OGH 7Ob130/19x

OGH7Ob130/19x27.11.2019

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dipl.‑Ing. C***** S*****, vertreten durch Dr. Mag. Georg Prchlik, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei G***** AG, *****, vertreten durch Dr. Herbert Salficky, Rechtsanwalt in Wien, wegen 36.000 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 29. Mai 2019, GZ 4 R 49/19h‑63, mit dem das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 11. März 2019, GZ 24 Cg 64/15t-59, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0070OB00130.19X.1127.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 2.197,80 EUR (darin 366,30 EUR an Umsatzsteuer) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Der Kläger hat mit der Beklagten einen Haushaltsversicherungsvertrag abgeschlossen, dem die Allgemeinen Bedingungen für die Haushaltsversicherung (ABH 2003) zugrundeliegen. Diese lauten auszugsweise:

2.1. Versichert sind folgende Gefahren

[...]

2.1.5.  Beraubung ist die Androhung oder Anwendung tätlicher Gewalt gegen den Versicherungsnehmer, die mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebenden Personen oder berechtigt anwesende dritte Personen, um die Wegnahme versicherter Sachen zu erzwingen.“

Der Kläger verbrachte seinen Sommerurlaub in G***** und wollte seinen Wohnwagen verkaufen. Er annoncierte das Fahrzeug in einer Zeitung, worauf sich eine Interessentin (fortan: Frau P) meldete und für sich und ihren Bruder Interesse am Wohnwagen bekundete. Der Kaufpreis sollte 8.500 EUR betragen. Frau P teilte dem Kläger mit, dass sie kein Bargeld für den Ankauf des Wohnwagens, aber englische Lire Goldmünzen geerbt habe, mit denen sie bezahlen wolle. Da der Kläger die Goldmünzen nicht als Kaufpreis annehmen wollte, erkundigte sich Frau P, ob der Kläger beim Verkauf der Goldmünzen behilflich sein könne. Der vom Kläger kontaktierte Goldschmied wollte die Münzen zum aktuellen Goldtageskurs ankaufen, diese aber auf ihre Echtheit überprüft wissen.

Der Kläger plante daher, bei einem Juwelier vor Ort die Echtheit der Münzen überprüfen zu lassen. Er sollte die Münzen ankaufen und dem ihm bekannten Goldschmied weiterverkaufen. Von dem Bargeld, welches der Kläger Frau P übergeben hätte sollen, wäre dann auch der Kaufpreis für den Wohnwagen zu begleichen gewesen.

Nach dem aktuellen Tageskurs war der Wert der 160 Stück englischen Lire Goldmünzen 36.000 EUR. Der Kläger behob 41.000 EUR bei einer Bank in A***** und traf sich anschließend mit Frau P. Nach einer kurzen Autofahrt insistierte Frau P darauf, unbedingt einen Kaffee trinken zu wollen, wozu sich der Kläger letztlich überreden ließ. Frau P mischte dem Kläger unbemerkt ein nicht näher bestimmbares Betäubungsmittel in den Kaffee. Der Kläger bemerkte nach einiger Zeit, dass sein Reaktionsvermögen zurückging und seine Wahrnehmung stark beeinträchtigt war. Er fühlte sich sehr schlecht, konnte keine eigenen Entscheidungen mehr treffen und hörte willenlos auf die Befehle und Anweisungen von Frau P, die den Kläger auch während der anschließenden Fahrt noch mehrfach mit einem nicht näher bestimmbaren Spray besprühte. Frau P dirigierte den Kläger in eine berüchtigte Gegend A*****, in der sehr viele Überfälle stattfinden. Ein Mann wies den Kläger an, ihm das Geld zu übergeben. Die näheren Umstände dieser Geldübergabe stehen nicht fest. Insbesondere ist nicht feststellbar, ob der Kläger das Geld „freiwillig“ übergeben hat oder ob ihm dieses gewaltsam oder durch Drohung mit einer Waffe abgenötigt wurde. Der Kläger war durch den Einsatz des Betäubungsmittels jedenfalls in einem willenlosen Zustand, der es ihm unmöglich machte, die Situation rational zu beurteilen bzw die Anweisungen von Frau P kritisch zu hinterfragen oder diesen nicht Folge zu leisten. Aufgrund dieses Zustands machte der Kläger alles, was ihm aufgetragen wurde.

Nachdem der Kläger das Geld übergeben hatte, wurde ihm eine Socke zugeworfen, in der sich angeblich die Goldmünzen befinden sollten. Danach entfernten sich Frau P und ihr „Bruder“ rasch. In der Socke waren nicht die vereinbarten Goldmünzen, sondern bloß Cent-Münzen.

