OGH 9ObA74/20b

OGH9ObA74/20b21.10.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Bianca Hauser (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei J***** W*****, vertreten durch Dr. Peter Wallnöfer ua, Rechtsanwälte in Innsbruck, gegen die beklagte Partei C***** F***** GmbH, *****, vertreten durch Körber-Risak Rechtsanwalts GmbH in Wien, wegen Feststellung des aufrechten Dienstverhältnisses (Streitwert 56.661,08 EUR), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 30. Juni 2020, GZ 15 Ra 29/20g‑16, mit dem der Berufung der klagenden Partei gegen das Teilurteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom 20. Februar 2019, GZ 65 Cga 80/19h‑8, Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:009OBA00074.20B.1021.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Berufungsurteil wird dahin abgeändert, dass das Ersturteil (in der vom Berufungsgericht berichtigten Fassung des Feststellungsbegehrens [31. 3. 2020 statt 31. 1. 2020]) einschließlich der Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 3.127,32 EUR (darin 521,22 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens sowie die mit 2.252,70 EUR (darin 375,45 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Die Beklagte, bei der am 30. 9. 2019 ca 300 Arbeitnehmer beschäftigt waren, löste an diesem Tag insgesamt 10 Arbeitsverhältnisse – ohne eine Anzeige nach § 45a Abs 1 AMFG zu erstatten – auf. Von diesen Auflösungserklärungen waren sieben Arbeitnehmer, die das 50. Lebensjahr zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung bereits vollendet hatten, und drei Arbeitnehmer, auf die dies nicht zutraf, betroffen. Zu Letzteren gehörte der 1969 geborene Kläger, der erst innerhalb der bis zum 31. 3. 2020 währenden Kündigungsfrist das 50. Lebensjahr vollendet hat.

Der Kläger begehrt mit seinem – allein revisionsgegenständlichen – Hauptbegehren die Feststellung des aufrechten Dienstverhältnisses über den 31. 3. 2020 hinaus. Auch wenn er zum Zeitpunkt der Kündigung das 50. Lebensjahr noch nicht vollendet gehabt habe, sei er vom Schutzzweck des § 45a AMFG umfasst. Die Unwirksamkeit betreffe nämlich alle ausgesprochenen Kündigungen, die ohne Anzeige oder Einhaltung der Sperrfrist ausgesprochen worden seien und nicht nur jene, die die Schwellenwerte des § 45a Abs 1 Z 4 AMFG überschritten hätten. Außerdem habe er innerhalb der Kündigungsfrist das 50. Lebensjahr vollendet.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Die Kündigung des Klägers sei rechtswirksam erfolgt. Die Unwirksamkeitssanktion des § 45a Abs 5 AMFG wegen fehlender Verständigung des Arbeitsmarktservice beziehe sich nicht auf sämtliche Kündigungen innerhalb des 30‑Tage‑Zeitraums des § 45a Abs 1 AMFG, sondern lediglich auf jene Kündigungen, die bei der Berechnung des jeweiligen Schwellenwerts innerhalb der jeweiligen Ziffer des § 45a Abs 1 AMFG miteinzubeziehen wären. Auf den – zum maßgeblichen Kündigungszeitpunkt – erst im 49. Lebensjahr gestandenen Kläger treffe dies aber nicht zu.

Das Erstgericht wies das Hauptklagebegehren mit Teilurteil ab. In seiner Begründung folgte es der Rechtsauffassung der Beklagten.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge und dem Feststellungsbegehren statt. Aus dem Normzweck des Gesetzes ergebe sich, dass der Kündigungsvorgang als Einheit zu betrachten sei. Werde daher – wie hier – der Schwellenwert des § 45a Abs 1 Z 4 AMFG erreicht, so könnten sich auch Arbeitnehmer, die zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung das 50. Lebensjahr noch nicht vollendet hätten, auf die Unwirksamkeit der Kündigung berufen. Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil es sich bei seiner Entscheidung jedenfalls nicht auf eine völlig klare Rechtslage und eine gefestigte Rechtsprechung habe stützen können.

In ihrer dagegen gerichteten Revision beantragt die Beklagte die Abänderung des Berufungsurteils im Sinne einer Abweisung des Hauptbegehrens; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision der Beklagten keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und im Sinne einer Wiederherstellung des klagsabweisenden Ersturteils auch berechtigt.

