OGH 1Ob215/20d

OGH1Ob215/20d27.11.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj J*****, vertreten durch Dr. Alexander Katholnig, Rechtsanwalt in Kitzbühel, gegen die beklagte Partei A*****, vertreten durch Dr. Emilio Stock und Mag. Gerhard Entstrasser, Rechtsanwälte in Kitzbühel, wegen 11.519,10 EUR sowie Feststellung (Streitwert 5.000 EUR), über die Revision und den Rekurs der beklagten Partei gegen das Teilzwischenurteil und den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 25. August 2020, GZ 1 R 224/19a‑63, womit das Urteil des Bezirksgerichts Kitzbühel vom 18. Oktober 2020, GZ 1 C 149/18m‑42, teilweise abgeändert und teilweise aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0010OB00215.20D.1127.000

 

Spruch:

Der Revision und dem Rekurs wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Die Kosten des Revisions- und Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Die Beklagte veranstaltete anlässlich einer Kindergeburtstagsparty ihrer knapp sechsjährigen Tochter ein Spiel, bei dem die eingeladenen fünf- bis sechsjährigen Kindern abwechselnd versuchen sollten, eine mit Überraschungen gefüllte, mit einer Schnur über ihren Köpfen befestigte Figur aus Karton bzw Pappmasché („Piñata“) zu zerschlagen, um an die darin befindlichen Geschenke zu gelangen. Als Schlaginstrument wurde ein durch einen Schraubmechanismus verstellbarer – auf etwa einen Meter Länge eingestellter – Teleskop-Wanderstock mit einem Gummiaufsatz an der Spitze verwendet. Nachdem es den Kindern nicht gelang, die Piñata zu zerstören, versetzte ihr die Beklagte – ohne die Verschraubung des Stocks erneut zu prüfen – einen Schlag, wobei sich der untere Teil des Stocks löste und die als Gast anwesende Klägerin im Augenbereich traf und verletzte.

[2] Die Klägerin begehrt den Ersatz der ihr durch ihre Verletzung entstandenen Schäden sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige Schadensfolgen.

[3] Das Erstgericht wies die Klage ab, weil der Beklagten kein sorgfaltswidriges Verhalten anzulasten sei. Es ging davon aus, dass die Klägerin „deutlich mehr“ als einen Meter (nicht in Schlagrichtung) von der Beklagten – als diese auf die Piñata schlug – entfernt stand und für sie daher keine Gefahr bestand, durch einen Fehlschlag oder weil der Beklagten der Stock aus der Hand gleitet, verletzt zu werden. Damit, dass sich der vordere Teil des Wanderstocks löst (und weggeschleudert wird), habe die Beklagte nicht rechnen müssen.

[4] Das Berufungsgericht änderte die Entscheidung des Erstgerichts insoweit ab, als es mit Teilzwischenurteil aussprach, dass das Leistungsbegehren dem Grunde nach zu Recht besteht. Es ging davon aus, dass für die Beklagte erkennbar gewesen sei, dass sich „die Kinder“ aufgrund der Nähe „zum Schlag“ mit dem „nicht für eine solche Verwendung hergestellten und in Verkehr gebrachten“ Teleskop-Wanderstock in einer gefährlichen Situation befunden hätten, zumal der Stock aus zwei Teilen bestand, die sich bei defekter oder nicht ausreichend fester Verschraubung lösen konnten. Es wäre der Beklagten zuzumuten gewesen, entweder ein geeignetes Schlagwerkzeug (etwa einen durchgehenden Stock aus Holz oder stabilem Plastik) zu verwenden, oder den Schlag nicht im Nahbereich bzw in unmittelbarer Nähe der Klägerin vorzunehmen. Da sie dies schuldhaft unterlassen und die Verletzung der Klägerin adäquat verursacht habe, hafte sie dem Grunde nach für die ihr dadurch zugefügten Schäden. Hinsichtlich des Feststellungsbegehrens hob das Berufungsgericht die klageabweisende erstinstanzliche Entscheidung auf, weil nicht beurteilt werden könne, ob mit künftigen Schäden „zu rechnen“ sei. Die Revision sowie der Rekurs seien zulässig, weil „sich Fragen des erlaubten Risikos bei Kindergeburtstagsfeiern immer wieder stellten und – soweit überblickbar – zur Möglichkeit eines Handelns von Kindern auf eigene Gefahr in diesem Rahmen keine Rechtsprechung vorliege“.

