European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0080OB00045.16Z.0328.000
Spruch:
I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art 4 Abs 3 in Verbindung mit Art 3 des Haager Protokolls über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht 2007 dahin auszulegen, dass auf den Antrag einer verpflichteten Person auf Herabsetzung eines rechtskräftig festgelegten Unterhaltsbeitrags wegen geänderter Einkommensverhältnisse auch dann das Recht des Staates maßgeblich ist, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn der bisher zu bezahlende Unterhaltsbeitrag auf deren Antrag gemäß Art 4 Abs 3 des Haager Protokolls über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht 2007 vom Gericht nach dem Recht des Staates festgesetzt worden war, in dem die verpflichtete Person ihren unveränderten gewöhnlichen Aufenthalt hat?
Falls die Frage 1 bejaht wird:
2. Ist Art 4 Abs 3 des Haager Protokolls über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht 2007 dahin auszulegen, dass die berechtigte Person die zuständige Behörde des Staates, in dem die verpflichtete Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, auch dadurch „anruft“, dass sie sich in ein von der verpflichteten Person bei dieser Behörde eingeleitetes Verfahren im Sinne des Art 5 der Verordnung (EG) Nr 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen durch Bestreiten in der Sache einlässt?
II. Das Verfahren über den Revisionsrekurs des Antragstellers wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ausgesetzt.
Begründung:
I. Sachverhalt und bisheriges Verfahren:
1. Der Antragsteller ist der eheliche Vater der 1996 geborenen Antragsgegnerin, die derzeit ein Studium absolviert. Die Ehe der Eltern ist geschieden. Der Antragsteller lebt in Österreich, die Antragsgegnerin hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Italien.
Der Antragsteller ist derzeit aufgrund eines Beschlusses des Bezirksgerichts Innsbruck vom 10. 10. 2014 zur Leistung eines monatlichen Unterhaltsbeitrags von 650 EUR an die Antragsgegnerin verpflichtet. Dieser Beschluss erging in Anwendung österreichischen Rechts aufgrund eines Unterhaltsfestsetzungsantrags der bereits damals in Italien lebenden Tochter.
2. Im Jahre 2015 stellte der Vater wiederum beim Bezirksgericht Innsbruck den Antrag, den geltenden Unterhaltsbeitrag von 650 EUR ab 1. 2. 2015 auf 490 EUR monatlich herabzusetzen, weil sich sein Nettoeinkommen durch den Wegfall einer jährlichen Prämie verringert habe. Die Antragsgegnerin beantragte die Abweisung des Herabsetzungsbegehrens.
3. Das Erstgericht wies den Antrag ab. Es ging davon aus, dass gemäß Art 3 Abs 1 HUP italienisches Recht auf den Unterhaltsanspruch anzuwenden sei, weil die Berechtigte ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Italien habe. Das Herabsetzungsbegehren sei nicht berechtigt, weil der festgesetzte Unterhaltsbeitrag im Sinne des Art 155 des italienischem Codice Civile den Bedürfnissen der Antragsgegnerin und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Antragstellers entspreche.
4. Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung zwar im Ergebnis, legte seiner Beurteilung aber österreichisches Recht zugrunde.
Es könne bei unverändertem gewöhnlichem Aufenthalt beider Parteien nicht schon deswegen zu einer Änderung des anzuwendenden Rechts kommen, weil der Unterhaltsverpflichtete nur wenige Monate nach der letzten rechtskräftigen Unterhaltsfestsetzung einen Herabsetzungs-antrag stelle. Ein Wechsel des Rechts gemäß Art 3 Abs 2 HUP setze vielmehr die Änderung einer für die Anknüpfung relevanten Tatsache voraus. Würde man davon absehen, könne es zu der paradoxen Situation kommen, dass konkurrierende Erhöhungs- und Herabsetzungsanträge, die den selben Zeitraum betreffen, nach verschiedenen Rechtsordnungen zu beurteilen wären.
5. Der Oberste Gerichtshof hat über den Revisionsrekurs des Antragstellers zu entscheiden, der die Beurteilung des Unterhaltsanspruchs nach italienischem Recht anstrebt und vorbringt, dass seinem Antrag entgegen der Auffassung der Vorinstanzen bei richtiger Anwendung dieses Rechts stattzugeben gewesen wäre.
