OGH 8Ob110/19p

OGH8Ob110/19p18.11.2019

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann‑Prentner und Mag. Korn, den Hofrat Dr. Stefula und die Hofrätin Mag. Wessely‑Kristöfel als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei minderjähriger L*****, vertreten durch Blum, Hagen & Partner Rechtsanwälte GmbH in Feldkirch, gegen die beklagte Partei V*****gesellschaft mbH, *****, vertreten durch Dr. Michael Brandauer, Rechtsanwalt in Feldkirch, wegen 1.036.170,82 EUR sA, Rente (282.751,20 EUR) und Feststellung (10.000 EUR), über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 19. August 2019, GZ 1 R 79/19f‑35, womit das Teil- und Zwischenurteil des Landesgerichts Feldkirch vom 11. März 2019, GZ 56 Cg 96/17y‑31, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0080OB00110.19P.1118.000

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

Der Kläger kam am 29. 10. 2010 in der 31 + 6 Schwangerschaftswoche mittels einer Sectio und mit einem Geburtsgewicht von 2.064 g in einem Landeskrankenhaus zur Welt, dessen Rechtsträger die Beklagte ist. Der Kläger befand sich dort bis 22. 11. 2010 auf der Kinderintensivstation. In der postnatalen Phase erlitt er einen Kernikterus (Synonym: Bilirubinenzephalopathie). Darunter versteht man eine schwere Schädigung des zentralen Nervensystems bei Neugeborenen, ausgelöst durch einen übermäßigen Anstieg von Bilirubin im Blut (Hyperbilirubinämie). Beim Abbau des roten Blutfarbstoffs Hämoglobin entsteht indirektes (unkonjungiertes, wasserunlösliches) Bilirubin, das sich im Blut an Albumin (einen Bluteiweißkörper) bindet, zur Leber gelangt und dort „konjungiert“, dh an eine Säure gekoppelt und wasserlöslich wird (direktes Bilirubin), sodass es in Galle oder Harn ausgeschieden werden kann. Der erhöhte Anfall von indirektem (wasserunlöslichem) Bilirubin führt bei mehr als der Hälfte aller reifen Neugeborenen zur fast immer harmlosen Neugeborenengelbsucht. Ist allerdings für einen zu hohen indirekten Bilirubinspiegel zu wenig Albumin vorhanden, entsteht freies ungebundenes Bilirubin. Indirektes ungebundenes Bilirubin kann die Blut-Hirn-Schranke überwinden und intrazellulär abgelagert werden, wobei insbesondere Nervenzellen im Bereich der Basalganglien, der Hörbahn und der Sehbahn für diese Ablagerungen empfindlich sind. Die medizinischen Maßnahmen bei Neugeborenen zielen daher darauf ab, den weiteren Bilirubin-Anstieg zu vermeiden und zu hohe Bilirubin-Werte zu senken, und zwar unter anderem durch Fototherapie und in schweren Fällen auch durch eine Blutaustauschtransfusion.

Der totale Bilirubin-Spiegel wird durch postnatales Alter, Reife, Dauer der Hyperbilirubinämie und Anstiegsgeschwindigkeit des Bilirubin mitbestimmt. Wesentlich ist die Identifizierung gefährdeter Kinder, bei denen eine Hämolyse, eine Sepsis und/oder eine Hypoalbuminämie (erniedrigter Albuminspiegel) vorliegen. Generell ist die Toleranz der Bilirubinwerte daher vom Fehlen zusätzlicher Risikofaktoren abhängig. Für kranke reife Neugeborene gelten andere Grenzwerte als für gesunde reife Neugeborene. Kranke Neugeborene mit einer Verschiebung des Säure-Basen-Haushalts (Acidose) oder Sepsis, insbesondere jedoch Frühgeborene, weisen sowohl eine schlechte Bindung des Bilirubin als auch ein erhöhtes Risiko für einen Kernikterus auf. Die Frühgeburtlichkeit ist ein zusätzlicher Risikofaktor, da die Leber noch unreife Enzymsysteme aufweist und die Lebensspanne der roten Blutkörperchen verkürzt ist. Auch die Hämolyse führt zu einer Prädisposition höherer Bilirubinwerte. Die Hämolyse bezeichnet eine pathologische Verkürzung der Lebensdauer der roten Blutkörperchen. Neben genetischen und immunologischen Ursachen spielen dabei Infektionen, Temperatur, Veränderungen der Gerinnung und Blutungen eine Rolle. Insbesondere Hämatome und Cephalhämatome bewirken eine raschere Metabolisierung von roten Blutkörperchen im Gewebe – eine Metabolisierung, welche viel rascher stattfindet als im Blutgefäßsystem. Die Konsequenz dieses hämolytischen Prozesses ist ein erhöhter Anfall von Bilirubin.

