OGH 7Ob147/18w

OGH7Ob147/18w26.9.2018

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj M* N*Z*, geboren am * 2014, und des mj L* N*Z*, geboren am * 2015, wegen Obsorge, Mutter Mag. A* N*, vertreten durch Dr. Annemarie Stipanitz‑Schreiner und Dr. Judith Kolb, Rechtsanwältinnen in Graz, Vater Dr. B* Z*, vertreten durch Mag. Volker Flick und Mag. Eva Flick, Rechtsanwälte in Graz, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 12. Juni 2018, GZ 2 R 137/18h‑29, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Graz‑Ost vom 23. April 2018, GZ 226 Ps 39/17k‑23, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:E122957

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

 

Begründung:

Das Erstgericht sprach aus, dass die Obsorge für die beiden minderjährigen Kinder (geboren 2014 und 2015) in Hinkunft beiden Eltern gemeinsam zukommt.

Das Erstgericht stellte fest, dass die Eltern mit den Kindern im gemeinsamen Haushalt leben, mit den Kindern regelmäßig gemeinsame Ausflüge sowie „andere Unternehmungen im Familienrahmen“ durchführen und zwischen den Eltern eine regelmäßige Kommunikation, insbesondere über Belange der gemeinsamen Kinder, stattfindet. Rechtlich war das Erstgericht der Ansicht, dass das für die gemeinsame Obsorge notwendige Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit der Eltern vorliege, weshalb die gemeinsame Obsorge dem Kindeswohl entspreche.

Das Rekursgericht teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts und gab daher dem Rekurs der Mutter, die die Alleinobsorge anstrebt, nicht Folge. Es sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs mangels der Voraussetzungen nach § 62 Abs 1 AußStrG nicht zulässig sei.

Gegen den Beschluss des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs der Mutter mit dem Antrag auf Abänderung dahin, dass ihr künftig die alleinige Obsorge zukomme; hilfsweise stellt die Mutter auch einen Aufhebungsantrag.

Der Vater erstattete eine ihm freigestellte Revisionsrekursbeantwortung mit dem Antrag, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig und in seinem Aufhebungsantrag auch berechtigt.

1. Nach der Rechtslage nach dem KindNamRÄG 2013 BGBl I 2013/15 soll die Obsorge beider Eltern insbesondere dann (eher) den Regelfall darstellen, wenn eine halbwegs „normale“ familiäre Situation zwischen den Eltern und auch zwischen den Eltern und dem Kind besteht (vgl 8 Ob 40/15p; 8 Ob 146/15a).

2. Für die Anordnung der beiderseitigen Obsorge ist maßgebend, ob die Interessen des Kindes auf diese Weise am besten gewahrt werden können (vgl RIS‑Justiz RS0130247). Die beiderseitige Obsorge setzt eine Beteiligung beider Eltern an der Betreuung des Kindes voraus (vgl RIS‑Justiz RS0130248). Dementsprechend erfordert die Teilnahme an den Betreuungsaufgaben einen Mindestkontakt des jeweiligen Elternteils zum Kind. Zudem ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Eltern ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit sowie an Bereitschaft der Eltern voraussetzt. Um Entscheidungen möglichst übereinstimmend im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in sachlicher Form Informationen auszutauschen und Entschlüsse zu fassen (vgl RIS‑Justiz RS0128812). Es ist notwendig, dass Erziehungs- und Betreuungsmaßnahmen besprochen werden, die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes möglichst übereinstimmend beurteilt werden und sich die darauf beziehenden Entscheidungen der Elternteile nicht regelmäßig widersprechen (8 Ob 40/15p). Nach diesen Grundsätzen ist eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern bereits vorhanden ist, ob in absehbarer Zeit mit einer solchen gerechnet oder eine solche zumindest hergestellt werden kann (8 Ob 152/17m, RIS‑Justiz RS0128812).

3. Obsorgeentscheidungen haben eine zukunftsbezogene Rechtsgestaltung zum Inhalt und können nur dann sachgerecht sein, wenn sie auf einer aktuellen bis in die jüngste Gegenwart reichenden Tatsachengrundlage beruhen; insofern gilt auch das Neuerungsverbot nicht (RIS‑Justiz RS0106312; vgl auch RS0106313). Es müssen daher während des Rechtsmittelverfahrens eingetretene unstrittige und aktenkundige Umstände, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, berücksichtigt werden (vgl RIS-Justiz RS0048056 [insbes T10, T11]).

4. Zur strittigen Frage einer ausreichenden Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit der Eltern baut die Entscheidung des Erstgerichts wesentlich darauf auf, dass die Eltern mit den Kindern im gemeinsamen Haushalt leben und weiterleben wollen. Das hat sich nach der erstinstanzlichen Entscheidung – unstrittig – geändert, weil sich die Eltern getrennt haben. Der zwischenzeitig vorliegende Kontaktrechtsantrag des Vaters lässt darauf schließen, dass sich die Kommunikationsfähigkeit der Eltern betreffend den (gemeinsamen) Umgang mit den Kindern weiter verschlechtert hat. Eine Entscheidung über die künftige Gestaltung des Verhältnisses der Eltern und Kinder muss die nunmehr durch die Haushaltstrennung der Eltern wesentlich geänderten Umstände berücksichtigen, wozu die Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanzen unumgänglich ist.

5. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht insbesondere die Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit der Eltern auf der Grundlage ihrer wesentlich geänderten Lebensverhältnisse neuerlich zu beurteilen haben.

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