1. § 45a Abs 1 AMFG lautet:

„Die Arbeitgeber haben die nach dem Standort des Betriebes zuständige regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice durch schriftliche Anzeige zu verständigen, wenn sie beabsichtigen, Arbeitsverhältnisse

1. von mindestens fünf Arbeitnehmern in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 100 Beschäftigten oder

2. von mindestens fünf vH der Arbeitnehmer in Betrieben mit 100 bis 600 Beschäftigten oder

3. von mindestens 30 Arbeitnehmern in Betrieben mit in der Regel mehr als 600 Beschäftigten oder

4. von mindestens fünf Arbeitnehmern, die das 50. Lebensjahr vollendet haben,

innerhalb eines Zeitraumes von 30 Tagen aufzulösen.“

Nach § 45a Abs 3 AMFG hat die Anzeige nach Abs 1 Angaben über die Gründe für die beabsichtigte Auflösung der Arbeitsverhältnisse und den Zeitraum, in dem diese vorgenommen werden soll, die Zahl und die Verwendung der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer, die Zahl und die Verwendung der von der beabsichtigten Auflösung der Arbeitsverhältnisse voraussichtlich betroffenen Arbeitnehmer, das Alter, das Geschlecht, die Qualifikationen und die Beschäftigungsdauer der voraussichtlich betroffenen Arbeitnehmer, weitere für die Auswahl der betroffenen Arbeitnehmer maßgebliche Kriterien sowie die flankierenden sozialen Maßnahmen zu enthalten. Der Betriebsrat ist nachweislich zu konsultieren.

Gemäß § 45a Abs 5 AMFG sind Kündigungen, die eine Auflösung von Arbeitsverhältnissen im Sinne des Abs 1 bezwecken, rechtsunwirksam, wenn sie 1. vor Einlagen der in Abs 1 genannten Anzeige bei der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice, oder 2. nach Einlagen der Anzeige innerhalb der 30‑tägigen Frist ohne vorherige Zustimmung der Landesgeschäftsstelle ausgesprochen werden.

2. Das Kündigungsfrühwarnsystem dient dazu, eine bessere Abstimmung der personalpolitischen Maßnahmen der Betriebe auf die arbeitsmarktpolitischen Möglichkeiten zu erreichen und durch die Erfüllung der in den §§ 45a bis 45c AMFG auferlegten Verpflichtungen die Voraussetzungen für einen optimalen Einsatz des Instrumentariums nach dem AMFG zu schaffen (RS0110347). Schutzobjekt des § 45a AMFG ist nicht primär der Arbeitnehmer, vielmehr ist das Arbeitsmarktservice der Begünstigte dieser Regelung. Dieses soll durch die Ankündigung der beabsichtigten Auflösung einer größeren Anzahl von Beschäftigungsverhältnissen in die Lage versetzt werden, frühzeitig durch Einleitung geeigneter arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen die beabsichtigten Kündigungen überhaupt zu verhindern, bzw wenn dies nicht möglich ist, Vorbereitungen für die Erfassung und Betreuung dieser zusätzlich am Arbeitsmarkt als arbeitssuchend auftretenden Personen zu treffen (Dirschmied, DRdA 1998/18, 191 [193] unter Bezugnahme auf VwGH 3. 6. 1997, 95/08/0043). Die Anzeigepflicht des Dienstgebers betrifft nur arbeitsmarktpolitisch relevante Auflösungen (vgl 9 ObA 146/98f mwN).

3. Die Regelung des § 45a Abs 5 AMFG erfasst Kündigungen, die eine Auflösung von „Arbeitsverhältnissen im Sinne des Abs 1“ leg cit bezwecken. Es handelt sich dabei entweder um Arbeitsverhältnisse, die zusammen einen bestimmten Schwellenwert übersteigen (Abs 1 Z 1–3), oder solche, von denen mindestens fünf über 50jährige Arbeitnehmer betroffen sind (Abs 1 Z 4). Eine andere, vom Kläger gewünschte Auslegung dieser Bestimmung, widerspricht deren klaren Wortlaut (vgl RS0008788 [T1]). Mit dieser mit der Novelle BGBl 502/1993 eingeführten Bestimmung wurden gemeinsam mit Novellierungen etwa des § 105 ArbVG und des AlVG spezifische Regelungen für die Gruppe der über fünfzigjährigen Arbeitnehmer getroffen. Dem Gesetzgeber kann nicht unterstellt werden, Grenzfälle übersehen zu haben, die zwar allenfalls auch vom Zweck und Ziel der Bestimmung, aber nicht von ihrem Wirkungsbereich erfasst sind. Den Gerichten ist es verwehrt, im Wege einer weitherzigen Interpretation offenkundige rechtspolitische Aspekte zu berücksichtigen, die den Gesetzgeber bisher nicht veranlasst haben, eine Gesetzesänderung vorzunehmen. Eine für rechtspolitisch lediglich sinnvoll oder wünschenswert erachtete Regelung bietet keine Grundlage für eine ergänzende Rechtsfindung durch Analogie (RS0009099).

