OGH 14Os86/18f

OGH14Os86/18f11.9.2018

Der Oberste Gerichtshof hat am 11. September 2018 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Danek als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Ertl, LL.M., als Schriftführer in der Strafsache gegen Turpal S***** wegen des Vergehens der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs 1 StGB, AZ 53 U 39/16g des Bezirksgerichts Floridsdorf, über die von der Generalprokuratur gegen mehrere Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur

Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Stani, und des Angeklagten zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:0140OS00086.18F.0911.000

 

Spruch:

 

In der Strafsache AZ 53 U 39/16g des Bezirksgerichts Floridsdorf verletzen

1./ die Durchführung der Hauptverhandlung und Urteilsfällung in Abwesenheit des Angeklagten § 427 Abs 1 StPO;

2./ die in der Hauptverhandlung erfolgte Verlesung von Zeugenaussagen § 252 Abs 1 StPO iVm §§ 447, 458 zweiter Satz StPO;

3./ das Unterbleiben der Anführung der in § 260 Abs 1 Z 1 StPO bezeichneten Angaben im Hauptverhandlungsprotokoll § 271 Abs 1 Z 7 StPO iVm §§ 447, 458 zweiter Satz StPO;

4./ die Unterlassung der Zustellung einer Ausfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls spätestens zugleich mit der Urteilszustellung an den Angeklagten § 271 Abs 6 letzter Satz StPO iVm §§ 447, 458 zweiter Satz StPO.

Das Urteil des Bezirksgerichts Floridsdorf vom 6. November 2017, GZ 53 U 39/16g‑25, sowie – insoweit ersatzlos – der unter einem gefasste Beschluss auf „

Vorbehalt“ des Widerrufs einer bedingten Entlassung werden aufgehoben und die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Floridsdorf verwiesen.

 

Gründe:

Mit Strafantrag vom 10. März 2016 legte die Staatsanwaltschaft Wien Turpal S***** als Vergehen der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs 1 StGB zur Last, er habe in W***** bis zum 22. Oktober 2015 Urkunden, über die er nicht verfügen durfte, nämlich amtliche Kennzeichentafeln des Wilibald B*****, mit dem Vorsatz unterdrückt, deren Gebrauch im Rechtsverkehr zum Beweis eines Rechts, eines Rechtsverhältnisses oder einer Tatsache zu verhindern (ON 4).

Der Angeklagte hatte sich bei seiner informellen Befragung anlässlich seiner polizeilichen Anhaltung damit verantwortet, die Kennzeichen gefunden zu haben. Eine Vernehmung des Genannten als Beschuldigter fand nach dem Akteninhalt im Ermittlungsverfahren nicht statt, weil er laut dem Abschlussbericht der zuständigen Polizeiinspektion Ladungen zu niederschriftlichen Vernehmungen (nach Auskunft seiner Eltern bewusst) nicht Folge geleistet hatte (ON 3 S 3 f).

Im bezughabenden Verfahren des Bezirksgerichts Floridsdorf zu AZ 53 U 39/16g wurde die Hauptverhandlung am 6. November 2017 in

Abwesenheit des Angeklagten, der trotz ausgewiesener Zustellung der Ladung (ON 1 S 4) nicht erschienen war, durchgeführt (ON 23).

Das Beweisverfahren erschöpfte sich in der „einverständlichen“ Verlesung des „gesamten Aktes“, sohin auch der polizeilichen Abschlussberichte vom 5. Oktober 2015 (ON 2) und vom 16. Dezember 2015 (ON 3), die (unter anderem) die Angaben der Zeugin Petra B***** zur Entfremdung der anklagegegenständlichen Kennzeichentafeln (ON 2 S 5 f), ein Protokoll über die Vernehmung des Zeugen Shpendi M***** betreffend die Verwendung dieser Kennzeichen bei einem Tankvorgang (ON 3 S 9 f) und einen dessen Aussage referierenden Amtsvermerk (ON 3 S 19 ff) enthalten.

Mit Abwesenheitsurteil vom selben Tag wurde Turpal S***** des Vergehens der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs 1 StGB schuldig erkannt und hiefür „unter Anwendung des § 37 StGB“ (vgl aber Fabrizy, StGB12 § 37 Rz 6) zu einer Geldstrafe verurteilt.

