OGH 15Os52/17m

OGH15Os52/17m24.5.2017

Der Oberste Gerichtshof hat am 24. Mai 2017 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Danek als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Melounek als Schriftführerin in der Strafsache gegen Peter G***** wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB, AZ 32 U 113/15h des Bezirksgerichts Floridsdorf, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des genannten Gerichts vom 2. Mai 2016, GZ 32 U 113/15h‑24, und Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Leitner, des Angeklagten, sowie des Privatbeteiligtenvertreters Mag. Haas zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0150OS00052.17M.0524.000

 

Spruch:

 

Im Verfahren AZ 32 U 113/15h des Bezirksgerichts Floridsdorf verletzen

1./ der in der Hauptverhandlung am 2. Mai 2016 erfolgte Vortrag des Sachverständigengutachtens und der (im Abschlussbericht ON 2 und im Hauptverhandlungsprotokoll ON 10 enthaltenen) Angaben des Zeugen Danijel H***** § 252 Abs 2a iVm Abs 1 StPO;

2./ der im Urteil vom 2. Mai 2016 enthaltene und über den Betrag von 500 Euro hinausgehende Privatbeteiligtenzuspruch § 245 Abs 1a StPO iVm § 366 Abs 2 zweiter Satz StPO.

Das Urteil des Bezirksgerichts Floridsdorf vom 2. Mai 2016, GZ 32 U 113/15h‑24, und demzufolge auch der unter einem gefasste Beschluss auf Widerruf bedingter Strafnachsicht werden aufgehoben, und es wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Floridsdorf verwiesen.

Mit seiner Berufung und seiner Beschwerde wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

 

Gründe:

Mit Strafantrag vom 2. Juni 2015 legte die Staatsanwaltschaft Wien Peter G***** zur Last, am 8. April 2015 in Wien Danijel H***** vorsätzlich am Körper verletzt zu haben, indem er ihn am Hals gepackt, gewürgt, ihm einen Faustschlag gegen den Kopf sowie einen Fußtritt gegen dessen linke Seite versetzt und diesem dadurch eine Schädelprellung, eine Zerrung der Halswirbelsäule sowie eine Prellung der Nase, des linken Brustkorbes sowie des Halses zugefügt habe (ON 3).

Aufgrund der Verfügung des Bezirksgerichts Floridsdorf (AZ 32 U 113/15h) vom 8. Juni 2015 wurde dieser Strafantrag dem Angeklagten gemeinsam mit der Ladung zu der für 16. Juli 2015 anberaumten Hauptverhandlung zugestellt (ON 1 S 1 f iVm ON 10).

Die (anfangs in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführte) Hauptverhandlung, in welcher H***** als Zeuge vernommen wurde und der Privatbeteiligtenvertreter den Zuspruch von 500 Euro beantragte, die der Angeklagte nicht anerkannte, wurde zur Einholung eines gerichtsmedizinischen sowie eines weiteren gerichtspsychiatrischen Gutachtens auf unbestimmte Zeit vertagt (ON 10).

Nach Einlangen des gerichtsmedizinischen Gutachtens des Sachverständigen Dr. Wolfgang D***** (ON 12) beraumte das Bezirksgericht Floridsdorf die Hauptverhandlung für den 1. Februar 2016 an und verfügte am 13. November 2015 die Ladung des Angeklagten (ON 1 S 3), welche jedoch nicht zugestellt werden konnte (ON 16a, 19 und 20). Die Hauptverhandlung wurde daher am 1. Februar 2016, nachdem der Privatbeteiligtenvertreter den Privatbeteiligtenanspruch auf 1.860 Euro modifiziert hatte, erneut auf unbestimmte Zeit vertagt (ON 18).

Am 10. März 2016 wurde dem Angeklagten die Ladung zur für den 2. Mai 2016 anberaumten Hauptverhandlung eigenhändig zugestellt (ON 21 und 23 S 3).

Am 2. Mai 2016 erschien der Angeklagte nicht zur Hauptverhandlung. Sie wurde daher in Abwesenheit (infolge Zeitablaufs gemäß § 276a zweiter Satz StPO neu) durchgeführt, wobei unter anderem auch der – ein Protokoll der Vernehmung des Zeugen H***** enthaltende (ON 2 S 17 ff) – Abschlussbericht ON 2, die Hauptverhandlungsprotokolle vom 16. Juli 2015 (ON 10) und vom 1. Februar 2016 (ON 18) und das gerichtsmedizinische Gutachten vom 30. Oktober 2015 (ON 12) „gemäß § 252 Abs 2 lit a StPO … verlesen“ wurden (ON 23).

Schließlich wurde G***** in Abwesenheit des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB schuldig erkannt, zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Monaten verurteilt, gemäß § 369 Abs 1 StPO dem Opfer ein Betrag von 1.860 Euro zugesprochen und mit Beschluss die im Verfahren AZ 91 Hv 6/15s des Landesgerichts für Strafsachen Wien am 19. Februar 2015 gewährte bedingte Strafnachsicht gemäß § 494a Abs 1 Z 4 StPO widerrufen (ON 23 und 24).

