OGH 5Ob137/20p

OGH5Ob137/20p12.8.2020

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Grohmann, die Hofräte Mag. Wurzer, Mag. Painsi und Dr. Steger als weitere Richter in der wohnrechtlichen Außerstreitsache des Antragstellers M*, vertreten durch Mag. Elke Hanel‑Torsch, Mietervereinigung Österreichs, *, gegen die Antragsgegnerin Mag. G*, vertreten durch die Engin-Deniz Reimitz Hafner Rechtsanwälte KG, Wien, wegen § 16 Abs 2 iVm § 37 Abs 1 Z 8 MRG, über den Revisionsrekurs der Antragsgegnerin gegen den Sachbeschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 27. März 2020, GZ 40 R 233/19i‑63, mit dem der Sachbeschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 5. August 2019, GZ 46 Msch 3/17k-57, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E129293

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin ist schuldig, der Antragstellerin die mit 180 EUR bestimmten Kosten des Revisionsrekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

Das Erstgericht stellte den gesetzlich zulässigen Hauptmietzins für die vom Antragsteller gemietete Wohnung mit 362,79 EUR monatlich sowie die aus dem von der Antragsgegnerin tatsächlich vorgeschriebenen Mietzins resultierenden Überschreitungsbeträge fest und sprach aus, dass die Hauptmietzinsvereinbarung im darüber hinausgehenden Ausmaß unwirksam ist. Da die Liegenschaft in einem Gründerzeitviertel liege, also in einem Gebiet, in dem in der Zeit von 1870 bis 1917 überwiegend Gebäude mit kleinen, mangelhaft ausgestatteten Wohnungen errichtet worden seien, sei die Wohnung höchstens als durchschnittlich einzustufen (§ 2 Abs 3 RichtWG), sodass kein Lagezuschlag gebühre.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Die Bestimmung des § 2 Abs 3 RichtWG komme zum Tragen, wenn die Lage (Wohnumgebung) des fraglichen Hauses zum Zeitpunkt des Abschlusses der Mietzinsvereinbarung zu mehr als 50 % noch aus Gebäuden bestehe, die in der Zeit von 1870 bis 1917 errichtet worden seien und diese im Zeitpunkt ihrer Errichtung überwiegend kleine Wohnungen der Ausstattungskategorie D enthalten haben. Bezugsgröße für die Gebäude mit Kategorie D‑Wohnungen sei nicht der ganze Gebäudebestand im Prüfgebiet. Abzustellen sei darauf, ob von den noch vorhandenen in der Gründerzeit errichteten Häusern der überwiegende Teil damals nur Substandardwohnungen aufgewiesen habe. Das sei hier der Fall, weil 61 der insgesamt 72 Gebäude des Prüfgebiets aus der Gründerzeit stammten und von diesen 61 Gebäuden 35, also auch der überwiegende Teil, zum Zeitpunkt ihrer Errichtung überwiegend Substandardwohnungen aufgewiesen haben.

Den Revisionsrekurs erklärte es für zulässig, weil der Wortlaut des § 2 Abs 3 RichtWG das von der Antragsgegnerin abweichend von seiner Auslegung vertretene Verständnis dieser Bestimmung nicht ausschließe.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 71 Abs 1 AußStrG) Ausspruch des Rekursgerichts nicht zulässig, was kurz zu begründen ist (§ 71 Abs 3 AußStrG):

1. Der Oberste Gerichtshof ist auch in einem außerstreitigen Mietrechtsverfahren nur Rechtsinstanz (RIS‑Justiz RS0070446). Soweit die Ausführungen im Revisionsrekurs von den durch die Vorinstanzen zugrunde gelegten tatsächlichen Voraussetzungen abweichen, ist darauf nicht näher einzugehen.

2. Trotz Fehlens einer ausdrücklichen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu einer konkreten Fallgestaltung liegt dann keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG vor, wenn das Gesetz selbst eine klare, das heißt eindeutige Regelung trifft (RS0042656). Das trifft auf die vom Rekursgericht zum Anlass der Rechtsmittelzulassung gemachte Fragestellung zu.

3.1 Gegenstand des Revisionsrekursverfahrens ist ausschließlich die von der Antragsgegnerin bezweifelte rekursgerichtliche Auslegungvon § 2 Abs 3 RichtWG. Die Revisionsrekurswerberin versteht diese Bestimmung offenkundig dahin, dass sowohl das Überwiegen der in den Jahren von 1870 bis 1917 errichteten Gebäuden als auch das Überwiegen von Wohnungen der Kategorie Danhand des zum Zeitpunkt des Mietvertragsabschlusses aktuellen Gebäudebestands der Wohnumgebungzu messen sei. Lediglich 35 Gebäude des Prüfgebiets erfüllten die geforderten Voraussetzungen der Errichtung in den Jahren 1870 bis 1917 und des Überwiegens von Wohnungen der Kategorie D.

3.2 Ein kundgemachtes Gesetz ist aus sich selbst auszulegen. Erkenntnisquellen über die Absicht des Gesetzgebers kommen erst dann zum Tragen, wenn dessen Ausdrucksweise zweifelhaft ist (RS0008806). Für die Auslegung ist daher zunächst die Wortinterpretation heranzuziehen. Darunter sind die Erforschung des Wortsinns, der Bedeutung eines Ausdrucks oder eines Gesetzes nach dem Sprachgebrauch zu verstehen. Bleibt nach Wortinterpretation und logischer Auslegung die Ausdrucksweise des Gesetzes zweifelhaft, ist die Absicht des Gesetzgebers zu erforschen. Dabeiist der Sinn einer Bestimmung unter Bedachtnahme auf den Zweck der Regelung zu erfassen (vgl RS0008836 [T4]).