Rechtliche Beurteilung
II. Rechtsgrundlagen:
Unionsrecht:
A. Verordnung (EG) Nr 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (EuUVO):
Art 1: Anwendungsbereich
(1) Diese Verordnung findet Anwendung auf Unterhaltspflichten, die auf einem Familien-, Verwandtschafts-, oder eherechtlichen Verhältnis oder auf Schwägerschaft beruhen.
…
Art 3: Allgemeine Bestimmungen
Zuständig für Entscheidungen in Unterhaltssachen in den Mitgliedstaaten ist
a) das Gericht des Ortes, an dem der Beklagte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder
b) das Gericht des Ortes, an dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder
c) das Gericht, das nach seinem Recht für ein Verfahren in Bezug auf den Personenstand zuständig ist, wenn in der Nebensache zu diesem Verfahren über eine Unterhaltssache zu entscheiden ist, es sei denn, diese Zuständigkeit begründet sich einzig auf der Staatsangehörigkeit einer der Parteien, oder
d) das Gericht, das nach seinem Recht für ein Verfahren in Bezug auf die elterliche Verantwortung zuständig ist, wenn in der Nebensache zu diesem Verfahren über eine Unterhaltssache zu entscheiden ist, es sei denn, diese Zuständigkeit beruht einzig auf der Staatsangehörigkeit einer der Parteien.
...
Art 5: Durch rügelose Einlassung begründete Zuständigkeit
Sofern das Gericht eines Mitgliedstaats nicht bereits nach anderen Vorschriften dieser Verordnung zuständig ist, wird es zuständig, wenn sich der Beklagte auf das Verfahren einlässt. Dies gilt nicht, wenn der Beklagte sich einlässt, um den Mangel der Zuständigkeit geltend zu machen.
...
Art 15: Bestimmung des anwendbaren Rechts
Das auf Unterhaltspflichten anwendbare Recht bestimmt sich für die Mitgliedstaaten, die durch das Haager Protokoll vom 23. November 2007 über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht (nachstehend „Haager Protokoll von 2007“ genannt) gebunden sind, nach jenem Protokoll.
B. Haager Protokoll über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht 2007 (HUP):
Art 3: Allgemeine Regel in Bezug auf das anzuwendende Recht
(1) Soweit in diesem Protokoll nichts anderes bestimmt ist, ist für Unterhaltspflichten das Recht des Staats maßgebend, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat.
(2) Wechselt die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt, so ist vom Zeitpunkt des Aufenthaltswechsels an das Recht des Staats des neuen gewöhnlichen Aufenthalts anzuwenden.
Art 4: Besondere Regeln zugunsten bestimmter berechtigter Personen
(1) Die folgenden Bestimmungen sind anzuwenden in Bezug auf Unterhaltspflichten
a) der Eltern gegenüber ihren Kindern,
…
(3) Hat die berechtigte Person die zuständige Behörde des Staates angerufen, in dem die verpflichtete Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, so ist ungeachtet des Artikels 3 das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht anzuwenden.
…
Art 11: Geltungsbereich des anzuwendenden Rechts
Das auf die Unterhaltspflicht anzuwendende Recht bestimmt insbesondere,
a) ob, in welchem Umfang und von wem die berechtigte Person Unterhalt verlangen kann;
…
III. Vorabentscheidungsersuchen:
Der Gerichtshof der Europäischen Union ist zwar nicht grundsätzlich zur Auslegung von internationalen Abkommen der Mitgliedstaaten berufen, jedoch verweist Art 15 EuUVO ausdrücklich auf die Anwendbarkeit des Haager Protokolls von 2007. Wenn ein Rechtsakt der Union auf ein solches Abkommen verweist, so kommt dem Gerichtshof der Europäischen Union ausnahmsweise die Auslegungskompetenz zu ( Schima in Mayer/Stöger , EUV und AEUV Art 267 AEUV Rn 34 unter Hinweis auf EuGH C‑40/01, Ansul/Ajax Rn 32 f; EuGH C‑181/73, R&V/Belgien ). Zusätzlich hat die Europäische Union (mit Ausnahme Dänemarks und des Vereinigten Königreichs) das Haager Protokoll von 2007 mit Ratsbeschluss vom 30. 11. 2009 (2009/941/EG ) ratifiziert, womit die Auslegungskompetenz des Gerichtshofs der Europäischen Union begründet wurde ( Schima aaO Rn 23 zum GATT unter Hinweis auf EuGH C‑439/01, Cipra und Kvasnicka/BH Mistelbach , Rn 24).