Der Kläger suchte noch am Abend des Tattages ein Polizeirevier auf, um den Vorfall anzuzeigen. Er war in einem fürchterlichen körperlichen und seelischen Zustand und wirkte wie ein hypnotisierter, ängstlicher, müder und desorientierter Mensch, der keinen Kontakt mit der Realität hat. Da der Polizeibeamte meinte, mit dem Kläger in diesem Zustand keine Aussage aufnehmen zu können, wurde der Kläger für den nächsten Tag wiederbestellt. Bis zum nächsten Tag hatte sich der Zustand des Klägers nicht sehr verbessert, weshalb sich die Aufnahme der Anzeige schwierig gestaltete.

Der Kläger begehrte von der Beklagten die Zahlung von 36.000 EUR sA, welcher Betrag ihm beim geplanten Verkauf des Wohnwagens abgenommen worden sei.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Es sei zu keinem Einsatz tätlicher Gewalt und somit nicht zur Verwirklichung des versicherten Risikos gekommen.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es führte rechtlich aus, dass Art 2.1.5. ABH 2003 den Begriff des Raubes im Sinn des § 142 StGB vor Augen habe. Die Verabreichung von Betäubungsmitteln mit der Wirkung einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung falle unter den für einen Raub vorausgesetzten Gewaltbegriff, weshalb für den Vorfall Versicherungsschutz bestehe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Es war ebenfalls der Rechtsansicht, dass die Verabreichung betäubender Substanzen eine Anwendung physischer Mittel gegen den Körper darstelle, weshalb die Anforderungen an den Begriff der Beraubung verwirklicht seien. Die Verwendung des Wortes „tätlich“ bewirke keine Beschränkung nur auf Abläufe, bei denen es zu Handgreiflichkeiten komme. Erforderlich sei bloß eine Handlung mit dem Ziel der unmittelbaren Einwirkung gegen den Körper, was bei der Gabe von Betäubungsmitteln zweifelsfrei erfüllt sei.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei, weil keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO vorliege.

Gegen diese Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich die Revision der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Klageabweisung. Hilfsweise stellt die Beklagte auch einen Aufhebungsantrag.

Der Kläger erstattete eine ihm freigestellte Revisionsbeantwortung mit dem Antrag, die Revision der Beklagten nicht zuzulassen, hilfsweise dieser keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil der Fachsenat bisher noch nicht zur über den Einzelfall hinaus bedeutsamen Frage Stellung genommen hat, ob zum Begriffsinhalt der „Beraubung“ als Androhung oder Anwendung tätlicher Gewalt auch der Einsatz von Betäubungsmitteln gehört. Die Revision ist aber nicht berechtigt.

1. Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) sind nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 914 f ABGB) auszulegen, und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung (RS0050063 [T71]; RS0112256 [T10]; RS0017960). Die Klauseln sind, wenn sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen; dabei ist der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung zu berücksichtigen (RS0008901 [insb T5, T7, T87]).

2. Der von der Beklagten in Art 2.1.5. ABH 2003 verwendete Begriff der „Beraubung“ ist keine in österreichischen Gesetzen häufige verwendete Bezeichnung. Der Begriff findet sich im österreichischen Recht nur in eher peripheren Regelungsbereichen und bezieht sich dort bisweilen auf die „Beraubung der persönlichen Freiheit“ (Art 2 Z 5 des Übereinkommens zwischen Österreich und Estland über die Auslieferung und die Rechtshilfe in Strafsachen [BGBl 1928/158]; Art 7 Abs 1 lit 3 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs [BGBl III 2002/180]), aber auch auf die „Beraubung“ von Toten (Art 8 des 2. Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte [BGBl 1982/527]) oder von im Krieg Gefallenen, Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen (Art 2 des Genfer Abkommens zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Heere im Felde [BGBl 1936/166]; Art 15, 16, 18 des Genfer Abkommens zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde vom 12. August 1949 [BGBl 1953/155]). Daraus folgt zunächst, dass allein mit dem Begriff der „Beraubung“ in der österreichischen Rechtssprache kein fest umrissenes, allgemein gebräuchliches Verständnis verbunden ist.

3. In Art 2.1.5. ABH 2003 wird allerdings der Begriff der Beraubung dahin näher definiert, dass es sich dabei um „die Androhung oder Anwendung tätlicher Gewalt“ gegen näher bezeichnete Personen handeln soll. Mit der hier zu klärenden Frage, ob die „Androhung oder Anwendung tätlicher Gewalt“ auch durch die Verabreichung eines Betäubungsmittels verwirklicht wird, hat sich der erkennende Senat inhaltlich bislang noch nicht konkret befasst. In 7 Ob 177/18g findet sich – zur Abgrenzung vom Diebstahl – nur der allgemeine Hinweis, dass „Raub“ nach allgemein gebräuchlichem Wortsinn und Sprachverständnis ein gewisses Maß an Gewalt erfordert. Der hier zu beurteilende Einsatz eines Betäubungsmittels war dort aber nicht Gegenstand der Beurteilung.