3.3 § 2 Abs 3 RichtWG lautet:

„Die durchschnittliche Lage (Wohnumgebung) ist nach der allgemeinen Verkehrsauffassung und der Erfahrung des täglichen Lebens zu beurteilen, wobei eine Lage (Wohnumgebung) mit einem überwiegenden Gebäudebestand, der in der Zeit von 1870 bis 1917 errichtet wurde und im Zeitpunkt der Errichtung überwiegend kleine, mangelhaft ausgestattete Wohnungen (Wohnungen der Ausstattungskategorie D) aufgewiesen hat, höchstens als durchschnittlich einzustufen ist.“

3.4 Schon die wörtliche (grammatikalische) Auslegung dieser Regelung ergibt ein klares Ergebnis in dem von den Vorinstanzen vertretenen Sinn. Danach bezieht sich das Kriterium des Überwiegens von „Wohnungen der Ausstattungskategorie D“ auf den Gebäudebestand, der in den Jahren von 1870 bis 1917 errichtet wurde (Gründerzeit), sodass der Gesetzestext sowohl eine historische als gegenwärtige Komponente vorgibt. In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob der Gebäudebestand der Wohnumgebung mehrheitlich (überwiegend) aus Häusern besteht, die in den Jahren von 1870 bis 1917 errichtet wurden. Dabei ist der aus dieser Zeit stammende Gebäudebestand zum Gesamtgebäudebestand bei Abschluss des Mietvertrags in Beziehung zu setzen. Überwiegt der in den Jahren 1870 bis 1917 errichtete Gebäudebestand der Wohnumgebung, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob dieser gründerzeitliche Gebäudebestand bei Errichtung überwiegend Wohnungen der Ausstattungskategorie D aufwies. Trifft – wie im vorliegenden Fall – beides zu, ist die Lage nicht besser als durchschnittlich einzustufen.

3.5 Auch die bei verbliebenen – hier nicht gegebenen – Zweifeln zu erforschende Absicht des Gesetzgebers stützt dieses Ergebnis. Danach sollte mit der Regelung des § 2 Abs 3 RichtWG klargestellt werden, dass Gebiete mit einer typisch gründerzeitlichen, dichten Bebauung mit Gebäuden, die im Zeitpunkt der Errichtung überwiegend, also zu mehr als 50 vH, kleine und mangelhaft ausgestattete Wohnungen (sog Substandardwohnungen) aufgewiesen haben, nicht besser als durchschnittlich eingestuft werden und daher keinen Lagezuschlag erhalten können (AB 1268 BlgNR 18. GP  19). Die Erläuterungen halten weiters fest, dass Gebiete, die zwar einen in der Zeit von 1870 bis 1917 errichteten Gebäudebestand haben, der aber seinerzeit überwiegend große und besser ausgestattete Wohnungen aufgewiesen hat, nicht erfasst sein sollen und machen damit ebenfalls deutlich, dass der historische Gesetzgeber bei der Frage, welcher Ausstattungszustand innerhalb der Gruppe des gründerzeitlichen Gebäudebestands überwiegt, auf den Zeitpunkt von dessen Errichtung abstellte. Auch der Verfassungsgerichtshof legt der Bestimmung des § 2 Abs 3 RichtWG in dem von der Revisionswerberin zitierten Erkenntnis (12. 10. 2016 G 673/2015 ua, V 25/2016 ua) entgegen ihrer Auffassung kein anderes Verständnis zugrunde.

4. Das von der Revisionsrekurswerberin gewünschte Auslegungsergebnis findet auch in der Literatur keinen Rückhalt. So führt Richter (Gründerzeitviertel im Wandel – die Lage [Wohnumgebung] iSd § 2 Abs 3 RichtWG, immolex 2017, 202) aus, dass für das Vorliegen eines Gründerzeitviertels zwei Kriterien erfüllt sein müssen, und zwar ein überwiegender Gebäudebestand, der in der Zeit von 1870 bis 1917 errichtet wurde, der als zweites Kriterium im Zeitpunkt seiner Errichtung überwiegend Wohnungen der Ausstattungskategorie D aufgewiesen haben muss. Nach Schinnagl (in Illedits/Reich‑Rohrwig, Wohnrecht‑TaKomm3 § 2 RichtWG Rz 3) liegt ein Gründerzeitviertel bei einer überwiegenden Bebauung mit Gebäuden vor, die im Zeitpunkt der Errichtung zwischen 1870 und 1917 einen Anteil von mehr als 50 % kleinen und mangelhaft ausgestatteten Wohnungen aufgewiesen haben. AuchWürth/Zingher/Kovanyi/Etzersdorfer (Miet‑ und Wohnrecht23 MRG § 16 Rz 26) stufen eine Lage mit einem in der Zeit von 1870 bis 1917 errichteten Gebäudebestand, der im Zeitpunkt der Errichtung überwiegend kleine Substandardwohnungen aufgewiesen hat („Gründerzeitviertel“), als durchschnittlich ein.

5. Da die Wohnumgebung nach der zutreffenden Auffassung der Vorinstanzen nicht besser als durchschnittlich einzustufen ist, war die von der Antragsgegnerin vermisste Auseinandersetzung mit den außerhalb eines sogenannten Gründerzeitviertels nach der allgemeinen Verkehrsauffassung lagebestimmenden Kriterien entbehrlich.

6. Einer weiteren Begründung bedarf es nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).

7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 37 Abs 3 Z 17 MRG. Die Antragstellerin hat in ihrer Revisionsrekursbeantwortung darauf hingewiesen, dass das Rechtsmittel nicht zulässig ist. Es entspricht daher der Billigkeit, ihr die Kosten für die Rechtsmittelgegenschrift zuzusprechen (RS0122294 [T1]).

Stichworte