Unmittelbar nach der Geburt bestand beim Kläger der Verdacht auf eine Lungenhypoplasie. Als sonstige Auffälligkeiten wurden ein vorzeitiger Blasensprung und Hämatome im Bereich des vorderen Thorax sowie Kontrakturen an der oberen Extremität vermerkt. Am 1. 11. zeigte sich eine deutliche Erhöhung der Leberfunktionswerte (Leberzellschädigung); das Bilirubin betrug 9,81 mg/dl. Im Zuge der Erhöhung der Transaminasen kam es auch zu einem Anstieg des direkten Bilirubins. Die Bilirubinerhöhung führte zur Indikationsstellung einer Fototherapie, welche von 1. 11., 20:00 Uhr, bis 3. 11., 8:00 Uhr, und von 3. 11., 20:00 Uhr, bis 4. 11., 22:00 Uhr, durchgeführt wurde.

Ab dem 5. 11. 2010 kam es zu einem deutlichen und anhaltenden Anstieg der Bilirubinwerte. Diese betrugen am 5. 11. um 6:00 Uhr 16 mg/dl, um 20:00 Uhr 18,2 mg/dl. Der höchste Wert war am 6. 11. um 20:57 Uhr mit 20,3 mg/dl zu verzeichnen (BGA Gerät; im Labor 18,2 mg/dl). Am 7. 11. betrugen die Werte im Labor 20,1 und 18,5 mg/dl, am 8. 11. 18,06 mg/dl. Die Werte blieben persistierend hoch bis zum 9. 11. (BGA Gerät am 9. 11. um 5:55 Uhr: 19,6 mg/dl; um 20:18 Uhr: 15 mg/dl; im Labor 18,5 mg/dl). Zeitgleich mit den hohen Bilirubinwerten waren die Serumalbuminwerte deutlich erniedrigt. Am 6. 11. betrug das Serumalbumin 2,1 g/dl. Eine (Infusions‑)Therapie mit 20 %-Human-Albumin wurde durchgeführt, der Wert stieg auf 2,4 g/dl am 7. 11. an, am 8. 11. betrug der Wert 2,3 g/dl.

Im behandelnden Landeskrankenhaus war zum damaligen Zeitpunkt „Richtlinie bzw festgelegt, dass der Grenzwert für eine Blutaustauschtransfusion bei Frühgeborenen bei 18,5 mg/dl liegt“. Bei korrekter Anwendung der dort verwendeten Kurven des National Institute for Health and Clinical Excellence (NHS) erfüllte der Kläger ab dem 7. 11. die Indikation für den Blutaustausch. Der Wert von 18,5 als Grenze wurde in einem Dekurs vermerkt. Bei Anwendung der NHS-Kurven wäre am 7. 11. die Grenze erreicht worden. Bereits an den beiden Vortagen (bspw 6.11.: 18,2 mg/dl) war es zu einem deutlichen Anstieg der Bilirubinwerte gekommen. Bereits am 6. 11. hätten aufgrund der vorliegenden Werte Maßnahmen zur Vorbereitung einer Austauschtransfusion getroffen werden müssen, insbesondere da andere Maßnahmen – wie die Fototherapie aufgrund des Bronze-Baby-Syndroms – nicht mehr möglich bzw – wie die durchgeführte Albumin-Transfusion – nicht auf Dauer erfolgreich waren. Eine Blutaustauschtransfusion hätte im behandelnden Krankenhaus auch am Wochenende durchgeführt werden können. Die Verabreichung einer Blutaustauschtransfusion ist riskant und wird bei Kindern unter 1.500 g sehr defensiv vorgenommen, wobei die Mortalitätsrate je nach Studie ganz unterschiedlich ist (zwischen 0 und 10 %). Die Blutaustauschtransfusion kann auch Auswirkung auf das Gerinnungssystem und den Magen-Darm-Trakt haben. Allerdings war spätestens zum Zeitpunkt 7. 11. 2010 die Blutaustauschtransfusion alternativlos.

Es kann nicht festgestellt werden, ab welcher Dauer der Überwindung der Bluthirnschranke bzw ab welcher Dauer der Überschreitung der Grenzwerte eine tatsächliche Schädigung des Hirns eintritt. Die unterlassene Blutaustauschtransfusion erhöhte aber das Risiko für den Eintritt der beim Kläger vorliegenden Schädigung im Sinn eines Kernikterus erheblich; die Nichtdurchführung der Blutaustauschtransfusion spätestens am 7. 11. 2010 hat in erheblichem Maß dazu beigetragen, dass der Kernikterus beim Kläger eingetreten ist. Keinesfalls wäre die Blutaustauschtransfusion im konkreten Fall für die nachteiligen Folgen, also den Kernikterus, mit größter Wahrscheinlichkeit unwesentlich geblieben.