Im Protokoll über die Hauptverhandlung wurde hinsichtlich der vom Schuldspruch umfassten Tat bloß auf den Strafantrag verwiesen („schuldig im Sinne des schriftlichen Strafantrags“) und zudem – ohne Bezugnahme auf eine Gesetzesstelle (vgl aber den entsprechenden, auf § 494a Abs 2 StPO gestützten Antrag der Staatsanwaltschaft; ON 4) – vermerkt, dass „hinsichtlich der bedingten Entlassung zu 185 BE 202/15a des Landesgerichts für Strafsachen Wien die Entscheidung über einen allfälligen Widerruf der (ersichtlich gemeint: dem Angeklagten mit Beschluss des Landesgerichts Krems an der Donau vom 18. Juni 2015, AZ 23 BE 18/15w gewährten) bedingten Entlassung dem zuständigen Gerichtshof vorbehalten“ werde.

Ausfertigungen des Urteils (ON 25), in dem die Vorbehaltsentscheidung nicht erwähnt wird (vgl aber § 494a Abs 4 StPO), und der gegen den Ausspruch über die Strafe gerichteten, zum Nachteil des Angeklagten ausgeführten Berufung der Staatsanwaltschaft (ON 26) wurden diesem samt Rechtsmittelbelehrung am 24. Jänner 2018 persönlich zugestellt (ON 1 S 6, ON 27 S 5). Eine Zustellung des Protokolls über die Hauptverhandlung erfolgte nach dem Akteninhalt nicht.

Turpal S***** hat gegen das Urteil kein Rechtsmittel erhoben, über die Berufung der Staatsanwaltschaft wurde noch nicht entschieden.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur

Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, steht die beschriebene Vorgangsweise des Bezirksgerichts Floridsdorf mit dem Gesetz in mehrfacher Hinsicht nicht im Einklang:

Vorauszuschicken ist, dass für das Hauptverfahren vor dem Bezirksgericht die Bestimmungen für das Verfahren vor dem Landesgericht als Schöffengericht, also jene über die Hauptverhandlung und das Urteil im schöffengerichtlichen Verfahren, gelten, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt (§§ 447, 458 zweiter Satz StPO).

1./ Gemäß § 427 Abs 1 StPO setzten die Durchführung der Hauptverhandlung und die Fällung des Urteils in Abwesenheit des Angeklagten unter anderem – dem durch Art 6 MRK auf Verfassungsebene verankerten Grundsatz des beiderseitigen Gehörs Rechnung tragend – zwingend voraus, dass dieser bereits gemäß §§ 164 oder 165 StPO zum Anklagevorwurf vernommen wurde (Bauer, WK‑StPO § 427 Rz 8), was vorliegend unterblieben ist.

Eine – wie hier nach dem Akteninhalt ausschließlich erfolgte – bloß informative Befragung ohne vorhergehende Information über den Tatvorwurf und eine Belehrung über die entsprechenden Rechte und Pflichten als Beschuldigter (§ 164 Abs 1 und 2 StPO) stellt keine förmliche Vernehmung (§ 151 Z 2 StPO) eines Beschuldigten, sondern bloß eine Erkundigung im Sinn des § 152 Z 1 StPO dar (17 Os 9/13x), deren Ergebnis in einem Amtsvermerk festzuhalten ist (§ 152 Abs 3 StPO), und erfüllt die entsprechende Voraussetzung des § 427 Abs 1 StPO nicht. Ausnahmen sieht das Gesetz nicht vor. Dass Turpal S***** mehrfachen „polizeilichen Ladungen zur niederschriftlichen Vernehmung bewusst“ nicht Folge leistete, ist daher– entgegen der Ansicht des Erstgerichts (US 3) – für die Beurteilung der Zulässigkeit eines Abwesenheitsverfahrens irrelevant.

2./ Gemäß § 252 Abs 1 StPO dürfen Protokolle über die Vernehmung von Zeugen und andere amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen festgehalten worden sind, in der Hauptverhandlung nur in den in § 252 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO genannten Fällen verlesen werden. Aus dem Nichterscheinen des Angeklagten zur Hauptverhandlung kann dessen Einverständnis mit einer Verlesung im Sinn des § 252 Abs 1 Z 4 StPO nicht abgeleitet werden (vgl zum Ganzen: RIS-Justiz RS0117012; Bauer, WK-StPO § 427 Rz 13 mwN). Hinsichtlich der oben angeführten Abschlussberichte, die – in Protokollen oder Aktenvermerken festgehaltene – Angaben der Zeugen Petra B***** und Shpendi M***** enthalten, lag nach dem Akteninhalt eine Verlesungsermächtigung nach § 252 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO gleichfalls nicht vor.