In den Entscheidungsgründen bezieht sich das Bezirksgericht Floridsdorf auf die Aussage des Zeugen H***** sowie auf das Gutachten (ON 24 S 4 f).

Die Urteilausfertigung wurde dem Angeklagten am 16. Juni 2016 zugestellt (ON 24, Anhang zu S 9).

Am 20. Juni 2016 erhob der Angeklagte – ohne weitere Begründung, jedoch unter Vorlage einer Kopie einer Terminkarte des Arbeitsmarktservices, in welcher ein nicht näher präzisierter Termin am 2. Mai 2016 aufscheint – Einspruch gegen das erwähnte Urteil und meldete dagegen gleichzeitig Berufung sowie Beschwerde gegen den Widerrufsbeschluss an (ON 25).

Mit Beschluss vom 28. Juni 2016 wies das Bezirksgericht Floridsdorf den Einspruch des Angeklagten mangels substantieller Gründe für dessen Nichterscheinen ab (ON 26).

Über die Berufung und die Beschwerde hat das Landesgericht für Strafsachen Wien noch nicht entschieden.

 

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, wurde im Verfahren des Bezirksgerichts Floridsdorf in mehrfacher Hinsicht das Gesetz verletzt:

Protokolle über die Vernehmung von Zeugen sowie Gutachten von Sachverständigen dürfen in der Hauptverhandlung nur in den in § 252 Abs 1 StPO (hier iVm § 458 zweiter Satz StPO) normierten Ausnahmefällen verlesen werden.

Gegen den Angeklagten früher ergangene Straferkenntnisse, Amtsvermerke über einen Augenschein, Befunde sowie Urkunden und Schriftstücke anderer Art, die für die Sache von Bedeutung sind (zB Anzeigen und Berichte der Polizei über ihre Erhebungen; RIS-Justiz RS0098456), müssen hingegen gemäß § 252 Abs 2 StPO in der Hauptverhandlung vorgelesen werden.

Anstelle der Verlesung kann der Vorsitzende gemäß § 252 Abs 2a StPO den erheblichen Inhalt der Aktenstücke vortragen, soweit die Beteiligten des Verfahrens zustimmen.

Die Protokolle über die Angaben des Zeugen H***** und das gerichtsmedizinische Gutachten unterlagen dem erwähnten Beweiserhebungsverbot und hätten – zumal auch keiner der Fälle des § 252 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO vorlag – nur gemäß § 252 Abs 1 Z 4 StPO mit Einverständnis der Parteien verlesen oder vorgetragen werden dürfen. Aus dem Nichterscheinen des gesetzeskonform geladenen (unvertretenen) Angeklagten zur Hauptverhandlung konnte sein Einverständnis zur Verlesung nicht abgeleitet werden (RIS-Justiz RS0117012; Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 103).

Aus dem Protokoll über die Hauptverhandlung ist mit Blick auf die Formulierung „gemäß § 252 Abs 2 lit a StPO … verlesen“ ersichtlich, dass die oben genannten Akteninhalte im Sinn des § 252 Abs 2a StPO vom Einzelrichter zusammenfassend vorgetragen wurden. Die durch § 252 Abs 2a StPO ermöglichte Abstandnahme von der Vorlesung oder Vorführung von Aktenstücken nach Abs 1 und Abs 2 leg cit zugunsten eines zusammenfassenden Vortrags ihres Inhalts ist ebenso an die Zustimmung (auch) des Angeklagten gebunden, die in dessen Fernbleiben von der Hauptverhandlung gleichfalls nicht erblickt werden kann (vgl zum Ganzen neuerlich RIS-Justiz RS0117012).

Weiters verletzt das Abwesenheitsurteil vom 2. Mai 2016, soweit es dem Privatbeteiligten einen 500 Euro übersteigenden Betrag zuspricht, § 245 Abs 1a StPO iVm § 447 StPO. Nach der erstgenannten Bestimmung, die dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs Rechnung trägt und deren Einhaltung essentielle Voraussetzung für einen Privatbeteiligtenzuspruch ist, ist der Angeklagte über die gegen ihn erhobenen privatrechtlichen Ansprüche zu vernehmen und zur Erklärung aufzufordern, ob und in welchem Umfang er diese anerkennt. Demgegenüber wurde der Angeklagte über die (aufgrund der Neudurchführung des Verfahrens letztlich in der Hauptverhandlung am 2. Mai 2016 erfolgte) Ausdehnung des Privatbeteiligtenanspruchs von 500 Euro auf 1.860 Euro jedoch nicht in Kenntnis gesetzt; er hatte daher auch niemals Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen. Insoweit wäre der Privatbeteiligte daher auf den Zivilrechtsweg zu verweisen gewesen (§ 366 Abs 2 zweiter Satz StPO; RIS‑Justiz RS0101178, RS0101197).

Ein aus diesen Gesetzesverletzungen resultierender Nachteil für den Angeklagten kann nicht ausgeschlossen werden. Der Oberste Gerichtshof sah sich veranlasst, deren Feststellung gemäß § 292 letzter Satz StPO mit konkreter Wirkung zu verbinden.

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