Der erlittene Kernikterus äußert sich beim Kläger in schwersten Defiziten im Bereich der Grob- und Feinmotorik, in den Bereichen Aufmerksamkeit, Konzentration, Körperwahrnehmung und Handlungssteuerung sowie der Koordination, in einer schwersten kognitiven Beeinträchtigung, in schwersten Defiziten im Bereich der Handlungsplanung, der visuell-räumlichen Wahrnehmung, der Hörleistung und auditiven Wahrnehmung, der sprachlichen Entwicklung und der Kommunikation sowie der Interaktionsfähigkeit und damit des Sozialverhaltens, weiters in einer beeinträchtigten Sehleistung, Schluckstörungen, Beeinträchtigung der Nahrungszufuhr, in Zahnschmelzdefekten sowie einer ausgeprägten neuroorthopädischen Beeinträchtigung mit konsekutiver Hilfsmittelversorgung. Beim Kläger besteht keine Aussicht auf Heilung oder Besserung, das Ausmaß der Defizite kann sich im Gegenteil in der Zukunft noch aggravieren.

Der Kläger begehrt von der Beklagten eine Schadenersatzzahlung von 1.036.170,82 EUR sA, die Zahlung einer monatlichen Rente von 7.854,20 EUR ab 30. 11. 2016 sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle zukünftigen aus dem erlittenen Kernikterus resultierenden Schäden. Beim Kläger seien neben der Frühgeburtlichkeit zahlreiche weitere Risikofaktoren für einen Kernikterus vorhanden gewesen, die den behandelnden Ärzten bekannt gewesen seien. Daher sei er in eine höhere Risikogruppe gefallen und damit in den untersten Grenzbereich der diversen Richtlinien und Empfehlungen zur Anwendung einer Austauschtransfusion. Die Ärzte hätten aber fälschlicherweise zu hohe Grenzwerte angenommen und zudem die gemessenen Werte falsch berechnet, indem sie vom (allein relevanten) Gesamtbilirubinwert den direkten Bilirubinwert abgezogen hätten. Sie seien somit irrtümlich stets zu einem zu niedrigen Messwert gelangt und hätten daher das Überschreiten des vom Krankenhaus selbst gesetzten Grenzwerts von 18,5 mg/dl an mehreren Tagen nicht bemerkt. Aufgrund dieser Fehler hätten sie es verabsäumt, die Blutaustauschtransfusion durchzuführen, was schließlich beim Kläger zum Kernikterus geführt habe. Die Eltern des Klägers seien in diesem Zusammenhang dahingehend falsch aufgeklärt worden, dass ein Blutaustausch erst ab einem Gesamtbilirubinwert von25–30 mg/dl notwendig wäre.

Die Beklagte bestreitet das Klagebegehren. Die diversen medizinischen Leitlinien und Literaturangaben hätten im Jahr 2010 zu Bilirubinhöchstgrenzwerten bzw einer Blutaustauschgrenze unterschiedliche und vor allem nicht bindende Werte vorgesehen. Es habe daher keine verbindlichen Standards für Bilirubingrenzwerte gegeben, die zwingend einzuhalten gewesen wären. Der von den Ärzten der Beklagten herangezogene Grenzwert von 18,5 mg/dl sei ein reiner interner (aus dem US-Raum stammender) Eigenrichtwert gewesen, dessen Überschreitung keinen medizinischen Sorgfaltspflichtverstoß bedeute. Da eine konkret verbindliche Behandlungsmaxime für die Ärzte der Beklagten nicht bestanden habe, könne kein Kunstfehler vorliegen. Die Ärzte hätten mit den Eltern des Klägers besprochen und abgestimmt, dass eine Blutaustauschtransfusion nicht durchgeführt werde. Hilfsweise wurde vorgebracht, dass die Eltern aus der Sicht ex ante ab 5. 11. 2010 einer Blutaustauschtransfusion beim Kläger bei der dargestellten Risikolage und im Vergleich mit den Chancen und Risiken insbesondere der durchgeführten Fototherapie und Humanalbumin-Infusionstherapie nicht zugestimmt hätten.

Das Erstgericht sprach mit Teil- und Zwischenurteil aus, dass das Leistungsbegehren von 1.036.170,82 EUR sA dem Grunde nach zu Recht bestehe, und gab dem Feststellungsbegehren statt.

Über den eingangs zusammengefasst angeführten Sachverhalt hinaus ging es von folgenden Feststellungen aus:

Gemäß den im Jahre 2010 geltenden Grenzen sollte eine Austauschtransfusion bei einem totalen Serum Bilirubin von 15–18 [mg/dl] in der Schwangerschaftswoche 32 + 0 bis 33 + 6 durchgeführt werden, bei einem totalen Bilirubinwert von 17–19 mg/dl in der Schwangerschaftswoche von 34 + 0 bis 34 + 7. Dabei sollte der niedrigere Wert bei Kindern zur Anwendung gelangen, welche niedrige Albuminwerte (unter 2,5 g/dl) aufweisen oder einen raschen Anstieg des Bilirubins zeigen, welcher durch eine Hämolyse hervorgerufen wurde oder bei klinisch instabilen Kindern.

