OGH 7Ob182/19v

OGH7Ob182/19v27.11.2019

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei F***** W***** K*****, vertreten durch Dr. Peter Riedelsberger, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei U***** AG, *****, vertreten durch die MUSEY rechtsanwalt gmbh in Salzburg, wegen monatlicher Rente, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 29. August 2019, GZ 1 R 98/19s‑11, mit dem das Urteil des Landesgerichts Linz vom 27. Mai 2019, GZ 36 Cg 32/18f‑7, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0070OB00182.19V.1127.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil wie folgt zu lauten hat:

„1. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei ab April 2017 bis zum Ableben der klagenden Partei, jedenfalls aber bis März 2037, eine monatliche Rente von 1.049,40 EUR zu bezahlen und zwar die bis zur Rechtskraft fällig gewordenen Beträge binnen 14 Tagen, die weiters fällig werdenden Beträge jeweils im Voraus bis zum Ende des Monats.

2. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 6.361,24 EUR (darin 817,04 EUR an Umsatzsteuer und 1.459 EUR an Barauslagen) bestimmten Kosten zu ersetzen.“

Die beklagte Partei ist weiters schuldig, der klagenden Partei jeweils binnen 14 Tagen die mit 5.202,52 EUR (darin 509,42 EUR an Umsatzsteuer und 2.146 EUR an Barauslagen) bestimmten Kosten ihrer Berufung und die mit 5.062,76 EUR (darin 366,96 EUR an Umsatzsteuer und 2.861 EUR an Barauslagen) bestimmten Kosten der Revision zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Der Kläger hat mit der Beklagten einen Unfallversicherungsvertrag abgeschlossen. In der Versicherungspolizze sind (ua) folgende Versicherungsleistungen vereinbart:

Dem Unfallversicherungsvertrag liegen die Klipp & Klar Bedingungen für die Unfallversicherung 2010 (kurz: UA00) zugrunde. Diese lauten auszugsweise:

„Versicherungsschutz

Was ist versichert? – Artikel 1

Wir bieten Versicherungsschutz, wenn der versicherten Person ein Unfall zustößt. Welche Leistungen und Versicherungssummen vereinbart sind, ist aus der Polizze ersichtlich.

Was gilt als Versicherungsfall? – Artikel 2

Versicherungsfall ist der Eintritt des Unfalles (Artikel 6 – Begriff des Unfalles).

Was ist ein Unfall? – Artikel 6

1. Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.

3. Krankheiten gelten nicht als Unfälle. Übertragbare Krankheiten gelten auch nicht als Unfallfolgen. Dies gilt nicht für … durch Zeckenbiss übertragene Frühsommer-Meningoencephalitis und Lyme-Borreliose im Rahmen der Bestimmungen des Artikel 16 …

Versicherungsleistungen

Was kann versichert werden? – Artikel 7 bis 16

Dauernde Invalidität – Artikel 7

Soweit nichts anderes vereinbart ist, gilt:

1. Voraussetzung für die Leistung:

Die versicherte Person ist durch den Unfall auf Dauer in ihrer körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. …

2. Art und Höhe der Leistung:

2.1. Die Invaliditätsleistung zahlen wir

2.2. Bei völligem Verlust oder völliger Funktionsunfähigkeit der nachstehend genannten Körperteile und Sinnesorgane gelten ausschließlich, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist, die folgenden Invaliditätsgrade:

3. Für andere Körperteile und Sinnesorgane bemisst sich der Invaliditätsgrad danach, inwieweit die normale körperliche oder geistige Funktionsfähigkeit insgesamt beeinträchtigt ist. …

...

5. Varianten der dauernden Invalidität:

8. Berufsunfähigkeit

9. Bergungskosten

10. Garantierte Sofortleistung …

11. Kosmetische Operationen

Lebensrente – Artikel 8

Führt der Unfall zu einer dauernden Invalidität gemäß Artikel 7 von mindestens 50 %, wird unabhängig vom Lebensalter der versicherten Person die volle Unfallrente bezahlt. …

 

Die Lebensrente wird lebenslang, jedoch mindestens 20 Jahre (Garantiedauer), monatlich im Voraus bezahlt. …

Garantiezeitraum:

Die Lebensrente wird lebenslang, jedoch mindestens 20 Jahre (Garantiedauer), monatlich im Voraus bezahlt. Stirbt der Versicherte vor Ablauf der Garantiedauer, so wird die Rente bis zum Ende der Garantiedauer an die Erben – sofern keine andere Vereinbarung getroffen wurde – bezahlt.

Todesfall – Artikel 9

Taggeld – Artikel 10

Taggeld bezahlen wir bei dauernder oder vorübergehender Invalidität. …

Spitalgeld – Artikel 11

1. Spitalgeld bezahlen wir für jeden Kalendertag, an dem sich der Versicherte wegen eines Versicherungsfalles in medizinisch notwendiger stationärer Heilbehandlung befindet.…

Schmerzengeld – Artikel 12

Wird durch einen Unfall – innerhalb von 2 Jahren ab dem Unfalltag – ein ununterbrochener Spitalsaufenthalt von mindestens 7 Tagen notwendig, bezahlen wir für diesen Unfall ein einmaliges Schmerzengeld …

...

