OGH 7Ob176/20p

OGH7Ob176/20p21.10.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und durch die Hofrätinnen und Hofräte Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei U***** B*****, vertreten durch die Koch Jilek Rechtsanwälte Partnerschaft in Bruck an der Mur, gegen die beklagte Partei W***** AG *****, vertreten durch die Themmer, Toth & Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Feststellung, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Berufungsgericht vom 7. Juli 2020, GZ 6 R 63/20h‑13, womit das Urteil des Bezirksgerichts Graz‑Ost vom 21. Jänner 2020, GZ 257 C 384/19w‑9, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0070OB00176.20P.1021.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das klagsabweisende Urteil des Erstgerichts samt Kostenentscheidung zur Gänze wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 730,97 EUR (darin 121,83 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 1.216,91 EUR (darin 83,65 EUR USt und 715 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Zwischen den Streitteilen bestand von 1. 1. 2007 bis (unstrittig) 28. 9. 2009 ein Rechtsschutzversicherungsvertrag, dem die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutz‑Versicherung (ARB 2003) zugrunde lagen; diese lauten auszugsweise wie folgt:

Artikel 7

Was ist vom Versicherungsschutz ausgeschlossen?

1. Kein Versicherungsschutz besteht für die Wahrnehmung rechtlicher Interessen

1.12. aus Versicherungsverträgen.

Artikel 23

Allgemeiner Vertrags-Rechtsschutz

2. Was ist versichert?

2.1 Der Versicherungsschutz umfasst die Wahrnehmung rechtlicher Interessen aus schuldrechtlichen Verträgen des Versicherungsnehmers über bewegliche Sachen …“

Der Kläger schloss im Jahr 2007 bei einem anderen Versicherer einen mit 1. 9. 2007 beginnenden Lebensversicherungsvertrag, von dem er mit Schreiben vom 27. 12. 2018 nach § 165a VersVG, § 8 FernFinG und § 5b Abs 2 VersVG zurücktrat, weil er nicht bzw nicht ordnungsgemäß über seine Rücktrittsrechte belehrt worden sei.

Der Kläger begehrte die Feststellung, dass ihm die Beklagte Deckungsschutz für die Geltendmachung von Ansprüchen im Zusammenhang mit dem genannten Lebensversicherungsvertrag zu gewähren habe. Er mache keine vertraglichen Erfüllungsansprüche geltend, die vom Risikoausschluss umfasst wären. Seine Rückzahlungsansprüche infolge Rücktritts seien vom Baustein „Allgemeiner Vertrags-Rechtsschutz“ gedeckt.

Die Beklagte bestritt das Klagebegehren. Art 7.1.12 ARB 2008 sehe vor, dass kein Versicherungsschutz für die Wahrnehmung rechtlicher Interessen aus Versicherungsverträgen bestehe.

Das Erstgericht wies die Klage ab. Streitigkeiten über die Wirksamkeit eines Rücktritts aus einem Lebensversicherungsvertrag seien nicht gedeckt.

Das Berufungsgericht änderte dieses Urteil im klagsstattgebenden Sinn ab. Der eng auszulegende Art 7.1.12 ARB 2003 sei nicht anzuwenden, weil der Kläger bereicherungsrechtliche Ansprüche und damit keine vertraglichen Erfüllungsansprüche aus dem Versicherungsvertrag geltend mache.

Das Berufungsgericht bewertete den Entscheidungsgegenstand als 5.000 EUR, aber nicht 30.000 EUR übersteigend und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil die Bedeutung der gegenständlichen Rechtsfrage über den Einzelfall hinausgehe.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision der Beklagten mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger begehrt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und auch berechtigt.

1.1.  Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach ständiger Rechtsprechung nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 914 f ABGB) auszulegen, und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung (RS0050063 [T71], RS0112256 [T10], RS0017960). Die Klauseln sind, wenn sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen; dabei ist der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung zu berücksichtigen (RS0008901 [insbes T5, T7, T87]). Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RS0050063 [T3]).