Von den Ärzten der Beklagten wurde eine Blutaustauschtransfusion niemals gegenüber den Eltern des Klägers in den Raum gestellt. Vielmehr wurde der Mutter des Klägers mitgeteilt, dass die Bilirubinwerte erst im Bereich zwischen 25 und 30 mg/dl gefährlich werden würden und dass diese Grenze nicht erreicht sei, aber der weitere Verlauf beobachtet würde.

Weiters stellte das Erstgericht (disloziert) fest, dass der hinsichtlich des Klägers anzuwendende Grenzwert für eine Blutaustauschtransfusion wohl eher unter 18,5 mg/dl gelegen wäre, dennoch dieser Wert auch im Falle des Klägers und trotz seiner zahlreichen Risikofaktoren probat gewesen wäre, und dass der konjugierte Bilirubinwert [bei Ermittlung des der Therapieentscheidung zugrundezulegenden Werts] nicht abzuziehen ist.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, dass die [Ärzte der] Beklagten nach den Feststellungen die in Anbetracht des Alters und Zustands des Klägers (zu) hohen Bilirubinwerte (zu) wenig kritisch eingeschätzt hätten. Es hätte spätestens am 7. 11. 2010 eine Blutaustauschtransfusion vorbereitet und in weiterer Folge durchgeführt werden müssen. Da dies die Ärzte der Beklagten jedoch unterlassen hätten, habe sich die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, nämlich eines Kernikterus, nicht unwesentlich erhöht.

Das Berufungsgericht hob das Ersturteil auf und und verwies die Rechtssache zur allfälligen ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. Dabei hielt es die von der Beklagten erhobene Verfahrensrüge und überwiegend auch die Beweisrüge für nicht berechtigt, hegte aber Bedenken an der vom Erstgericht getroffenen Feststellung über die im Jahr 2010 geltenden Grenzen, ab wann eine Austauschtransfusion vorzunehmen gewesen sei. Diese Feststellung sei ungenau, weil vom Sachverständigen umfangreich dargestellt worden sei, dass im Jahr 2010 in der medizinischen Literatur unterschiedliche Bandbreiten vertreten worden seien, ab wann eine Blutaustauschtransfusion durchzuführen sei, und dass es damals keine internationale Richtlinie gegeben habe. Es sei aber für die Beurteilung des Anlassfalls nicht relevant, welche Bandbreiten in der wissenschaftlichen Literatur im Jahre 2010 genannt worden seien. Des Weiteren äußerte das Berufungsgericht Bedenken an der Feststellung, dass die Ärzte der Beklagten gegenüber den Eltern des Klägers eine Blutaustauschtransfusion nie in den Raum gestellt hätten. Einer Korrektur dieser Feststellung bedürfe es aber nicht, weil sie für die Entscheidung nicht wesentlich sei. Rechtlich relevant sei vielmehr, ob die Eltern des Klägers einer Blutaustauschtransfusion nicht zugestimmt hätten, wenn sie über die Notwendigkeit dieser Behandlungsmaßnahme aufgeklärt worden wären.

In rechtlicher Hinsicht gelangte das Berufungsgericht zu dem Schluss, dass nicht der gegebene oder nicht gegebene einheitliche Stand der medizinischen Wissenschaft im Jahr 2010 entscheidungswesentlich sei, sondern der Umstand, dass im Krankenhaus am Tag des Vorfalls „Richtlinie bzw festgelegt“ gewesen sei, dass der Grenzwert für eine Blutaustauschtransfusion bei Frühgeborenen bei 18,5 mg/dl liege. Dabei ging es davon aus, dass das Krankenanstaltenrecht, insbesondere § 32 VbgSpG, die Erteilung fachlicher Weisungen des Abteilungsleiters (nicht aber des ärztlichen Leiters) an seine nachgeordneten Ärzte erlaube. Bei der in der Krankenanstalt der Beklagten zum maßgeblichen Zeitpunkt festgelegten Richtlinie handle es sich um eine fachliche Weisung des Leiters der Abteilung an die nachgeordneten Ärzte, an die die den Kläger behandelnden Ärzte gebunden gewesen seien. Aufgrund seiner Eigenständigkeit sei der Arzt allerdings verpflichtet, die Weisungen seines Vorgesetzten zu überprüfen. Der hierfür wesentliche Maßstab seien die Regeln der ärztlichen Kunst. Widerspreche eine fachliche Weisung nach Meinung des untergeordneten Arztes den Regeln der ärztlichen Kunst, so sei er verpflichtet, dies seinem Vorgesetzten mitzuteilen. Umgelegt auf den Anlassfall bedeute dies, dass die den Kläger behandelnden Ärzte ab Erreichen des vom Abteilungsleiter festgesetzten Grenzwerts von 18,5 [mg/dl] die Blutaustauschtransfusion hätten vornehmen müssen, zumal diese Maßnahme entsprechend den Feststellungen ohne Alternative gewesen sei. Darüber hinaus sei die Weisung vom Leiter der Abteilung nicht willkürlich erteilt worden, sondern aufgrund einer Empfehlung der zeitnah erschienenen Studie des NHS. Die Weisung sei daher durch neueste wissenschaftliche Erkenntnisse gedeckt gewesen. An der Abteilung, an der der Kläger zur maßgeblichen Zeit behandelt worden sei, habe somit die Weisung des Abteilungsleiters als Regel der ärztlichen Kunst gegolten, an die sich die behandelnden Ärzte zu halten hatten. Sofern die behandelnden Ärzte Zweifel an der Durchführung der Blutaustauschtransfusion gehabt hätten, wären sie gehalten gewesen, Rücksprache mit dem Leiter der Abteilung oder seinem Vertreter zu halten und mit diesem die weitere Vorgangsweise zu klären. Keinesfalls hätten sie unter Übergehung der Weisung allein entscheiden dürfen, die Blutaustauschtransfusion nicht vorzunehmen.