3./ Das über die Hauptverhandlung aufzunehmende Protokoll hat gemäß § 271 Abs 1 Z 7 StPO den Spruch des Urteils mit den in § 260 Abs 1 Z 1 bis Z 3 StPO bezeichneten Angaben zu enthalten. Der im Hauptverhandlungsprotokoll vom 6. November 2017 erfolgte Verweis auf den schriftlichen Strafantrag genügt diesen Anforderungen nicht (vgl RIS‑Justiz RS0098552 [T2]).

4./ Den Beteiligten des Verfahrens ist, soweit sie darauf nicht verzichtet haben, ehestmöglich, spätestens aber zugleich mit der Urteilsausfertigung eine Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung zuzustellen (§ 271 Abs 6 letzter Satz StPO). Auch gegen diese Anordnung hat das Bezirksgericht Floridsdorf verstoßen, indem es dem Angeklagten mit der Urteilsausfertigung nicht auch ein Protokoll über die Hauptverhandlung zustellte.

Die zu 1./ aufgezeigte Gesetzesverletzung wirkte zum Nachteil des Angeklagten. Der Oberste Gerichtshof sah sich veranlasst, deren Feststellung mit konkreter Wirkung zu verbinden (§ 292 letzter Satz StPO) und das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Floridsdorf vom 6. November 2017, GZ 53 U 39/16g-25, sowie den unter einem gefassten – verfehlt in Urteilsform ergangenen (§ 494a Abs 4 StPO) – Beschluss auf

Vorbehalt des Widerrufs einer bedingten Entlassung, letzteren – schon weil die bedingte Entlassung zwischenzeitig mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 4. Juli 2018, GZ 185 BE 202/15a‑34, rechtskräftig für endgültig erklärt wurde – ersatzlos, aufzuheben (vgl dazu auch RIS‑Justiz RS0101886, 14 Os 36/18b).

Die Berufung der Staatsanwaltschaft ist daher gegenstandslos.

Bleibt zu den Vorgängen im Zusammenhang mit der Vorbehaltsentscheidung, gegen die sich die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes ausdrücklich nicht richtet (BS 5 ff [S 8]), klarstellend anzumerken:

Aus welchen Gründen das Bezirksgericht die Entscheidung über den Widerruf der in Rede stehenden bedingten Entlassung „dem zuständigen Gerichtshof“ vorbehielt, lässt sich dem Hauptverhandlungsprotokoll nicht entnehmen.

Eine solche Vorbehaltsentscheidung, die – vom Erstgericht übersehen – mit (gemeinsam mit dem Urteil auszufertigendem) Beschluss zu ergehen hat (§ 494a Abs 4 StPO) und von der davon betroffene Gerichte unverzüglich zu verständigen sind (§ 494a Abs 7 StPO), sieht das Gesetz nur in den Fällen des § 494a Abs 2 StPO vor. Gegenständlich betrug der Strafrest – wie sich (auch) aus dem VJ‑Register ergibt – nur drei Monate und 21 Tage, womit die Voraussetzungen dieser Gesetzesstelle nicht erfüllt waren (vgl zur Präklusionswirkung einer auf rechtsirriger Verneinung sachlicher Kompetenz beruhenden, [wie hier] von der Anklagebehörde nicht bekämpften Vorbehaltsentscheidung: Jerabek, WK-StPO § 494b Rz 1).

Kann dagegen ein vom sachlich zuständigen Gericht für geboten erachteter Ausspruch nach § 494a Abs 1 Z 4 StPO wegen Fehlens der Formerfordernisse des Abs 3 erster Satz dieser Gesetzesstelle (etwa weil eine Anhörung des Angeklagten zufolge Durchführung der Hauptverhandlung in seiner Abwesenheit nicht möglich ist) nicht erfolgen, bedarf es keines Vorbehaltsbeschlusses. Die Entscheidungskompetenz geht vielmehr in solchen Fällen ex lege auf das sonst zuständige Gericht über ( Jerabek , WK‑StPO § 494a Rz 10 mwN; RIS‑Justiz RS0111829).

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