OGH 10ObS161/19b

OGH10ObS161/19b16.4.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Johannes Püller (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir. Gabriele Svirak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J*****, Deutschland, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Kinderzuschuss, infolge außerordentlicher Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 17. Oktober 2019, GZ 23 Rs 49/19 f‑13, mit dem das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 4. April 2019, GZ 34 Cgs 22/19y‑9, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00161.19B.0416.000

 

Spruch:

 

Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

 

Entscheidungsgründe:

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob der Kinderzuschuss bei Gewährung einer aufgrund des unionsrechtlichen Koordinierungsrechts gewährten Teil‑(alters‑)pension in der in § 262 Abs 2 ASVG genannten (vollen) Höhe von 29,07 EUR monatlich oder nur anteilig entsprechend den in Österreich zurückgelegten Versicherungszeiten (hier: in Höhe von 2,96 EUR) gebührt.

Außer Streit steht, dass der 1953 geborene Kläger in Deutschland lebt. Er hat bis zum Pensionsstichtag 1. 3. 2018 in Österreich 48 Versicherungsmonate, in der Schweiz 10, in Deutschland 451, im Vereinigten Königreich 69 und im Fürstentum Liechtenstein 1 Versicherungsmonat, zusammen 579 Versicherungsmonate erworben. Seit 1. 3. 2018 bezieht der Kläger eine Alterspension aus Österreich in Höhe von 170,24 EUR. Allein nach den österreichischen Rechtsvorschriften, also ohne Anwendung der Koordinierungsvorschriften der VO (EG) 883/2004 (Zusammenrechnung der Versicherungszeiten), hätte der Kläger in Österreich keinen Leistungsanspruch auf Alterspension.

Der 1996 geborene Sohn des Klägers betreibt ernsthaft und zielstrebig ein Studium.

Mit Bescheid vom 8. 1. 2019 gewährte die beklagte Partei dem Kläger ab 1. 3. 2018 – neben der Alters‑(teil‑)pension in Höhe von monatlich 170,24 EUR – den Kinderzuschuss für ein Kind in der monatlichen Höhe von 2,96 EUR.

In seiner auf Gewährung des Kinderzuschusses in Höhe von 29,07 EUR monatlich gerichteten Klage brachte der Kläger zusammengefasst vor, der Kinderzuschuss sei eine zusätzlich zur Alterspension zu erbringende Leistung, deren Höhe durch § 262 Abs 2 ASVG für alle Pensionsbezieher in gleicher Höhe und unabhängig von den während des Erwerbslebens geleisteten Beiträgen mit monatlich 29,07 EUR festgesetzt sei. Als Bezieher einer österreichischen Alterspension habe er Anspruch auf den ungekürzten Bezug des Kinderzuschusses. Dem Umstand, dass sein Pensionsanspruch in Österreich nur aufgrund der Berücksichtigung ausländischer Versicherungszeiten bestehe, komme keine Bedeutung zu.

Die beklagte Partei bestritt und wies darauf hin, dass dem Kläger mangels Erfüllung der Wartezeit allein aufgrund österreichischer Versicherungszeiten keine Alterspension zustehe. Da der Grundanspruch des Klägers nur unter Berücksichtigung der ausländischen Versicherungszeiten zustande komme, sei die Höhe der zu gewährenden Leistung anteilig nach dem pro-rata-temporis-Prinzip zu berechnen. Auch der Kinderzuschuss als Pensionsbestandteil im weiteren Sinn unterliege daher einer anteiligen Berechnung und betrage deshalb nur 2,96 EUR im Monat (Art 52 Abs 1 lit b sublit ii der VO [EG] 883/2004).

Das Erstgericht wiederholte den bescheidmäßigen Zuspruch eines Kinderzuschusses in Höhe von 2,96 EUR monatlich ab 1. 3. 2018 und wies das auf Gewährung eines Kinderzuschusses in der Gesamthöhe von 29,07 EUR monatlich gerichtete Begehren ab.

