OGH 6Ob221/19x

OGH6Ob221/19x27.11.2019

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek, Dr. Nowotny sowie die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Mag. M*, vertreten durch Saxinger Chalupsky & Partner Rechtsanwälte GmbH in Wels, gegen die beklagte Partei S*, vertreten durch Mag. Sabine E. Schuster, Rechtsanwältin in Lenzing, wegen Ehescheidung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Wels als Berufungsgericht vom 18. September 2019, GZ 21 R 125/19k‑20, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E127082

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

1. Es entspricht ständiger Rechtsprechung (jüngst 3 Ob 48/18g mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs), dass es beim Ausspruch nach § 61 Abs 3 EheG nicht darauf ankommt, ob der Kläger einen Scheidungstatbestand verwirklicht hat. Entscheidend ist allein, ob ihm eine Schuld an der Zerrüttung der Ehe anzulasten ist und ob, falls beiden Eheleuten ein Verschulden an der Zerrüttung vorzuwerfen ist, seine Schuld deutlich überwiegt, wobei das Gesamtverhalten der Ehegatten während der Ehedauer zu berücksichtigen ist; maßgebend ist, wer den entscheidenden Beitrag für die unheilbare Zerrüttung der Ehe geleistet hat. Welchem Ehegatten Eheverfehlungen zur Last fallen und welchen das überwiegende Verschulden an der Zerrüttung der Ehe trifft, ist eine Frage des konkreten Einzelfalls, die – von Fällen krasser Fehlbeurteilung abgesehen – nicht als erheblich im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO zu beurteilen ist.

Eine derartige Fehlbeurteilung ist den Vorinstanzen nicht unterlaufen, die die im Jahr 2004 geschlossene Ehe der Streitteile nach § 55 Abs 1 EheG geschieden (dies ist nicht mehr Gegenstand des Revisionsverfahrens) und den Antrag der beklagten Frau, das alleinige bzw überwiegende Verschulden des klagenden Mannes nach § 61 Abs 3 EheG festzustellen, abgewiesen haben.

2. Nach den maßgeblichen Feststellungen der Vorinstanzen fand der letzte gemeinsame Urlaub der Streitteile im Jahr 2006 statt; auch ein gemeinsames Freizeitprogramm gab es lediglich bis 2007. Während bis dahin ein normales Eheleben möglich war, fing es in den Jahren 2007 bzw 2008 an, dass die Beklagte nicht mehr außer Haus gehen wollte; sie wollte keine Leute mehr treffen oder Besuch empfangen. Die Beklagte gab dem Kläger dazu mehrmals zu verstehen, dass sie ihre Schwierigkeiten bzw Probleme selbst in den Griff bekomme; sie benötige keine Therapie. Ursprünglich nahm der Kläger das so hin, war die Beklagte doch seiner Ansicht nach eine starke Persönlichkeit. Die Beklagte meinte, es zu schaffen, und der Kläger unterstützte sie. In Gesprächen der Streitteile kam immer wieder hervor, dass der Zustand der Beklagten unter anderem auf ihr letztes Arbeitsverhältnis im Zeitraum Oktober 2002 bis Mai 2003 gründete, in dem sie ihrer Arbeitgeberin nie etwas recht machen hatte können. Ab 2007 bzw 2008 gestaltete sich das gemeinsame Leben der Streitteile eher eintönig, auch wenn es dabei bessere und schlechtere Phasen gab. In den besseren Phasen schlug der Kläger der Beklagten kleine Spazierrunden vor, worauf sie erwiderte, er solle sie nicht drängen. Schließlich ging die Beklagte allerdings gar nicht mehr außer Haus und hatte eine Panikattacke, wenn ein Termin für einen Besuch angesetzt war.

Die Situation wurde dadurch über die Jahre für den Kläger immer schlimmer. Von einem Bekannten des Klägers, der selbst unter Panikattacken litt, ließ sich der Kläger die Telefonnummer eines Psychologen geben, mit dem er auch telefonisch Kontakt aufnahm, damit dieser mit der Beklagten telefoniert; zu dem Telefongespräch kam es letztlich jedoch nicht. Auch weitere Versuche des Klägers, die Beklagte zu einer professionellen Behandlung bzw Therapie zu animieren, gingen ins Leere. Eine ärztliche Diagnose hinsichtlich des Zustands der Beklagten gibt es nicht; sie wollte auch nicht, dass ein Arzt ins Haus kommt. Einen ärztlichen Kontakt im Haus gegen den Willen der Beklagten brachte der Kläger nicht übers Herz. Er fürchtete, die Beklagte würde ihm dies nicht verzeihen. Im letzten Jahr des Zusammenlebens wurde über die Erkrankung der Beklagten überhaupt nicht mehr gesprochen, weil die Beklagte, die auch launisch war, das nicht mehr wollte.

Im Laufe der Zeit verlor der Kläger den Glauben daran, dass die Beklagte ihre Probleme selbst lösen könnte; Hoffnung hegte er trotzdem noch, weswegen er sie auch nicht verlassen oder an der Situation etwas ändern wollte. Die Beklagte erkennt die Notwendigkeit der Behandlung nicht; ob sie die Fähigkeit besitzt, nach dieser Einsicht zu handeln, steht nicht fest.