1.2. Die allgemeine Umschreibung des versicherten Risikos erfolgt durch die primäre Risikobegrenzung. Durch sie wird in grundsätzlicher Weise festgelegt, welche Interessen gegen welche Gefahren und für welchen Bedarf versichert sind. Auf der zweiten Ebene (sekundäre Risikobegrenzung) kann durch einen Risikoausschluss ein Stück des von der primären Risikobegrenzung erfassten Deckungsumfangs ausgenommen und für nicht versichert erklärt werden. Der Zweck liegt darin, dass ein für den Versicherer nicht überschaubares und kalkulierbares Teilrisiko ausgenommen und eine sichere Kalkulation der Prämie ermöglicht werden soll. Mit dem Risikoausschluss begrenzt der Versicherer von vornherein den Versicherungsschutz, ein bestimmter Gefahrenumstand wird von Anfang an von der versicherten Gefahr ausgenommen (RS0080166 [T10]; RS0080068).

1.3. Als Ausnahmetatbestände, die die vom Versicherer übernommene Gefahr einschränken oder ausschließen, dürfen Ausschlüsse nicht weiter ausgelegt werden, als es ihr Sinn unter Betrachtung ihres wirtschaftlichen Zwecks und der gewählten Ausdrucksweise sowie des Regelungszusammenhangs erfordert. Den Beweis für das Vorliegen eines Risikoausschlusses als Ausnahmetatbestand hat der Versicherer zu führen (RS0107031).

2.1.  Nach der primären Risikoabgrenzung des Art 23.2.1 ARB 2003 ist die Wahrnehmung rechtlicher Interessen aus schuldrechtlichen Verträgen des Versicherungsnehmers über bewegliche Sachen vom Versicherungsschutz umfasst.

2.2.  Die Wendung „Wahrnehmung rechtlicher Interessen“ aus schuldrechtlichen Verträgen des Versicherungsnehmers umfasst nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats (RS0128752 [T2]) nicht nur die Geltendmachung oder Abwehr von Ansprüchen auf Erfüllung und Erfüllungssurrogate, sondern auch die Ausübung von Gestaltungsrechten wie zum Beispiel Kündigung, Rücktritt oder Anfechtung. Für die Rückabwicklung eines solchen Vertrags nach Bereicherungsrecht oder sonstigen Rechten besteht nach dem Sinn und Zweck des Vertragsrechtsschutzes nach diesem Basistatbestand Versicherungsschutz (7 Ob 96/13p mwN; vgl auch 7 Ob 193/18k).

3.1.  Nach Art 7.1.12 ARB 2003 besteht für die Wahrnehmung rechtlicher Interessen aus Versicherungsverträgen aber kein Versicherungsschutz.

3.2.  Der durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer kann diese Wortfolge nur dahin verstehen, dass durch diesen sekundären Risikoausschluss nach dem Basistatbestand grundsätzlich umfasste Ansprüche aus Verträgen insofern begrenzt sind, als die Geltendmachung oder Abwehr von Ansprüchen von Anfang an von der versicherten Gefahr ausgenommen sind, wenn sie – wie hier – aus Versicherungsverträgen abgeleitet sind. Die vom Kläger und dem Berufungsgericht vorgenommene Differenzierung zwischen Erfüllungsansprüchen und sonstigen aus dem Vertrag abgeleiteten Ansprüchen widerspricht dem klaren Wortlaut der Klauseln.

3.3.  Der von der Beklagten herangezogene Ausschluss nach Art 7.1.12 ARB 2003 hat zur Folge, dass alle aus Versicherungsverträgen abgeleitete Ansprüche – Erfüllung und Erfüllungssurrogate ebenso wie die Ausübung von Gestaltungsrechten wie zum Beispiel Kündigung, Rücktritt oder Anfechtung sowie die Rückabwicklung eines solchen Vertrags nach Bereicherungsrecht oder sonstigen Rechten – nicht von der versicherten Gefahr umfasst sind.

4.1.  Da die Beklagte für die vom Kläger beabsichtigte Rechtsverfolgung von Anfang an keine Deckung übernommen hat, ist das klagsabweisende erstgerichtliche Urteil zur Gänze – einschließlich seiner Kostenentscheidung – wiederherzustellen.

4.2.  Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens stützt sich auf §§ 5041 ZPO.

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