European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:E117605
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 418,78 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 69,80 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung:
Die am * 1984 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Die Klägerin erwarb bis 1. 7. 2015 in Österreich 71 Versicherungsmonate, davon 20 Beitragsmonate der Pflichtversicherung‑Teilversicherung (APG), 14 Beitragsmonate der Pflichtversicherung‑Erwerbstätigkeit und 37 Monate einer Ersatzzeit. Die Klägerin bezog von der Beklagten von 1. 9. 2006 bis 30. 6. 2015 eine befristete Invaliditätspension.
Die Klägerin ist österreichische Staatsbürgerin und lebt im Fürstentum Liechtenstein. Aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen ist die Klägerin derzeit arbeitsunfähig. Der Klägerin sind allerdings Therapien zumutbar, bei deren Inanspruchnahme eine Besserung wahrscheinlich ist. Eine wesentliche Besserung ist nicht vor Ablauf von zwei Jahren ab Therapiebeginn zu erwarten, die Wahrscheinlichkeit für eine Besserung liegt bei 70 %.
Mit Bescheid vom 2. 9. 2015 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 27. 3. 2015 auf Weitergewährung der mit 30. 6. 2015 befristeten Invaliditätspension mit der Begründung ab, dass Invalidität weder dauerhaft noch vorübergehend vorliege. Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation seien nicht zweckmäßig.
Das Erstgericht wies das Begehren der Klägerin auf Zuerkennung einer Invaliditätspension über den 30. 6. 2015 hinaus ab. Es sprach aus, dass ab 1. 7. 2015 vorübergehende Invalidität in der Dauer von zumindest sechs Monaten vorliege, dass als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit das Ergebnis weiterer Therapiemaßnahmen abzuwarten sei, dass Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nicht zweckmäßig seien und dass ab 1. 7. 2015 für die Dauer der vorübergehenden Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung bestehe. Das Eventualbegehren, die Beklagte sei schuldig, der Klägerin Rehabilitationsgeld ab 1. 7. 2015 für die weitere Dauer der vorübergehenden Invalidität zu gewähren, wies das Erstgericht ab. Im Umfang der Abweisung des Hauptbegehrens und des Eventualbegehrens erwuchs das Urteil des Erstgerichts unangefochten in Rechtskraft.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge und ließ die Revision im Hinblick auf das Fehlen höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Frage des Exports von Rehabilitationsgeld zu.
Rechtliche Beurteilung
Die von der Klägerin beantwortete Revision der beklagten Partei ist im Hinblick auf die zwischenzeitig ergangene Entscheidung 10 ObS 133/15d vom 20. 12. 2016 nicht zulässig.
In ihrer Revision macht die beklagte Partei zusammengefasst geltend, dass der verfahrensgegenständliche Sachverhalt unter Art 11 Abs 3 lit e der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO 883/2004 ) zu subsumieren sei. Dementsprechend unterliege die Klägerin den Rechtsvorschriften ihres Wohnmitgliedstaats Liechtenstein, weshalb sie für die weitere Dauer ihrer Invalidität keinen Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der österreichischen Krankenversicherung habe.
Dazu ist auszuführen:
Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die Ausdehnung der VO 883/2004 auf die EWR‑Staaten, zu denen auch Liechtenstein gehört, mit 1. 6. 2012 erfolgte, sodass diese Verordnung im vorliegenden Fall zur Anwendung gelangt, ist zutreffend (Spiegel in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, Überblick [51. Lfg] Rz 23; 10 Ob 1/13i ua) und wird von der Revisionswerberin nicht in Frage gestellt.
Der Oberste Gerichtshof hat in der schon genannten Entscheidung 10 ObS 133/15d (zu den Folgeentscheidungen vgl RIS‑Justiz RS0131207) ausführlich zu der auch hier zu beurteilenden Frage Stellung genommen, ob einer in (damals) Deutschland wohnhaften Klägerin, die unmittelbar zuvor von der Beklagten eine befristete Invaliditätspension bezogen hat, für die Dauer der vorübergehenden Invalidität Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung zusteht.
Der Oberste Gerichtshof kam zusammengefasst zu folgenden Ergebnissen:
1. Im Kontext der unionsrechtlichen Sozialrechtskoordinierung stellt das Rehabilitationsgeld eine Geldleistung bei Krankheit iSd Art 3 Abs 1 lit a der VO 883/2004 dar. Diese Einordnung als Geldleistung bei Krankheit hat Auswirkungen auf die Leistungszuständigkeit nach der VO 883/2004 .
1.1. Grundsatz der Koordinierungsregelungen der VO 883/2004 ist nach ihrem Art 11 Abs 1, dass Personen, für die die Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen. Das nach den Kollisionsnormen der VO 883/2004 zu bestimmende Sozialrechtsstatut ist auf den gesamten Sachverhalt anzuwenden. Es gilt in ein‑ und demselben Zeitpunkt für sämtliche Zweige der Systeme sozialer Sicherheit, die von Art 3 der Verordnung erfasst sind. Im zeitlichen Ablauf kann es allerdings zu einem Statutenwechsel kommen.
1.2. Welche Rechtsvorschriften anwendbar sind, bestimmt sich zunächst nach den Sonderkollisionsnormen der Titel III und V der VO 88/2004 , dann nach den Bestimmungen in Art 12 bis 16 und schließlich nach Art 11 Abs 3.