Genesungsgeld – Artikel 13

100 % der Versicherungssumme bezahlen wir für jeden Kalendertag, an dem sich die versicherte Person wegen eines Versicherungsfalles in medizinisch notwendiger stationärer Heilbehandlung befindet.

25 % der Versicherungssumme bezahlen wir bei dauernder oder vorübergehender Invalidität für die Dauer der vollständigen Arbeitsunfähigkeit im Beruf oder in der Beschäftigung der versicherten Person. …

...

Unfallkosten – Artikel 14

Knochenbruch – Artikel 15

Kinderlähmung, Frühsommer-Meningoencephalitis, Lyme-Borreliose – Artikel 16

Der Versicherungsschutz erstreckt sich auf die Folgen der Kinderlähmung und der durch Zeckenbiss übertragenen Frühsommer-Meningoencephalitis und Lyme-Borreliose. … Eine Leistung erbringen wir nur für Tod oder dauernde Invalidität.

...“

Im April 2017 erkrankte der Kläger aufgrund eines Zeckenbisses an Frühsommer-Meningoencephalitis. Als Folge dieser Erkrankung leidet der Kläger an einer beinbetonten Tetraparese, einer komplexen Augenmuskellähmung, einer Dysarthrie und einer geringen Dysphagie. Es besteht eine dauernde Invalidität von jedenfalls über 50 %.

Aufgrund dieser Erkrankung erbrachte die Beklagte dem Kläger eine Leistung für dauernde Invalidität gemäß Art 7 UA00, lehnte jedoch die Zahlung einer Lebensrente gemäß Art 8 UA00 ab.

Der Kläger begehrte von der Beklagten aufgrund seiner Erkrankung an Frühsommer-Meningoencephalitis und der daraus resultierenden dauernden Invalidität von über 50 % die Zahlung der Lebensrente gemäß Art 8 UA00 ab April 2017.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wandte ein, dass bei den von Art 16 UA00 erfassten Krankheitsfolgen Deckung nur für die Leistungsarten Tod oder dauernde Invalidität bestehe, nicht aber für die Lebensrente gemäß Art 8 UA00. Der Umstand, dass der Leistungsbaustein Lebensrente an dauernde Invalidität anknüpfe, bedeute nicht, dass sich darauf auch die Leistungspflicht nach Art 16 UA00 erstrecke.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es führte rechtlich aus, bereits aus der Wortfolge in Art 16 UA00 „für Tod und dauernde Invalidität" werde deutlich, dass es sich dabei um die entsprechenden Leistungsbausteine handle, weil es andernfalls, heißen müsste „bei Tod oder dauernder Invalidität". Der Leistungsbaustein „Lebensrente“ laut Art 8 UA00 scheine in Art 16 UA00 nicht auf, weshalb der Kläger nur Anspruch auf Leistung aus dem Leistungsbaustein „Dauernde Invalidität“ habe. Diese Einschränkung auf zwei bestimmte Leistungsarten sei weder ungewöhnlich noch sittenwidrig oder gröblich benachteiligend, weil der Nachteil dieser Eingrenzung vom Vorteil überwogen werde, dass für Fälle wie den vorliegenden überhaupt Versicherungsschutz bestehe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es war der Rechtsansicht, dass die Beklagte – für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer klar erkennbar – in Art 16 UA00 nur ausnahmsweise Deckung für den Krankheitsfall gewähre, und im Gegenzug den Versicherungsschutz auf bestimmte Leistungsarten einschränke. Da die Lebensrente nach Art 8 UA00 in Art 16 UA00 nicht aufscheine, habe der Kläger auf diese keinen Anspruch. Dass diese Leistung an das Vorliegen einer dauernden Invalidität gemäß Art 7 UA00 geknüpft sei, ändere an dieser Beurteilung nichts.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Auslegung der strittigen und über den Einzelfall hinaus relevanten Klausel fehle.

Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Klagestattgebung.

Die Beklagte erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag, die Revision des Klägers zurückzuweisen, hilfsweise das Urteil des Berufungsgerichts zu bestätigen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist auch berechtigt.

1. Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) sind nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 914 f ABGB) auszulegen, und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung (RS0050063 [T71]; RS0112256 [T10]; RS0017960). Die Klauseln sind, wenn sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen; dabei ist der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung zu berücksichtigen (RS0008901 [insb T5, T7, T87]). Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RS0050063 [T3]).

2. Der Versicherungsfall ist nach Art 2 UA00 ein Unfall im Sinn des Art 6.1. UA00. Nach Art 6.3. UA00 erbringt die Beklagte auch in bestimmten, dort näher beschrieben Krankheitsfällen Leistungen „im Rahmen der Bestimmungen des Art 16“ UA00. Nach Art 16 UA00 erstreckt sich der Versicherungsschutz „auf die Folgen“ der dort bezeichneten Krankheiten und die Beklagte erbringt eine Leistung „nur für Tod oder dauernde Invalidität“.