[5] Die Revision und der Rekurs der Beklagten sind zulässig und mit ihrem hilfsweisen Aufhebungsantrag berechtigt. Beide Rechtsmittel werden aufgrund ihres untrennbaren thematischen Zusammenhangs gemeinsam behandelt.

Rechtliche Beurteilung

[6] 1. Die Gefährdung absolut geschützter Rechte ist grundsätzlich verboten (RIS‑Justiz RS0022946; siehe auch RS0023550; RS0008996; RS0023559). Aus diesem Verbot werden allgemeine Sorgfaltspflichten abgeleitet (vgl RS0022946 [T10]). Auch wer eine Gefahrenquelle schafft, muss die notwendigen Vorkehrungen treffen, um eine Schädigung anderer nach Tunlichkeit abzuwenden (Ingerenzprinzip; vgl RS0022778). Die Verursachung einer Gefahrensituation rechtfertigt die Auferlegung verstärkter Sorgfaltspflichten (RS0022778 [T5]), sofern die Gefahrenlage bei gehöriger Sorgfalt erkennbar war (RS0022778 [T9]). Entscheidend ist, ob nach den Erfahrungen des täglichen Lebens eine naheliegende und voraussehbare Gefahrenquelle besteht (vgl RS0023487 [T6]), wobei es maßgeblich auf die Wahrscheinlichkeit einer Schädigung (RS0022778 [T24]; RS0023487 [T7]) sowie auf die Größe der Gefahr und das Verhältnis zwischen den gefährdeten Interessen und den erforderlichen Abwehrmaßnahmen ankommt (RS0022778 [T5]). Die Sorgfaltspflicht darf nicht überspannt werden und eine vom Verschulden unabhängige Haftung zur Folge haben (RS0022778 [T10, T11, T33]; vgl auch RS0023487).

[7] 2. Der Beklagten kann per se nicht vorgeworfen werden, dass sie für das Piñata-Spiel einen (zweiteiligen) Wanderstock benutzte. Dieser ist – im Verhältnis zu anderen Schlaginstrumenten (insbesondere einem Golf- oder Baseballschläger, die nach den Feststellungen „im Internet“ für das Spiel empfohlen werden) – relativ leicht, sodass bei einem Fehlschlag nur verhältnismäßig geringfügige Verletzungen zu befürchten sind, zumal die Spitze hier mit einem „Gummischuh“ abgedeckt war. Aufgrund der Eigenart des Spiels hätte auch jedes andere Schlagwerkzeug jene Härte und Festigkeit aufweisen müssen, die ein „Aufschlagen“ (also Zerstören) der Piñata ermöglicht. Der Umstand, dass der Wanderstock aus zwei ineinandergeschobenen Teilen bestand, begründet für sich genommen keine Haftung für den eingetretenen Unfall beim Piñata-Spiel, weil sich den erstinstanzlichen Feststellungen entnehmen lässt, dass bei einer ausreichend festen Fixierung des Schraubgelenks – auch nach Verwendung des Stocks durch die Kinder, um damit auf die Piñata zu schlagen – keine Gefahr bestand, dass sich dessen unterer Teil lösen könnte und davongeschleudert wird.

[8] 3. Nach dem festgestellten Sachverhalt vergewisserte sich die Beklagte vor Beginn des Spiels (durch die Kinder), ob die Verschraubung des Wanderstocks „fest zugedreht“ ist. Damit wollte der Erstrichter wohl ausdrücken, dass dies auch tatsächlich der Fall war. Auf Basis einer solchen Feststellung – sowie der weiteren Feststellung, wonach keine Gefahr bestand, dass sich die Verschraubung des Stocks durch das Spiel der Kinder löst – könnte die Verletzung der Klägerin nicht durch eine unzureichende Feststellung des Schraubgelenks durch die Beklagte (also eine ihr bei der Fixierung der beiden Teile des Wanderstocks unterlaufene Nachlässigkeit) verursacht worden sein. Dies widerspricht jedoch der zusätzlichen (Negativ-)Feststellung, wonach nicht festgestellt werden konnte, ob sich die beiden Teile des Stocks deshalb voneinander lösten (und der untere Teil die Klägerin traf), weil die „Verklemmung nicht richtig (also nicht ausreichend fest) festgestellt war“, was eine unzureichende Fixierung durch die Beklagte als Unfallursache gerade nicht ausschließt. Widersprüchliche Feststellungen, die eine abschließende rechtliche Beurteilung nicht ermöglichen, sind