In seiner rechtlichen Beurteilung folgte das Erstgericht dem Rechtsstandpunkt der beklagten Partei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge und änderte das Ersturteil dahin ab, dass dem Kläger ab 1. 3. 2018 der Kinderzuschuss in Höhe von 29,07 EUR monatlich zur Alterspension zugesprochen wurde. Das Berufungsgericht ließ die Revision nicht zu.

Rechtlich ging es zusammengefasst davon aus, § 262 ASVG enthalte keine Anhaltspunkte für eine Kürzung des Kinderzuschusses allein aufgrund der Art des Zustandekommens der Grundleistung oder deren Höhe. Der Kinderzuschuss sei als selbständige, zweckgewidmete Mindest-/Grundsicherung für Kinder aufzufassen. Diese bilde einen nach Art 58 der VO (EG) 883/2004 ungekürzt zu belassenden Rentenbestandteil. Einer nur anteiligen Gewährung des Kinderzuschusses stünde unionsrechtlich außerdem das Günstigkeitsprinzip („Petroni‑Prinzip“) entgegen. Dem Kläger gebühre daher der volle Kinderzuschuss ohne Anwendung des pro rata temporis-Abschlags.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Partei mit dem Antrag auf Wiederherstellung des Ersturteils.

Der Kläger hat von der ihm eingeräumten Möglichkeit, eine Revisionsbeantwortung zu erstatten, keinen Gebrauch gemacht.

Die Revision ist zulässig, weil der Oberste Gerichtshof zu der hier zu beurteilenden Rechtsfrage bisher nicht Stellung genommen hat. Die Entscheidung 10 ObS 79/09d erging zu Art 20 Abs 2 Z 1 des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Republik Türkei über soziale Sicherheit, BGBl III 2000/219, das explizite Regelungen zur aliquotierten Berechnung für „Leistungen oder Leistungsteile, deren Betrag nicht von der Dauer der zurückgelegten Versicherungszeiten abhängig ist“ (somit auch für den Kinderzuschuss) vorsieht.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinn der Wiederherstellung des Ersturteils auch berechtigt.

Die Revisionswerberin macht zusammengefasst geltend, die vom Berufungsgericht angenommene „rechtliche Selbständigkeit“ des Kinderzuschusses gegenüber der Pensionsleistung bestehe nicht; vielmehr sei der Kinderzuschuss ein Pensionsbestandteil, der vom Unionsrecht nicht von der Proratisierung ausgeschlossen werde. Das „Petroni‑Prinzip“ sei im vorliegenden Fall nicht einschlägig. Weder Art 52 Abs 4 noch Art 58 der VO (EG) 883/2004 seien auf den gegenständlichen Sachverhalt anwendbar.

Dazu ist auszuführen:

1.1 Um die materiell‑rechtliche Gleichstellung von Personen zu erreichen, die – wie der Kläger – zum Zweck der Erwerbstätigkeit die Freizügigkeit wahrgenommen haben, regelt Art 6 der VO (EG) 883/2004 („Zusammenrechnung der Zeiten“) – als tragenden Grundsatz der Koordination – die Berücksichtigung von fremdmitgliedstaatlichen Versicherungs-, Beschäftigungs- oder Wohnzeiten, soweit die nach nationalem Recht anzurechnenden Versicherungszeiten für die Erfüllung der jeweiligen innerstaatlichen Anspruchsvoraussetzungen nicht ausreichen (Schuler in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7 Art 6 VO [EG] Nr 883/2004 Rz 3 f).