3.  Unter der Überschrift „Versicherungsleistungen“ wird zu Beginn in Art 7 unter der Artikelbezeichnung „Dauernde Invalidität“ zunächst in Art 7.1. UA00 beschrieben, wann eine solche dauernde Invalidität vorliegt und ab Art 7.2. UA00 folgen Beschreibungen von „Art und Höhe der Leistung“. Die Begriffserklärung „Dauernde Invalidität“ in Art 7.1. ist keine Definition, die lediglich für die unmittelbar folgenden Leistungsbeschreibungen maßgeblich wäre, sondern begrifflich über Art 7 UA00 auf weiter folgende „Versicherungsleistungen“ ausstrahlt. Diese weiteren Versicherungsleistungen hängen zum Teil vom Vorliegen einer solchen (vorübergehenden oder dauernden) Invalidität ab (vgl etwa Taggeld – Art 10 UA00), zum Teil werden aber Leistungen gewährt, die lediglich vom Vorliegen eines Unfalls und sonstigen Kriterien abhängen (vgl etwa Spitalgeld – Art 11 UA00) und zum Teil wird eine Leistung im Fall von Invalidität oder bei Vorliegen anderer Voraussetzungen erbracht (vgl etwa Genesungsgeld – Art 13 UA00). Daraus folgt, dass der Begriff „Dauernde Invalidität“ entgegen dem von der Beklagten angestrebten eingeschränkten Verständnis, nicht bloß eine einzelne und selbständige Versicherungsleistung beschreibt, sondern maßgeblicher Anknüpfungspunkt für weitere, in den Art 8 ff beschriebene Versicherungsleistungen ist.

4. Art 16 UA00 ist für die Ermittlung einer im Fall dauernder Invalidität gebührenden Leistung ebenfalls nicht selbsterklärend, muss doch zunächst deren Vorliegen nach der Definition des Art 7.1. UA00 geprüft werden. Ergibt sich dann eine solche dauernde Invalidität infolge einer von Art 16 UA00 erfassten Krankheit, folgt daraus zunächst im Grundsatz Versicherungsschutz, wobei die Beklagte „eine Leistung … nur für Tod oder dauernde Invalidität“ erbringt.

5. Der Leistungsumfang „für Tod oder dauernde Invalidität“ ist entgegen der Ansicht der Beklagten und der Vorinstanzen keine ausreichende und konkret erkennbare Anknüpfung an bestimmte „Versicherungsleistungen“. Es wird in Art 16 UA00 gerade nicht der gegebenenfalls klärende Begriff „Versicherungsleistungen nach Art ...“ verwendet. Art 16 UA00 enthält also keinen konkreten Bezug (Ziffernbenennung) zu einzelnen Artikel jener Bestimmungen (Art 7 ff UA00), in denen die zahlreichen „Versicherungsleistungen“ beschrieben sind. Nicht einmal der Begriff „für Tod“ stimmt mit der Bezeichnung der korrespondierenden Versicherungsleistung „Todesfall“ überein. Ganz entscheidend ist letztlich aber, dass der Begriff „dauernde Invalidität“ gerade eine bestimmende Anspruchsvoraussetzung für weitere „Versicherungsleistungen“ nach den Art 8 ff UA00 bildet, also über Art 7 UA00 hinaus, die Grundlage für die Beurteilung weiterer, von der Beklagten zu erbringende Leistungen ist.

6. Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer, dem ohne weitere Einschränkung eine Leistung „für ... dauernde Invalidität“ zugesagt wird, die aber nicht konkret durch Verweis auf die betreffende Leistungsbeschreibung eingeschränkt ist (hier zB „Leistung nur nach Art 7 UA00“), wird bei weiteren möglichen Versicherungsleistungen, die ebenfalls an das Vorliegen dauernder Invalidität als Anspruchsvoraussetzung anknüpfen, diesen Begriff als eine solche Anspruchsvoraussetzung verstehen. Dies gilt im vorliegenden Zusammenhang auch für die vom Kläger beanspruchte Lebensrente nach Art 8 UA00. Diese Leistung knüpft ausdrücklich an das Vorliegen einer dauernden Invalidität gemäß Art 7 UA00 von mindestens 50 % an, ist in Art 16 UA00 auch nicht erkennbar ausgeschlossen und entspricht daher den berechtigten Deckungserwartungen eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers.

7. Die Revision erweist sich daher als berechtigt. Die tatsächlichen Voraussetzungen für die Leistung nach Art 8 UA00 sind nicht mehr strittig, weshalb dem Klagebegehren stattzugeben war.

8. Der Kostenzuspruch an den Kläger beruht auf § 41 ZPO (für das Rechtsmittelverfahren in Verbindung mit § 50 ZPO). Für die Berufung betrugen die tarifmäßigen Kosten 5.202,52 EUR.

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