Bis in das Jahr 2014 gab es zwischen den Streitteilen körperliche Nähe und Geschlechtsverkehr, zuletzt jedoch schon etwas distanzierter und nicht mehr so liebevoll. Davor hatten die Streitteile regelmäßig (etwa ein- bis dreimal die Woche) Geschlechtsverkehr. Im Jahr 2014 entzweiten sie sich jedoch immer mehr; Geschlechtsverkehr gab es dann keinen mehr. Ferner wurden die Gespräche zwischen den Streitteilen immer weniger, zeitweise wurde gar nicht miteinander gesprochen. Sie lebten nur mehr nebeneinander. Nach der Arbeit setzte der Kläger sich ins Wohnzimmer und aß dort. Die Beklagte war in einem anderen Raum und beschäftigte sich mit dem Tablet; sie kam erst dann ins Wohnzimmer, wenn der Kläger zu Bett ging.

Der Kläger fühlte sich indirekt miteingesperrt, weil die Beklagte nie das Haus verließ. Alleine auf Urlaub wollte er nicht fahren; er wollte auch nicht fortgehen, um den Freunden bezüglich des Fernbleibens der Beklagten nichts vorlügen zu müssen. Der Freundeskreis wurde so immer spärlicher. Die Beklagte äußerte zwar gegenüber dem Kläger, dass er fortgehen und sich eine Freundin suchen solle; dass die Beklagte tatsächlich wollte, dass der Kläger fortgehe und sich eine Freundin suche, steht jedoch nicht fest. Der Kläger sah keinen Weg mehr in die richtige Richtung. Dass sich die Beklagte nicht in Behandlung begeben hat, war für den Kläger der hauptsächliche Grund der Ehekrise.

Im Jänner 2015 schaute sich der Kläger erstmalig um eine andere Wohnung um. Für ihn war das der Zeitpunkt, wo er so nicht mehr weitermachen wollte. Im Februar bzw März 2015 begann über das Internet die eigentliche Suche nach Wohnungen. Er kommunizierte auch der Beklagten, dass er ausziehen müsse. Im April 2015 wurde dem Kläger eine Wohnung zugesagt, der Mietvertrag war auf drei Jahre befristet. Der Kläger besprach mit der Beklagten, dass es sich um einen endgültigen Auszug handle. Für ihn war zu diesem Zeitpunkt die Ehe zu Ende und unheilbar zerrüttet. Er begann im Mai 2015 mit dem Auszug und war ab Juli grundsätzlich nicht mehr in der Ehewohnung.

3. Unheilbare Ehezerrüttung ist dann anzunehmen, wenn die geistige, seelische und körperliche Gemeinschaft zwischen den Ehegatten und damit die Grundlage der Ehe objektiv und wenigstens bei einem Ehegatten auch subjektiv zu bestehen aufgehört haben, wobei es genügt, dass der Kläger die eheliche Gesinnung verloren hat (RS0056832); auch die Frage, wann die unheilbare Zerrüttung der Ehe eintrat, hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab (RS0056832 [T5]). Richtig ist dabei zwar – worauf die außerordentliche Revision der Beklagten hinweist –, dass die Frage, ob und wann eine Ehe objektiv zerrüttet ist, eine auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen nach objektivem Maßstab zu beurteilende Rechtsfrage ist (RS0043423), während die Frage, ob ein Ehegatte die Ehe subjektiv als unheilbar zerrüttet ansieht, zum Tatsachenbereich gehört (4 Ob 193/18p), und dass das Erstgericht lediglich festgestellt hat, dass für den Kläger bei seinem Auszug aus der Ehewohnung die Ehe zu Ende und unheilbar zerrüttet war. Die Auffassung des Berufungsgerichts, dass die Beklagte mit ihrem (durchaus langjährigen) Verhalten den entscheidenden Beitrag für die unheilbare Zerrüttung der Ehe geleistet hat, ist allerdings ebenso wenig zu beanstanden wie seine Ansicht, dass zum Zeitpunkt des Auszugs des Klägers die Ehe auch objektiv zerrüttet war. Den Ausführungen der außerordentlichen Revision, der Kläger habe der Beklagten gegenüber den Anschein erweckt, es handle sich lediglich um eine vorübergehende Trennung, sind die gegenteiligen Feststellungen des Erstgerichts entgegen zu halten.