4. Im Strafrecht findet sich für den der „Beraubung“ wortnahen Begriff „Raub“ in § 142 Abs 1 StGB eine der Begriffsbeschreibung in Art 2.1.5. ABH 2003 durchaus ähnliche Definition der Tathandlung, die demnach in einem Vorgehen „mit Gewalt gegen eine Person oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ besteht. Der Gewaltbegriff im Sinn des § 142 Abs 1 StGB setzt voraus, dass zumindest nicht unerhebliche physische Kraft zur Überwindung eines wirklichen oder erwarteten Widerstands eingesetzt wird (12 Os 101/07f; vgl auch 7 Ob 177/18g). Nach der Rechtsprechung und nach ganz herrschender Lehre gilt als Gewalt neben der physischen Krafteinwirkung aber auch der Einsatz betäubender Mittel (RS0120379; RS0093295; Eder-Rieder in Höpfel/Ratz, WK2 § 142 StGB Rz 22 mzN; Hintersteininger in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer, Salzburger Kommentar zum StGB13 § 142 Rz 15).

5. Der Fachsenat hat schon mehrfach dahin judiziert, dass Rechtsbegriffe, die in der Rechtssprache eine bestimmte Bedeutung haben, auch in diesem Sinn auszulegen sind. Dies gilt namentlich dann, wenn den zu beurteilenden Rechtsinstituten nach herrschender Ansicht ein unstrittiger Inhalt beigemessen wird und dies gilt auch für die in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen verwendeten Rechtsbegriffe (RS0123773). Dieser Grundsatz kommt auch im vorliegenden Fall zum Tragen:

6. Die Beklagte verwendet zwar den in der österreichischen Rechtssprache wenig gebräuchlichen Begriff „Beraubung“, mit dem allerdings im Kontext der Klausel des Art 2.1.5. ABH 2003 der rechtlich einschlägig besetzte Vorgang des Raubes angesprochen wird. Die dazu in Art 2.1.5. ABH 2003 enthaltene Beschreibung ähnelt sehr der in § 142 Abs 1 StGB definierten Tathandlung, die überdies auch im Alltagssprachgebrauch verankert ist, wonach unter Raub ebenfalls ein Vorgang beschrieben wird, bei dem sich der Täter Eigentum eines anderen widerrechtlich und unter Anwendung oder Androhung von Gewalt in seinen Besitz bringt (vgl Duden-online). In diesem Fall muss daher auch der Gewaltbegriff betreffend den Einsatz betäubender Mittel so verstanden werden, wie er im gegebenen Kontext als Rechtsbegriff einvernehmliche Bedeutung erlangt hat, also auch den Einsatz solcher Mittel einschließen.

7. Der gegenteilige Standpunkt der Beklagten, die allein auf den Begriff „tätlich“ reflektiert und deshalb nach Art 2.1.5. ABH 2003 nur „körperliche“ Gewalt als einschlägig gelten lassen will, überzeugt nicht. Es entspricht gerade nicht dem Zugang eines durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers, dass ein in der Alltagssprache gemeinhin anerkannter, auch den Einsatz betäubender Mittel einschließender Tatvorgang nur anhand eines Begriffsmerkmals („tätlich“) in seinem Bedeutungsumfang erheblich eingeschränkt wird. Außerdem verkennt die Argumentation der Beklagten, dass der Einsatz betäubender Mittel ohnehin auch eine die körperlichen Reaktionsmöglichkeiten einschränkende physische Wirkung äußert, insoweit also durchaus „körperlich“ wirkt (vgl auch dazu Eder-Rieder in Höpfel/Ratz, WK2 § 142 StGB Rz 22).

8. Zusammengefasst folgt daher:

Wie bei der Tathandlung des Raubes nach § 142 Abs 1 StGB – gilt auch nach Art 2.1.5. ABH 2003 die (listige) Verabreichung betäubender Mittel als Gewaltanwendung, weil damit ebenfalls eine auch körperliche Zwangswirkung erzielt wird. Dieses Begriffsverständnis entspricht nach Ansicht des Fachsenats auch jenem eines durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers.

9. Beim Kläger erfolgte der Einsatz eines willensbrechenden Betäubungsmittels mit ganz erheblichen psychischen und physischen Wirkungen, die noch bis zum nächsten Tag anhielten. An der Anwendung von Gewalt im Sinn des Art 2.1.5. ABH 2003 ist daher nicht zu zweifeln. Da bereits die Vorinstanzen zutreffend dem zuvor dargestellten Gewaltbegriff gefolgt sind und daher dem Klagebegehren stattgegeben haben, erweist sich die dagegen erhobene Revision als nicht berechtigt.

10. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO.

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