In jedem Fall wären die Ärzte darüber hinaus verpflichtet gewesen, die Eltern des Klägers konkret über die bestehende Weisung zu informieren, und sie über die genauen Risiken der Vornahme oder des Unterbleibens der Blutaustauschtransfusion aufzuklären (gesteigertes Mortalitätsrisiko auf der einen Seite und Gefahr eines Kernikterus auf der anderen Seite), um den Eltern eine Entscheidungsgrundlage zu bieten.

Schließlich sei den behandelnden Ärzten noch die falsche Berechnung des Grenzwerts für eine Blutaustauschtransfusion vorzuwerfen. Es habe damals dem Stand der Wissenschaft entsprochen, vom totalen Serum Bilirubin auszugehen und nicht den Wert des direkten Bilirubins vom Gesamtbilirubinwert abzuziehen.

Zusammenfassend sei daher festzuhalten, dass die behandelnden Ärzte des Klägers gegen Sorgfaltspflichten verstoßen hätten, weil sie sich bei ihrer Entscheidung, die Blutaustauschtransfusion nicht durchzuführen, über eine für sie geltende Regel der ärztlichen Kunst hinweggesetzt hätten, was ein pflichtgemäßer Durchschnittsarzt in ihrer Situation nicht getan hätte. Darüber hinaus sei ihnen durch die Anwendung einer falschen Berechnungsmethode ein Diagnosefehler unterlaufen und hätten sie in ihre Entscheidung die Eltern des Klägers nicht eingebunden, worin

ein Aufklärungsfehler zu erblicken sei.

Stehe ein ärztlicher Behandlungsfehler fest und sei es unzweifelhaft, dass die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts durch den ärztlichen Kunstfehler nicht bloß unwesentlich erhöht worden sei, habe der Belangte zu beweisen, dass die ihm zuzurechnende Sorgfaltsverletzung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht kausal für den Schaden des Patienten gewesen sei. Es kehre sich folglich die Beweislast für das (Nicht-)Vorliegen der Kausalität um. Ausgehend von der Sachverhaltsgrundlage habe der Kläger den ihm obliegenden, erleichterten Kausalitätsbeweis erbracht, die Beklagte aber nicht nachgewiesen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts durch die Fehler ihrer Ärzte nicht oder bloß unwesentlich erhöht worden sei.

Damit stünden als Haftungsgrundlage die Sorgfaltspflichtverletzung, die Kausalität für den Schaden und das Verschulden (§ 1298 ABGB) fest. Dennoch sei die Rechtssache noch nicht zur Entscheidung über den Grund des Anspruchs reif, weil das Erstgericht das Vorbringen der Beklagten nicht berücksichtigt habe, dass die Eltern des Klägers – aus der Sicht ex ante – eine Blutaustauschtransfusion beim Kläger ab 5. 11. 2010 bei der dargestellten Risikolage und im Vergleich zu den Chancen und Risiken der durchgeführten Foto- und Humanalbumin-Infusionstherapie abgelehnt und nur letzterer Therapie zugestimmt hätten. Wäre erwiesen, dass die Eltern des Klägers einer Blutaustauschtransfusion nicht zugestimmt hätten, dann würde die Beklagte nicht haften. Für eine abschließende rechtliche Beurteilung über den Anspruchsgrund bedürfe es daher einer Feststellung über die hypothetische Entscheidung der Eltern des Klägers und damit im Zusammenhang stehend auch ergänzender Feststellungen über die Entscheidungsgrundlagen, die den Eltern tatsächlich zur Verfügung gestanden seien bzw bei umfassender Aufklärung zur Verfügung gestanden wären.