4. Die Beklagte weist in ihrer außerordentlichen Revision mehrfach auf ihren psychischen Ausnahmezustand hin. Daraus ist für sie allerdings nicht gewonnen: War ein wesentlicher Grund für die Zerrüttung der Ehe das Verhalten des mit einer geistigen Störung (was hier gar nicht feststeht) behafteten Ehegatten, wäre es grob unbillig, dieses Verhalten völlig außer Acht zu lassen und die Ehe auf eine Art zu scheiden, die den auf Scheidung nach § 50 EheG klagenden Ehegatten so stellt, als hätte der andere Ehegatte mit einer auf alleiniges Verschulden des Klägers gestützten Klage Erfolg gehabt. In einem solchen Fall wäre eine einseitige Schuldfestsetzung grob unbillig und hat daher zu unterbleiben (jüngst 4 Ob 193/18p; https://www.ris.bka.gv.at/Ergebnis.wxe?Abfrage=Justiz&Rechtssatznummer=RS0057224&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=True&SucheNachText=False; vgl auch https://www.ris.bka.gv.at/Ergebnis.wxe?Abfrage=Justiz&Rechtssatznummer=RS0057233&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=True&SucheNachText=False ). Auch dies ist eine Einzelfallentscheidung (4 Ob 193/18p) und gilt auch im Zusammenhang mit § 61 Abs 3 EheG.

5. Die Beklagte meint in der außerordentlichen Revision ein Fehlverhalten des Klägers darin erblicken zu können, dass dieser bereits ab Jänner 2015 eine sich intensivierende ständige Beziehung zu einer Jugendfreundin gegen ihren Willen unterhalten habe. Richtig ist zwar, dass Ehegatten im Rahmen der Treuepflicht zur Unterlassung jeglichen Verhaltens verpflichtet sind, das den objektiven Anschein ehewidriger Beziehungen zu erwecken geeignet ist (RS0056151). Die Beklagte übersieht allerdings die Feststellungen der Vorinstanzen, wonach sie den Kläger ausdrücklich aufgefordert hatte, fortzugehen und sich eine Freundin zu suchen. Im Übrigen steht fest, dass diese Jugendfreundin in einer Lebensgemeinschaft mit einem anderen Mann lebt(e) und dass sich der Kläger und die Jugendfreundin weder geküsst haben noch eine sexuelle Beziehung unterhielten. Nach ständiger Rechtsprechung stellt aber ein zwar freundschaftlicher, jedoch harmloser Verkehr mit Personen des anderen Geschlechts keine schwere Eheverfehlung dar, wenn er sich im Rahmen der Sitte und des Anstands hält (RS0056600).

6. Nach § 61 Abs 3 EheG kann ein Verschulden des klagenden Ehegatten nur festgestellt werden, wenn dieses zumindest deutlich überwiegt (RS0057256), also der graduelle Unterschied der beiderseitigen Verschuldensanteile augenscheinlich hervortritt (RS0057251); auch für diese Beurteilung sind die Umstände des Einzelfalls maßgeblich. Stellt man nun das festgestellte jahrelange Verhalten der Beklagten dem Umstand gegenüber, dass der Kläger im Jahr 2015 die Ehewohnung verlassen hat, so kann – mit dem Berufungsgericht – ein derartiger gradueller Unterschied zu Lasten des Klägers nicht erkannt werden. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob der Kläger – wie die Beklagte meint – sie tatsächlich grundlos verlassen hat (vgl 9 Ob 29/15b EF‑Z 2015/124 [A. Tschugguel] = iFamZ 2015/191 [Deixler‑Hübner]: Das Verlassen der Ehewohnung kann trotz der grundsätzlich bestehenden Pflicht zum gemeinsamen Wohnen dann gerechtfertigt sein, wenn es eine entschuldbare Reaktionshandlung auf schwerwiegende Eheverfehlungen des Partners darstellt.).

7. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen lernte der Kläger im Zuge seines Auszugs aus der Ehewohnung seine nunmehrige Lebensgefährtin kennen, wobei ein näherer Kontakt allerdings erst ab Herbst 2015 zustande gekommen ist. Der Oberste Gerichtshof hat in vergleichbarem Zusammenhang bereits mehrfach klargestellt, dass nach der jüngeren Rechtsprechung ein Ehebruch, der erst nach Eintritt der unheilbaren Zerrüttung der Ehe begangen wurde, bei der Verschuldensabwägung und insbesondere in der Frage der Zuweisung eines überwiegenden Verschuldens keine entscheidende Rolle spielt (RS0056900). Nur nach Eintreten der (noch nicht gänzlichen und unheilbaren) Zerrüttung gesetzte Eheverfehlungen sind nicht schlechthin unbeachtlich, weil auch eine schon bestehende Zerrüttung noch vertieft werden kann. Es ist im Einzelfall zu prüfen, ob durch weitere Eheverfehlungen eine solche Vertiefung tatsächlich eingetreten ist, ob also zwischen der Zerrüttung und weiteren Eheverfehlungen ein kausaler Zusammenhang besteht (10 Ob 258/99k; 6 Ob 138/04v) und ob der zunächst schuldtragende Teil das Verhalten seines Ehegatten bei verständiger Würdigung noch als ehezerrüttend empfinden darf (6 Ob 138/04v). Hiefür bieten die Feststellungen– entgegen der von der Beklagten vertretenen Ansicht – jedoch keine Anhaltspunkte. Auch in diesem Zusammenhang argumentiert die Beklagte lediglich mit der – durch die Feststellungen widerlegten – Behauptung, der Kläger habe sich bei seinem Auszug aus der Ehewohnung lediglich eine „Auszeit“ nehmen wollen.

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