4. Für die vorliegende Rechtssache ist auch die vom Berufungsgericht zitierte Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (9 ObA 146/98f), auf die sich auch der Revisionsgegner stützt, nicht einschlägig. Der in dieser Entscheidung, der eine Massenkündigung im Sinne des § 45a Abs 1 Z 1 bis 3 AMFG zugrunde lag, formulierte Rechtssatz, dass der Kündigungsvorgang nach erfolgter Bekanntgabe der Absicht nach § 45a Abs 1 AMFG im Hinblick auf die in Abs 5 leg cit normierte Folge als Einheit anzusehen sei, bezieht sich auf Auflösungserklärungen, die von einer bereits erstatteten Anzeige umfasst waren. Dem Arbeitgeber ist es demnach verwehrt, nach Bekanntgabe der beabsichtigten Auflösung einer anzeigepflichtigen Anzahl von Arbeitsverhältnissen mit der vorzeitigen Kündigung eines unter der Schwelle der Anzeigepflicht liegenden Teils dieser Personen innerhalb der 30‑tägigen Frist für diese den Kündigungsschutz zu unterlaufen. Im Unterschied zu den Tatbeständen des § 45a Abs 1 Z 1 bis 3 AMFG, bei denen es nur auf die Anzahl der betroffenen Arbeitsverhältnisse ankommt und ab Erreichen des Schwellenwerts daher jede einzelne Kündigung gleichermaßen zählt, bedarf es zur Anwendung des Tatbestands der Z 4 zwar nur einer gegenüber den Z 1 und 3 geringeren Zahl von betroffenen Arbeitnehmern, aber des zusätzlichen Merkmals der erreichten Altersgrenze. Andere Auflösungen von noch jüngeren Arbeitnehmern sind von diesem Tatbestand der Z 4 nicht betroffen. Erst wenn durch die beabsichtigte Beendigung der Arbeitsverhältnisse von über 50‑jährigen und jüngeren Arbeitnehmern insgesamt auch der Schwellenwert nach Z 1 bis 3 überschritten wird, erstreckt sich der daraus abzuleitende Kündigungsschutz auch auf die von Z 4 allein nicht erfassten Personen. Eine zeitliche Streuung von Kündigungen mit dem Effekt, dass das Erreichen des Schwellenwerts verhindert wird, ist dem Arbeitgeber nämlich grundsätzlich nicht verwehrt (RS0125464).

5. Auf seine im erstinstanzlichen Verfahren hilfsweise vorgebrachte Argumentation, er falle auch deshalb in die Regelung des § 45a Abs 1 Z 4 AMFG, weil er noch innerhalb der Kündigungsfrist das 50. Lebensjahr vollendet habe, kommt der Kläger in seiner Revisionsbeantwortung nicht mehr zurück. Dieser Rechtsauffassung haben bereits die Vorinstanzen übereinstimmend und zutreffend entgegengehalten, dass sich aus dem klaren Gesetzeswortlaut des § 45a Abs 1 AMFG (arg „wenn ein Arbeitgeber beabsichtigt“), ergibt, dass der Gesetzgeber bei der Erfüllung des Tatbestandsmerkmals „das 50. Lebensjahr vollendet haben“ an den Zeitpunkt anknüpft, an dem der Arbeitgeber den Auflösungsentschluss fasst und nicht an den Zeitpunkt des durch die Kündigung bewirkten Ende des Arbeitsverhältnisses (vgl 9 ObA 119/17s Pkt 5.).

6. Zusammengefasst erfüllte die Kündigung des Klägers weder die Kriterien der § 45a Abs 1 Z 1 bis 3 noch der Z 4 AMFG, weil weder die Gesamtzahl der Auflösungen im Betrieb der Beklagten die Schwelle der Anzeigepflicht erreichte, noch der Kläger zum Zeitpunkt der Anzeige das 50. Lebensjahr bereits vollendet hatte. Sein Arbeitsverhältnis war in keiner möglichen Variante ein Arbeitsverhältnis gemäß § 45a Abs 1 AMFG und unterlag damit nicht den Bestimmungen der weiteren Absätze.

Der Revision der Beklagten ist daher Folge zu geben und das Ersturteil – in der vom Berufungsgericht berichtigten Fassung (siehe ON 16, Seite 9) – wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.

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