Das Berufungsgericht ließ den Rekurs an den Obersten Gerichtshof zu. Es fehle Rechtsprechung zur Frage, wie eine in der Abteilung einer Krankenanstalt vorgegebene Richtlinie rechtlich einzuordnen sei, ob und inwieweit die Ärzte dieser Abteilung an eine solche Richtlinie gebunden seien und ob die Missachtung einer solchen Richtlinie als Sorgfaltspflichtverletzung anzusehen sei.

Rechtliche Beurteilung

Der [richtig] Rekurs der Beklagten, mit dem sie eine Klageabweisung, hilfsweise eine Aufhebung in die zweite Instanz anstrebt, ist zur Klarstellung zulässig; er ist im Ergebnis aber nicht berechtigt.

1.1 Ein Spitalsärzten anzulastendes Fehlverhalten bei der Behandlung des Patienten liegt dann vor, wenn diese nicht nach Maßgabe der ärztlichen Wissenschaft und Erfahrung vorgegangen sind oder die übliche Sorgfalt eines ordentlichen, pflichtgetreuen Durchschnittsarztes in der konkreten Situation vernachlässigt haben (RIS‑Justiz RS0038202). Die Behandlung muss also entsprechend den Grundsätzen der medizinischen Wissenschaft und den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgen. Der Arzt handelt nicht fahrlässig, wenn die von ihm gewählte Behandlungsmethode einer Praxis entspricht, die von angesehenen, mit dieser Methode vertrauten Medizinern anerkannt ist, selbst wenn ebenfalls kompetente Kollegen eine andere Methode bevorzugt hätten. Eine Behandlungsmethode kann grundsätzlich so lange als fachgerecht angesehen werden, wie sie von einer anerkannten Schule medizinischer Wissenschaft vertreten wird (vgl auch RS0026324; 7 Ob 321/00g; 8 Ob 525/88 mwN).

Der Maßstab für Sorgfalt und Fachkunde eines Arztes bestimmt sich nach dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft zur Zeit der Behandlung (vgl RS0123136 [T2]; Juen, Arzthaftungsrecht2, 165; Pitzl/Huber/Lichtenegger, Der Sorgfaltsmaßstab des behandelnden Arztes „Wissen, Können und Bemühen“, RdM 2007/2 [4]).

Ob ein ärztlicher Kunstfehler vorliegt, ist Tatfrage (RS0026418 [T4]).

1.2.1 Im konkreten Fall ist zu klären, welche Bedeutung medizinischen Leitlinien bei der Ermittlung des medizinischen Standards („state of the art“) zukommt:

Richtlinien oder Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften oder anderer Expertengremien sind – wie die Beklagte selbst mehrfach betont – regelmäßig rechtlich unverbindlich (siehe dazu ausführlich Kopetzki, Behandlung auf dem „Stand der Wissenschaft“, in Pfeil, Finanzielle Grenzen des Behandlungsanspruchs [2010] 31 ff mwN; Neumayr in Neumayr/Resch/Wallner, Gmundner Kommentar zum Gesundheitsrecht [2016] ABGB Einleitung Rz 84). Allerdings können solche Richt- oder Leitlinien der Konkretisierung und Feststellung des aktuellen medizinischen Standards dienen (Neumayr aaO; Kopetzki aaO 34 f; in diesem Sinn auch 3 Ob 106/06v: Kommissionsrichtlinien als Mittel zur „Erforschung des Stands der Wissenschaft“). Damit sind sie – wie Kopetzki (aaO 35) bemerkt – Beweismittel zur Feststellung des haftungserheblichen Standards. Die Missachtung einer anerkannten und auf den konkreten Fall anwendbaren Leitlinie kann prima facie zur Annahme eines Behandlungsfehlers führen. Umgekehrt entsteht durch das Befolgen der Leitlinie ein Indiz für ein pflichtgemäßes Handeln des Arztes (Kopetzki aaO 35; Juen aaO 222 f).

Leitlinien dürfen aber weder unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden noch können sie ein Sachverständigengutachten ersetzen (Neumayr aaO Rz 26; Juen aaO 222; so auch BGH VI ZR 57/07; VI ZR 382/12). Es handelt sich um abstrakte Regeln, die auf die jeweiligen besonderen Umstände umgelegt werden müssen. Nicht nur der konkrete Einzelfall mag ein von der Leitlinie abweichendes Vorgehen erfordern, auch der Leitlinie selbst kann der Standardbezug, die Repräsentativität oder die Aktualität fehlen. Schließlich können konkurrierende Richtlinien auf einen „Korridor“ zulässiger Vorgangsweisen hinweisen, innerhalb dessen der Arzt ein „therapeutisches Ermessen“ hat (zu all diesen Aspekten wiederum ausführlich Kopetzki aaO 35 f; siehe auch Hart, Ärztliche Leitlinien – Definitionen, Funktionen, rechtliche Bewertungen, MedR 1998, 8 [12 ff]).