1.3. Nach Art 11 Abs 3 lit a der VO 883/2004 ist für die Erbringung einer Geldleistung bei Krankheit primär der Beschäftigungsstaat zuständig. Eine Beschäftigung liegt im Fall der Klägerin nicht vor; ebenso wenig bezieht die Klägerin eine Leistung nach Art 11 Abs 2 der Verordnung (sie wollte mit ihrem Pensionsantrag erst eine solche erlangen).
1.4. Aus Art 11 Abs 3 lit e der VO 883/2004 ergibt sich somit für die Klägerin die (subsidiäre) Zuständigkeit des Wohnsitzstaats.
2. Ist zwar an sich der ausländische Wohnsitzmitgliedstaat (hier ein EWR‑Mitgliedstaat) für die Erbringung der Leistung zuständig, ist allerdings nach der Rechtsprechung des EuGH der Sondercharakter des Rehabilitationsgeldes zu beachten, das nicht eindeutig den Leistungen bei Krankheit bzw den Leistungen bei Invalidität zugeordnet werden kann (vgl EuGH Rs C‑388/09 , da Silva Martins, Rn 48, zum deutschen Pflegegeld). Diese Charakterisierung kann zu einer Leistungspflicht (auch Exportpflicht) des nach den Bestimmungen der VO 883/2004 nicht leistungszuständigen Mitgliedstaats führen.
2.1. Die Annahme einer alleinigen Zuständigkeit des ausländischen Wohnsitz‑(mitglied‑)staats und der damit einhergehende Leistungsverlust trotz bereits im Inland erworbener Versicherungszeiten kann nämlich in bestimmten Fällen die primärrechtlich verbürgte unionsrechtliche Freizügigkeit beschränken. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um die Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art 45 ff AEUV oder der allgemeinen Freizügigkeit von Unionsbürgern gemäß Art 18 ff AEUV handelt (EuGH Rs C‑503/09 , Stewart, Rn 77 ff).
2.2. In seiner Rechtsprechung stellt der EuGH darauf ab, ob die Leistung mit Sondercharakter eine begünstigende Gegenleistung für die in einem bestimmten Mitgliedstaat (hier: Österreich) in ein separates Versicherungssystem eingezahlten Versicherungsbeiträge darstellt. Der Sondercharakter führt (nur) dann zur Leistungszuständigkeit dieses Mitgliedstaats, wenn die betroffene Person diese Vergünstigung deshalb verliert, weil sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, indem sie ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat – oder wie hier: in einen anderen EWR‑Mitgliedstaat – verlegt. Eine Beschränkung der Freizügigkeit wird insbesondere dann vorliegen, wenn der aktuelle Wohnsitz‑(mitglied‑)staat keine dem Rehabilitationsgeld entsprechende Leistung kennt.
3. In diesem Sinn ist im Einzelfall zu prüfen, ob ein primärrechtlich fundierter Exportanspruch gegeben ist.
3.1. Auch im vorliegenden Fall der Klägerin soll der Rehabilitationsgeldbezug unmittelbar an den Bezug einer befristeten Invaliditätspension aus Österreich anschließen. Sie hat Versicherungszeiten in Österreich erworben; ihr Wohnsitz lag jedenfalls auch bei der Antragstellung auf Weitergewährung im EWR‑Ausland. Sie bezieht nach der Aktenlage in Liechtenstein keine Erwerbsunfähigkeitsrente.
3.2. Das Rehabilitationsgeld ist eine Vergünstigung, die eine Gegenleistung für die von der Klägerin in Österreich entrichteten Pensionsver-sicherungsbeiträge darstellt. Aufgrund des Sondercharakters des Rehabilitationsgeldes ist im Zuständigkeitswechsel und Leistungsverlust allein durch die Wohnsitzverlegung eine Beschränkung der primärrechtlichen, nach Art 28 des EWR‑Abkommens auch im Verhältnis zu EWR‑Vertragsstaaten geltenden Freizügigkeit zu sehen. Der Leistungsverlust wäre nämlich im vorliegenden Fall auf die Inanspruchnahme der Freizügigkeit zurückzuführen; dass Liechtenstein eine dem Rehabilitationsgeld entsprechende Geldleistung kennen würde, ergibt sich weder aus dem Akteninhalt noch wurde dies von einer der Parteien behauptet. Die Nahebeziehung zum österreichischen System der sozialen Sicherheit ist durch die erworbenen Versicherungszeiten sowie durch den Bezug einer befristeten Invaliditätspension dokumentiert.
3.3. Um die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, ist der Umstand, dass die Klägerin Versicherungszeiten in Österreich erworben hat, deretwegen sie überhaupt erst Anspruch auf Rehabilitationsgeld hat, in die Beurteilung der Leistungszuständigkeit einzubeziehen. Da das Rehabilitationsgeld als Leistung zwischen Krankheit und Invalidität einzuordnen ist und die Anknüpfung an erworbene Versicherungszeiten den Bestimmungen über Leistungen bei Invalidität entsprechen, sind diese Bestimmungen bei der Prüfung der Zuständigkeit für die einzelnen Versicherungszeiten zu beachten.
3.4. In diesem Fall kommen der Klägerin die Regeln des Art 45 ff iVm Art 50 ff der VO 883/2004 zugute. Da sie – unbestritten – die übrigen Anspruchsvoraussetzungen für das Rehabilitationsgeld nach nationalem Recht erfüllt, ist dieses nach Art 21 Abs 1 der Verordnung ins EWR‑Ausland zu exportieren.
4. Die Entscheidung des Berufungsgerichts entspricht der höchstgerichtlichen Rechtsprechung zu der hier zu beurteilenden Fallkonstellation.
5. Die Revision war daher mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a iVm Abs 2 ASGG; die Klägerin hat überdies auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)