IV. Vorlagefragen:
Nach Art 3 Abs 1 HUP ist, soweit in diesem Protokoll nichts anderes bestimmt ist, für Unterhaltspflichten das Recht des Staats maßgebend, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat.
Ein Wechsel des anzuwendenden Rechts erfolgt nach Art 3 Abs 2 HUP ab dem Zeitpunkt des Wechsels des gewöhnlichen Aufenthalts für die Zukunft (ex nunc; Bonomi , Explanatory Report [2009] zum Protokoll vom 23. November 2007 über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht, Rn 48; Andrae in Rauscher , Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht EuZPR/EulPR 4 V Art 3 HUntStProt Rn 13).
Die berechtigte Person hat aber in Anwendung des Art 3 lit a EuUVO auch die Wahl, das zuständige Gericht am gewöhnlichen Aufenthalt des Verpflichteten anzurufen. In diesem Fall ist nach Art 4 Abs 3 HUP ungeachtet dessen Art 3 das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht anzuwenden. Der berechtigten Person wird also die Möglichkeit eingeräumt, durch ihre Auswahl des angerufenen Gerichts das auf die Unterhaltspflicht anzuwendende Recht zu wählen.
Im vorliegenden Verfahren ist vom Obersten Gerichtshof die Frage zu klären, ob und unter welchen Umständen es zu einem (neuerlichen) Wechsel des zuletzt in Anwendung des Art 4 Abs 3 HUP durch die unterhaltsberechtigte Person gewählten Rechts kommt, wenn (nur) die verpflichtete Person einen Antrag auf Herabsetzung des Unterhaltsbeitrags gestellt hat.
Soweit überblickbar hat der Gerichtshof der Europäischen Union zu diesen Fragen noch nicht Stellung genommen.
Zu Frage 1:
Das HUP regelt nicht ausdrücklich, welches Recht in einem Verfahren anzuwenden ist, in dem auf Antrag der verpflichteten Person ein rechtskräftig gerichtlich festgesetzter Unterhalt wegen geänderter Umstände herabgesetzt werden soll.
Der Erläuternde Bericht ( Bonomi , Explanatory Report [2009] zum Protokoll vom 23. November 2007 über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht, Rn 63) hält fest, dass die Anwendung des am Ort des angerufenen Gerichts geltenden Rechts nach Art 4 Abs 3 HUP gerechtfertigt sei, wenn die berechtigte Person selbst beschließt, die Klage im Staat des Aufenthalts der verpflichteten Person einzuleiten, während diese Konsequenz umgekehrt überzogen wäre, wenn die Klage auf Betreiben des Verpflichteten in diesem Land erhoben wurde, zum Beispiel im Fall eines Antrags auf Abänderung der Unterhaltsentscheidung (so auch Weber in Burgstaller/Neumayr/Geroldinger/Schmaranzer , Inter-nationales Zivilverfahrensrecht, Art 4 HUntP 2007 Rz 10).
Auch in der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass das anzuwendende Recht in einem von der verpflichteten Person eingeleiteten Verfahren nur nach den Regeln des Art 3 HUP zu bestimmen sei ( Fucik , Das neue Haager Unterhaltsprotokoll, iFamZ 2008, 90 [91]). Danach wäre die Frage, ob die für einen Eingriff in die Rechtskraft der bestehenden Unterhaltsentscheidung erforderlichen Gründe vorliegen, immer nach dem Aufenthaltsstatut des Berechtigten zu prüfen, auch wenn es nicht das Recht jenes Staats ist, dessen Behörde den Titel geschaffen hat.