Feststellungsmängel, deren Vermeidung zur Wahrung der Rechtssicherheit erhebliche Bedeutung zukommt (RS0042744). Da die Frage, ob der Schraubmechanismus des für das Piñata-Spiel verwendeten Wanderstocks von der Beklagten ausreichend fest fixiert wurde, für die Beurteilung, ob die Beklagte sämtliche ihr zumutbaren Vorsichtsmaßnahmen eingehalten hat, eine entscheidende Rolle spielt, begründen die widersprüchlichen Feststellungen dazu einen rechtlich relevanten Feststellungsmangel, der – soweit dies hinsichtlich des Ersturteils nicht bereits vom Berufungsgericht (hinsichtlich des Feststellungsbegehrens; allerdings aus anderen rechtlichen Erwägungen) ausgesprochen wurde – zu einer Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen führen muss. Im fortzusetzenden Verfahren wird das Erstgericht widerspruchsfreie Feststellungen dazu zu treffen haben, ob die Beklagte den Wanderstock vor Beginn des Piñata-Spiels ausreichend fest verschraubt hat und wie sie dabei vorgegangen ist, wobei für die Prüfung einer allfälligen Sorgfaltswidrigkeit der Beklagten auch zu berücksichtigen sein wird, in welchem Zustand er sich befand, inwieweit sie den Wanderstock vor dem Unfall (zum Wandern) benutzt hat und davon ausgehen durfte, dass der Fixierungsmechanismus noch funktionsfähig war.

[9] 4. Neben der Frage, ob der zum Aufschlagen der Piñata verwendete Wanderstock von der Beklagten ausreichend fest verschraubt wurde bzw ob ein allfälliger Defekt des Schraubmechanismus für die Beklagte erkennbar war, kam es für ihre Haftung auch auf den konkreten Ablauf des von ihr vorgenommenen Schlags (der für nahestehende Personen auch dann gefährlich sein konnte, wenn er – wie von der Beklagten – nicht mit verbundenen Augen ausgeführt wird) und den genauen Standort der dadurch verletzten Klägerin ankommen. Das Erstgericht stellte dazu fest, dass sich die Beklagte etwa einen Meter von der Piñata entfernt befand und mit gerader Bewegung auf diese einschlug und dass die Klägerin zu diesem Zeitpunkt (in Blickrichtung der Beklagten zur Piñata gesehen) in einem Winkel von rund 90 Grad rechts von der Beklagten in einer Entfernung von jedenfalls „deutlich mehr als einem Meter“ stand. Damit kann jedoch die weitere Feststellung, wonach als „einzig denkbare Variante“ des Unfallhergangs in Betracht komme, dass sich der untere Teil des Stocks im Zuge der Schlagbewegung löste, gegen die Piñata prallte und von dort annähernd rechtwinkelig zur Seite in Richtung Klägerin flog, nicht in Einklang gebracht werden, weil die nach der erstgenannten Feststellung neben der Beklagten stehende Klägerin bei einem (annähernd) rechtwinkeligen Abprallen des unteren Teils des Stocks von der Piñata (in Schlagrichtung gesehen) von diesem nicht getroffen worden wäre. Das Erstgericht wird daher – gegebenenfalls unter neuerlicher Befassung des Sachverständigen – auch zum konkreten Ablauf des Schlags und dem Standort der Klägerin zu diesem Zeitpunkt widerspruchsfreie Feststellungen zu treffen haben, auf deren Basis beurteilt werden kann, ob der Beklagten ein haftungsbegründender Sorgfaltsverstoß vorzuwerfen ist.

[10] Wenngleich die Klägerin die erstinstanzliche Feststellung zu ihrem Standort beim Unfall in ihrer Berufung bekämpft und sich das Berufungsgericht damit nicht auseinandergesetzt hat, erscheint es im Hinblick auf die darüber hinausgehend unklare Sachverhaltsgrundlage (vgl 4.) zweckmäßig, die Verfahrensergänzung dem Erstgericht aufzutragen.

[11] 5. Sollte sich im fortgesetzten Verfahren eine Sorgfaltspflichtverletzung der Beklagten ergeben, wird schon jetzt darauf hingewiesen, dass – wovon bereits das Berufungsgericht ausging – kein „echtes“ Handeln auf eigene Gefahr (vgl RS0023101) der im Unfallszeitpunkt nicht einmal sechs Jahre alten Klägerin anzunehmen wäre, die mit einem solchen Verlauf in keiner Weise rechnen konnte.

[12] 6. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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