Der Schritt vom allgemeinen Standard zum individuellen Fall bedarf damit einer individuell-sachverständigen Beurteilung (Hart aaO [12]). Dabei muss sich der Sachverständige mit den in Betracht kommenden medizinischen Leitlinien inhaltlich auseinandersetzen und eine allfällige Abweichung für den zu beurteilenden Einzelfall begründen (Kopetzki aaO 35).

1.2.2 Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass von wissenschaftlichen Fachgesellschaften herausgegebene medizinische Leitlinien (Clinical Practice Guidelines) in Zusammenschau mit einem Sachverständigengutachten als Mittel zur Erforschung des maßgeblichen medizinischen Standards bzw der gebotenen Sorgfalt dienen können. Für sich allein entfalten diese Behandlungsleitlinien allenfalls Indizwirkung für den Stand der medizinischen Wissenschaft, treten aber nicht an die Stelle eines Sachverständigengutachtens und ersetzen nicht die erforderliche Feststellung eines lege artis Vorgehens bzw eines ärztlichen Fehlverhaltens im konkreten Fall.

2.1 Ausgehend von diesenAusführungen muss nicht auf die zum damaligen Zeitpunkt auf der Kinderintensivstation des behandelnden Landeskrankenhauses via Direktive des ärztlichen Leiters etablierten Empfehlungen des National Institute for Health and Clinical Excellence (NHS) abgestellt werden, ergibt sich doch schon aus dem festgestellten Sachverhalt in concreto – losgelöst von diesenEmpfehlungen – ein ärztliches Fehlverhalten. Die Frage, inwieweit über den Stand der medizinischen Wissenschaft hinausgehende Direktiven oder Standards in einer Krankenanstalt Bestandteil des Behandlungsvertrags wurden bzw Schutzwirkung entfalten, bedarf hier also keiner Beantwortung.

2.2 Im vorliegenden Fall hat sich der vom Erstgericht beigezogene Sachverständige mit den im Jahr 2010 in der wissenschaftlichen Literatur und in Practice Guidelines bzw Behandlungsempfehlungen unterschiedlich angegebenen Grenzwerten bzw deren Bandbreiten für die Blutaustauschtransfusion ausführlich auseinandergesetzt. Angesichts der beim Kläger bestehenden zahlreichen Risikofaktoren (Frühgeburtlichkeit und damit assoziierte Symptome, Leberzellschädigung, Hämolyse aufgrund zahlreicher Hämatome, niedriger Albuminspiegel, Erhalt von Bluttransfusionen ua) ist er zu dem Ergebnis gelangt, dass beim Kläger die Austauschgrenze jedenfalls am 7. 11. erreicht war und auch am 8. 11. und 9. 11. vorlag. Er hat überdies wiederholt zu der von der Beklagten ins Treffen geführten Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) aus dem Jahr 2010 (Beilage ./28) Stellung bezogen und erklärt, dass der von der Beklagten nach dieser Richtlinie errechnete Wert von 22 mg/dl nicht für den Kläger – einen kranken Frühgeborenen mit multiplen weiteren Risikofaktoren – galt. Der Erstrichter hat sich in seiner Entscheidung den Ausführungen des Sachverständigen angeschlossen und festgestellt, dass der Kläger ab 7. 11. die Indikation für den Blutaustausch erfüllte und bereits am Vortag Maßnahmen zur Vorbereitung einer Austauschtransfusion hätten getroffen werden müssen, insbesondere weil andere Maßnahmen (wie die Fototherapie aufgrund des Bronze-Baby-Syndroms) nicht mehr möglich und (wie die durchgeführte Albumin-Transfusion) nicht auf Dauer erfolgreich waren. Die in der Beweiswürdigung dislozierten Feststellungen stellen klar, dass der Grenzwert von 18,5 mg/dl hinsichtlich des Klägers „probat“ bzw in dessen Fall anzuwenden war. Weiters steht fest, dass spätestens zum Zeitpunkt 7. 11. 2010 die Blutaustauschtransfusion alternativlos war. Diese Feststellungen hat das Berufungsgericht übernommen. Auf verschiedene Bandbreiten, die im Jahr 2010 abstrakt bestanden haben mögen, kommt es damit aber nicht mehr an, weil der hier aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls einzuhaltende Grenzwert überschritten wurde. Dass – wie das Berufungsgericht vermutet – die medizinischen Leitlinien im Jahr 2010 international betrachtet keinen einheitlichen Grenzwert für die Vornahme einer Blutaustauschtransfusion festgelegt haben, hat das Berufungsgericht daher letztlich zu Recht für bedeutungslos gehalten.