1.2 Da der Kläger mit den in Österreich erworbenen Versicherungsmonaten die Wartezeit nicht erfüllt (§ 236 Abs 1 Z 2 lit a ASVG), war die zwischenstaatliche Berechnung durchzuführen. Die beklagte Partei hatte die im Ausland zurückgelegten Versicherungszeiten so zu behandeln, als ob sie nach den österreichischen Rechtsvorschriften zurückgelegt worden wären und anrechnungsfähige und abzugeltende Zeiten darstellten. In einem zweiten Schritt war aus der so ermittelten hypothetischen Gesamtrente nach dem Verhältnis der in den Mitgliedstaaten vor Eintritt des Versicherungsfalls zurückgelegten Versicherungszeiten der tatsächlich zu zahlende Betrag („tatsächlicher Betrag der anteiligen Leistung“) zu errechnen (pro rata temporis‑Verfahren). Auf diese Weise wurde die Höhe der dem Kläger in Österreich gebührenden Teilpension mit 170,24 EUR ermittelt.

2. Nach § 262 Abs 1 ASVG gebührt (zusätzlich) zu den Leistungen aus den Versicherungsfällen des Alters und zur Invaliditätspension für jedes Kind (…) ein Kinderzuschuss. Die Höhe des Kinderzuschusses beträgt 29,07 EUR monatlich (§ 262 Abs 2 ASVG).

2.1 Der Kinderzuschuss ist nach ständiger Rechtsprechung Pensionsbestandteil im weiteren Sinn, für den das Antragsprinzip gilt. Für Kinder unter 18 Jahren genügt ein formloser Antrag (§ 262 Abs 1 ASVG; RS0085408). Dem Charakter nach stellen Kinderzuschüsse eine öffentlich‑rechtliche (Hilfs‑)Leistung dar, deren Zweckbestimmung in der finanziellen Hilfe zur Erfüllung der Unterhaltspflichten liegt (RS0009543 [T1]; siehe auch 10 ObS 2/05z SSV‑NF 19/9). Bei der Bemessung des Unterhalts sind Kinderzuschüsse daher auch als Einkommensbestandteile des Unterhaltspflichtigen zu berücksichtigen (RS0111442). Wird wahrgenommen, dass der Kinderzuschuss vom Zahlungsempfänger nicht zugunsten des Kindes verwendet wird, so kann der Versicherungsträger mit Zustimmung des Pflegschaftsgerichts einen anderen Zahlungsempfänger bestellen (§ 106 Abs 2 ASVG; 10 ObS 19/05z SSV‑NF 19/25).

2.2 Zur Höhe des Kinderzuschusses ergibt sich aus der Stammfassung des ASVG (BGBl 1955/189) dass der Kinderzuschuss damals mit 5 vH der Bemessungsgrundlage, mindestens aber mit dem Betrag von 32 ATS monatlich festgesetzt war. Mit dem SRÄG 1993 (BGBl 1993/335) wurde der Kinderzuschuss auf einen Fixbetrag von damals 300 ATS monatlich umgestellt, weil im Steuerrecht ein gestaffelter Zuschlag zur Familienbeihilfe eingeführt wurde und diese Verbesserung die Aufrechterhaltung des vergleichbaren Kinderzuschusses in der Pensionsversicherung in voller Höhe nicht mehr gerechtfertigt erscheinen ließ (ErläutRV 932 BlgNR 18. GP  47 f; Panhölzl, SV‑Komm [208. Lfg] § 262 ASVG Rz 1).

3. Wenngleich der Kinderzuschuss als (beitragsunabhängiger) Fixbetrag gewährt wird, zeigen seine historische Entwicklung, seine Zweckrichtung und insbesondere die Möglichkeit seiner Entziehung bei zweckwidriger Verwendung (§ 106 Abs 2 ASVG), dass er nicht als pauschale Mindestleistung zu verstehen ist, mit der der österreichische Sozialgesetzgeber dem Pensionisten ein bestimmtes Mindesteinkommen sichern will (wie etwa mit der Ausgleichszulage). Kommt dem Kinderzuschuss nicht der Charakter einer Mindestleistung zu, bestehen keine Bedenken gegen eine anteilige Kürzung (vgl EuGH C‑189/16 , Zaniewicz‑Dybeck, Rz 45 f; Wunder in Schreiber/Wunder/Dern, VO [EG] Nr 883/2004 [2012] Art 58 Rz 1 mit Verweis auf EuGH C‑64/77 , Torri Rz 13/14).

