § 367 Abs 4 Z 1 bis 4 ASVG hat der Pensionsversicherungsträger (von Amts wegen) nur zu treffen, wenn die beantragte Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit abgelehnt wird, weil dauernde Invalidität (Berufsunfähigkeit) aufgrund des körperlichen oder geistigen Zustands nicht anzunehmen ist.

[19] 3.  Gegenstand des fortzusetzenden Verfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Zuerkennung einer Invaliditätspension. Die Beklagte hat gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts keinen Rekurs erhoben. Sie tritt in der Rekursbeantwortung der Rechtsansicht des Berufungsgerichts ausdrücklich bei, dass zur Beurteilung des Vorliegens eines Berufsschutzes der gesamte Versicherungsverlauf in die Beurteilung mit einzubeziehen ist, daher auch die in Slowenien erworbenen Versicherungszeiten des Klägers.

[20] 4.  Damit stellt sich die vom Kläger im Rekurs allein aufgeworfene Frage des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld im derzeitigen Verfahrensstadium nicht. Sollte sich nämlich im fortzusetzenden Verfahren der Anspruch des Klägers auf Zuerkennung einer Invaliditätspension als berechtigt herausstellen, weil dauernde Invalidität anzunehmen ist, hätte die Beurteilung der Frage, ob er einen Anspruch auf Rehabilitationsgeld hat, rein theoretischen Charakter. Eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung liegt in einem solchen Fall aber nicht vor (vgl RIS‑Justiz RS0111271).

[21] Der Rekurs des Klägers war daher mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

[22] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.

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