Nach einem anderen Teil der Lehre ( Weber in Burgstaller/Neumayr/Geroldinger/Schmaranzer , Inter-nationales Zivilverfahrensrecht, Art 3 HUntP 2007 Rz 28; Andrae in Rauscher , EuZPR/EuIPR Einl HUP Rz 32) ist hingegen auf die Entscheidung über die Änderung einer inländischen oder einer anerkannten ausländischen Entscheidung das derzeitige Unterhaltsstatut anzuwenden.
Gegen die Auffassung, dass Abänderungsanträge nur nach dem Recht des Aufenthalts des Verpflichteten zu beurteilen wären, spricht, dass sie das Recht der berechtigten Person, durch Wahl des angerufenen Gerichts nach Art 4 Abs 3 HUP das auf den Unterhalt anzuwendende Recht zu wählen, erheblich einschränken würde. Einer verpflichteten Person, die mit dem Ergebnis der Unterhaltsfestsetzung nach dem vom Berechtigten gewählten Recht nicht einverstanden ist, wäre es dann möglich, nur mit der Behauptung einer Änderung der Umstände unmittelbar nach Abschluss des Vorverfahrens ein neues Verfahren einzuleiten, in dem wieder das Recht des Aufenthalts des Berechtigten anzuwenden wäre. Diese Möglichkeit wäre einer wünschenswerten Kontinuität der unterhaltsrechtlichen Beziehungen abträglich.
Dem Art 3 Abs 2 in Verbindung mit Art 4 Abs 3 HUP ist nach Auffassung des Obersten Gerichtshofs das Anliegen zu entnehmen, dass es nur zwei Anlässe für einen Wechsel des auf den Unterhalt anzuwendenden Rechts geben soll, und zwar wenn sich der gewöhnliche Aufenthalt der berechtigten Person ändert, oder wenn sie selbst die zuständige Behörde des Staats anruft, in dem der Verpflichtete seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
Frage 2:
Wenn Frage 1 zu bejahen wäre, hätte dies zur Folge, dass in dem von der verpflichteten Person eingeleiteten Verfahren unterschiedliches Recht anzuwenden wäre, je nachdem ob der Berechtigte sich darauf beschränkt, lediglich die Beibehaltung des bisherigen Unterhalts zu begehren, oder ob er mit einem Gegenantrag auf das Herabsetzungsbegehren reagiert.
Nach Art 4 Abs 3 HUP treten nämlich die in dieser Bestimmung genannten Rechtsfolgen ein, wenn die berechtigte Person die zuständige Behörde im Staat des Aufenthalts des Verpflichteten „anruft“, also einen das Verfahren nach der lex fori einleitenden Antrag stellt.
Im umgekehrten Fall, wenn die verpflichtete Person bei der Behörde ihres gewöhnlichen Aufenthalts einen Abänderungsantrag stellt, ist diese nur dann international zuständig, wenn das Verfahren als Nebensache im Sinne des Art 3 lit c und d EuUVO anhängig ist, wenn eine Gerichtsstandsvereinbarung nach Art 4 EuUVO vorliegt, oder wenn sich die berechtigte Person nach Art 5 EuUVO in das Verfahren einlässt und dadurch die fehlende Zuständigkeit begründet wird.
Die berechtigte Person hat daher nicht nur in einem auf ihren Antrag eingeleiteten Verfahren die Auswahl zwischen den Behörden der beiden verschiedenen Aufenthaltsstaaten, sondern auch in einem Verfahren, in dem sie vom Verpflichteten vor dessen Gerichtsstand belangt wird und die Rolle des Antragsgegners einnimmt.
Art 4 Abs 3 HUP könnte, um auch eine Harmonie des in diesen Fällen anzuwendenden Rechts herbeizuführen, dahin ausgelegt werden, dass die berechtigte Person die zuständige Behörde im anderen Staat auch dadurch „anruft“, dass sie sich in ein von der verpflichteten Partei eingeleitetes Abänderungsverfahren einlässt und den Antrag bestreitet, ohne die Unzuständigkeit geltend zu machen.
V. Bis zum Einlangen der Vorabentscheidung ist das Verfahren über den Revisionsrekurs nach § 90a Abs 1 GOG auszusetzen.
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