2.3 Die Beklagte stützt sich im Rekurs nach wie vor darauf, dass sich aus der AWMF-Leitlinie ein für den Kläger maßgeblicher Grenzwert von 22 mg/dl und eine ärztliche Handlungsfreiheit bis zu diesem Grenzwert ergäbe. Diese Argumentation setzt sich jedoch über die Feststellung hinweg, dass der für den Kläger probate Grenzwert (von Bilirubin im Blutserum) 18,5 mg/dl betrug und spätestens zum Zeitpunkt 7. 11. die Blutaustauschtransfusion alternativlos war. Das Erstgericht hat dazu in seiner Beweiswürdigung unmissverständlich ausgeführt, dass der „Hinweis der Beklagten auf die AWMF-Leitlinie und deren Interpretation, dass beim Kläger eine Blutaustauschtransfusionsgrenze von 22 mg/dl anzuwenden gewesen wäre, ... vom Sachverständigen an mehreren Stellen entkräftet (wird), da es sich beim Kläger eben gerade nicht um ein reifes bzw gesundes Kind gehandelt hat, wovon allerdings die Addition um 10 mg/dl abhängt“. Damit ist dem – ausschließlich auf die AWMF-Leitlinie gegründeten – Einwand der Beklagten, die Nichtdurchführung des Blutaustauschs wäre im Jahr 2010 beim Kläger ebenfalls medizinisch vertretbar gewesen, der Boden entzogen.

2.4 Da das Erstgericht – auf Basis des die zum damaligen Zeitpunkt bestehenden medizinischen Leitlinien bzw Empfehlungen, insbesondere auch der AWMF, analysierenden Gutachtens – eine individuelle Fehleinschätzung der Situation durch die behandelnden Ärzte festgestellt hat, ist ein der Beklagten anzulastender Behandlungsfehler zu bejahen.

3.1 Mangels Relevanz eines allfälligen in der wissenschaftlichen Literatur genannten einheitlichen Grenzwerts im konkreten Fall bildet die teilweise Nichterledigung der Beweisrüge keinen Mangel des Berufungsverfahrens.

Auch die in diesem Zusammenhang gerügten sekundären Feststellungsmängel liegen nicht vor: Wenn zu einem bestimmten Thema – wie hier zu dem konkret für den Kläger anzuwendenden und eine Behandlungspflicht auslösenden Grenzwert – Tatsachenfeststellungen getroffen wurden, mögen diese auch von den Vorstellungen des Rechtsmittelwerbers abweichen, können diesbezüglich keine rechtlichen Feststellungsmängel geltend gemacht werden (RS0053317 [T1]).

3.2 Dass das Berufungsgericht Bedenken an der Feststellung hegte, dass die Ärzte der Beklagten gegenüber den Eltern des Klägers eine Blutaustauschtransfusion nie in den Raum stellten, ist insofern bedeutungslos, als auch das Berufungsgericht jedenfalls davon ausgegangen ist, dass darüber kein ordnungsgemäßes Aufklärungsgespräch, insbesondere über deren Notwendigkeit, stattgefunden hat, einerseits weil es seiner Entscheidung einen Aufklärungsfehler der behandelnden Ärzte zugrunde gelegt hat und andererseits weil sich andernfalls die Frage nach dem rechtmäßigen Alternativverhalten erübrigen würde. Richtig hat das Berufungsgericht erkannt, dass das Erstgericht den von der Beklagten erhobenen Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens nicht berücksichtigt und keine Feststellungen zu diesem Thema getroffen hat. Hätten die Eltern des Klägers der Blutaustauschtransfusion bei ausreichender Aufklärung über deren Chancen und Risiken nicht zugestimmt, entfiele die Haftung der Beklagten (vgl RS0111706).

3.3 Schließlich rügt die Beklagte, es würden Feststellungen zur „Notwendigkeit der überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Nichtschadenseintritts bei pflichtgemäßen Verhalten“ fehlen.

Wurde die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts durch einen ärztlichen Kunstfehler nicht bloß unwesentlich erhöht, obliegt dem Arzt beziehungsweise dem Rechtsträger des Krankenhauses der Beweis dafür, dass im konkreten Fall das Fehlverhalten mit größter Wahrscheinlichkeit für den Schaden unwesentlich geblieben wäre (RS0026768 [T10]).

Hier steht fest, dass die Nichtdurchführung der Blutaustauschtransfusion spätestens am 7. 11. 2010 in erheblichem Maß dazu beigetragen hat, dass der Kernikterus beim Kläger eingetreten ist. Keinesfalls wäre die Blutaustauschtransfusion im konkreten Fall für die nachteiligen Folgen, also den Kernikterus, mit größter Wahrscheinlichkeit unwesentlich geblieben.

3.4 Im Ergebnis war dem Rekurs der Beklagten daher nicht Folge zu geben.

4. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens gründet sich auf § 52 ZPO.

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