4. Auch aus dem Günstigkeitsprinzip („Petroni‑Prinzip“) ist kein Anspruch auf die ungekürzte Gewährung des Kinderzuschusses ableitbar:

4.1 Zum Ausgleich für die Vorteile der sozialen Sicherheit, die Wanderarbeitnehmern aus dem Unionsrecht erwachsen und die sie ohne das Unionsrecht nicht erhalten könnten, dürfen Beschränkungen auferlegt werden. Die Anwendung des Koordinierungsrechts darf jedoch nicht dazu führen, dass Arbeitnehmern oder Selbständigen, die von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht haben, die Vorteile der sozialen Sicherheit, die allein aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats bestehen, entzogen oder gekürzt werden (EuGH C‑24/75 , Petroni, Rz 11/13; 10 ObS 6/10w SSV‑NF 24/9; vgl auch EuGH C‑548/11 , Edgar Mulders, Rz 46).

4.2 Da der Kläger keinen Pensionsanspruch allein aufgrund der nationalen Rechtsvorschriften hat, sondern er den Pensionsanspruch zuzüglich des Kinderzuschusses erst durch Anwendung des Koordinierungsrechts der VO (EG) 883/2004 erwirbt, zieht er aus dem Unionsrecht einen Vorteil der sozialen Sicherheit. Im Einklang mit den dargestellten Grundsätzen ist es somit zulässig, diesen Anspruch in dem Sinn zu beschränken, dass der Kläger den Kinderzuschuss lediglich anteilig erhält. Wie die Revisionswerberin zutreffend aufzeigt, kommt es nicht zu der vom „Petroni‑Prinzip“ verpönten Konsequenz einer Schlechterstellung bei der Anwendung einer nationalen Reglung. Da der Kläger keinen Anspruch aus nationalem Recht hat, wird ihm durch die bloß anteilige Gewährung des Kinderzuschusses kein aus dem nationalen Recht erwachsender Vorteil entzogen.

5. In ihrem Art 52 Abs 4 räumt die VO (EG) 883/2004 dem zuständigen Träger unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit ein, auf die Berechnung der anteiligen Leistung zu verzichten. Voraussetzung der Anwendbarkeit des Art 52 Abs 4 der VO (EG) 883/2004 ist ua, dass allein aufgrund der nationalen Rechtsvorschrift ein Anspruch besteht und aufgrund der im nationalen Recht vorgesehenen Berechnungsmethode die nationale Leistung in allen Fällen zumindest gleich hoch ist wie die pro rata temporis‑Leistung (Pöltl in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [7. Lfg] Art 52 Rz 11). Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, weil der Pensionsanspruch des Klägers nach österreichischem Recht mangels Erfüllung der Wartezeit nicht gegeben ist, sondern nur unter Berücksichtigung der in anderen EU‑Mitgliedstaaten erworbenen Versicherungszeiten.

6. Nach Art 52 Abs 5 der VO (EG) 883/2004 wird die anteilige Berechnung nicht auf Systeme angewandt, die Leistungen vorsehen, bei denen Zeiträume für die Berechnung keine Rolle spielen, sofern solche Systeme in den Anhang VIII Teil 2 zur VO (EG) 883/2004 aufgenommen sind. Auch die Anwendung dieser Regelung kommt im vorliegenden Fall nicht in Betracht, weil im Anhang VIII Teil 2 nur Alterspensionen auf Grundlage eines Pensionskontos nach dem Allgemeinen Pensionsgesetz (APG) vom 18. 11. 2004 genannt sind und das APG auf den 1953 geborenen Kläger (der mit 65 Jahren die Alterspension beansprucht) nicht anzuwenden ist (§ 1 Abs 3 APG).

7. Da der Kinderzuschuss nicht von der anteilsmäßigen Berechnung ausgenommen ist, ist der Revision der beklagten Partei dahin Folge zu geben, dass in Abänderung der Entscheidung des Berufungsgerichts das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

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